Horst D. Deckert

Gericht spricht Guido B. frei: kein Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen

Amtsgericht Bern, 13. April, 08:30 Uhr: Nach der Anmeldung beim Empfang und der Sicherheitskontrolle warten Guido B. und zwei von ihm angemeldete Prozessbesucher vor dem Verhandlungszimmer Nr. 217 auf Einlass. Ein dritter Prozessbesucher erhält keinen Zutritt, weil er unangemeldet zur Verhandlung erschienen ist.

Die Gerichtsverhandlung bezieht sich auf den Strafbefehl von 350 Franken, den die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern gegen Guido B. verhängt hat. Der Strafbefehl ist die Folge einer polizeilichen Anzeige und Wegweisung von einem Kundgebungsgelände auf dem Gelände der Berner Allmend. Guido B. sieht sich keines Fehlverhaltens oder gar einer Straftat schuldig und hat gegen den Strafbefehl Einsprache erhoben. Sein Ziel der heutigen Gerichtsverhandlung ist ein Freispruch von der Anschuldigung des «Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen» und der mit ihr verbundenen Bussgeld-Zahlung.

Unmittelbar vor Verhandlungsbeginn kommt es zu einem kurzen Wortwechsel zwischen dem Richter und dem Berichterstatter für Corona-Transition. Der Reporter trägt eine Maske, hält aber den Nasenbereich frei, «um sich vor Atembehinderung zu schützen». Der Richter lässt sich auf keine Diskussionen und Kompromisse ein. Es sei auch für ihn unangenehm, eine Maske zu tragen. Angesichts der «Fallzahlen» sei die Maskentragepflicht einzuhalten. Der Berichterstatter gibt aufgrund seines Kenntnisstandes vor dem Richter ein kurzes Statement bezüglich der statistischen Aussagekraft der «Fallzahlen» und der grundsätzlichen diagnostischen Eignung der PCR-Tests ab und erklärt, dass er gerne eine Ausnahme macht und während der Zeit der Verhandlung die Maske auch über die Nase stülpt. Er nimmt Platz neben dem zweiten Prozessbesucher, der beim Empfang ein medizinisches Befreiungsattest vorgelegt hat und ohne Maske auf seinem Stuhl sitzt.

Auch der Beschuldigte Guido B. hat beim Empfang des Gerichts ein «Maskenbefreiungsattest aus besonderen Gründen» vorgelegt. Obwohl in der Verhandlungsordnung des Gerichts diese Option erwähnt ist, hat die Mitarbeiterin am Empfang erklärt, es würden ausschliesslich medizinische Atteste akzeptiert. Und so sitzt der Beschuldigte nun ebenfalls mit Maske auf seinem Stuhl, erklärt dem Richter, dass die Maske die Kommunikation doch sehr erschwere. Der Abstand zwischen dem Richter und dem Beschuldigten beträgt ca. 3 bis 4 Meter. Richter und Gerichtsschreiberin behalten ihre Maske auch während der Verhandlung auf.

Nach einer halben Stunde wird es Guido B. übel. Die Verhandlung wird kurz unterbrochen. Fenster werden geöffnet. Die Gerichtsschreiberin holt Guido B. ein Glas Wasser. Dieser entledigt sich seiner Maske. Die Verhandlung wird kurz darauf fortgesetzt. Der Richter verzichtet darauf, Guido B. erneut zum Maskentragen aufzufordern.

Die Vorgeschichte zur Gerichtsverhandlung hat drei Akte. Die heutige Gerichtsverhandlung und das Urteil sind Akt Nummer vier und fünf. Doch der Reihe nach:

1. Akt: Wegweisung von einer «Demonstration», die aus einem Grossaufgebot von Polizisten und aus einem kleinen Grüppchen wahrheits- und freiheitsliebender sowie neugieriger Menschen besteht.

Am Samstag Nachmittag, 16. Mai 2020, kommt Guido B. auf dem Areal der Berner Allmend in eine Polizeikontrolle. Ihm wird eröffnet, er halte sich auf einem Gelände auf, auf dem eine unbewilligte Demonstration gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrates angesagt sei. Guido B. entfernt sich vom Parkplatz der Allmend und beobachtet nun das Geschehen von der Papiermühlestrasse aus und ist erstaunt darüber, dass da vor Ort offensichtlich kaum Menschen mit Versammlungsabsicht auszumachen sind. Guido B. sieht sich als Beobachter, der sich aufgrund der diffusen Informationslage selber ein Bild des Geschehens vor Ort machen will. Kurze Zeit später kommt es zu einer zweiten Kontrolle sowie zu einer Wegweisung und zu einer Anzeige gegen Guido B. Zum Prozedere dieser Anzeige gehört das Verlesen eines Standardtextes, der alle Vorwürfe enthält. Auch wird der oder die Beschuldigte darauf hingewiesen, dass mit einem Strafbefehl gerechnet werden muss. Guido B. ist sich sicher, dass er sich bei der zweiten Kontrolle und Wegweisung nicht mehr in der Wegweisungszone aufhält. Die im Einsatz stehenden Polizisten sind nicht in der Lage, auf einem Stadtplan die konkrete Wegweisungszone aufzuzeigen. Das Ganze spielt sich in unmittelbarer Nähe des Wankdorf-Stadions und Einkaufzentrums an der Papiermühlestrasse ab. Von einer Menschen-Ansammlung ist nichts zu sehen, wie Guido B. mit einem Foto, das er mit seinem Handy zum Zeitpunkt der zweiten polizeilichen Kontrolle Richtung Bea-Expo-/Allmendgelände macht, belegen kann.

Am Vortag, 15. Mai, publiziert SRF auf seiner Website die News, dass die Polizei laut Sprecherin Jolanda Egger «Kenntnis davon hat, dass am Samstag erneut zu einer Demonstration in Bern aufgerufen wird». Und: «Die Polizei will mit einem Grossaufgebot vor Ort sein.» So erlebt es Guido B. am 16. Mai: «Vor Ort sind mehr Polizisten als Menschen, die sich einer Demonstration anschliessen wollen.»

2. Akt: Polizei-Anzeige gegen Guido B. wegen «Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen» (StGB 292)

Die Kantonspolizei reicht drei Wochen nach dem Intermezzo auf dem Bea-Expo-/Allmendgelände bei der Staatsanwaltschaft eine Anzeige gegen Guido B. wegen «Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen gem. StGB 292 ein. Im Anzeigerapport der Kantonspolizei steht: «Für den Samstag, 16. Mai, wurden auf verschiedenen sozialen Medien zu Mahnwachen / Kundgebungen in der ganzen Schweiz aufgerufen. Die Themen der Aufrufe waren vielfältig; insbesondere ging es jedoch um die Wiederherstellung unseres Rechtssystems, gegen die Massnahmen der Covid-19 Verordnung und Beschränkung des Freiheitsrechts sowie des Rechts auf freie Meinungsäusserung.» Der Rapport erwähnt auch, dass es sich «bereits um die vierte gleichgelagerte Kundgebung mit Versammlungen auf dem Bundesplatz/Bärenplatz sowie auf dem Expo-Gelände/Allmendareal» handelte und dass die Polizei an beiden Standorten im Einsatz stand, Personenkontrollen durchführte und Wegweisungen aussprach.

Laut Anzeigerapport erfolgte die Wegweisung, weil Guido B. «den Kundgebungsteilnehmern zuzuordnen war». Guido B.: «Da war aber gar keine Kundgebung. Lag diese automatische Zuordnung vielleicht an meinen langen Haaren?» Und: «Ich zog mich nach einer ersten Befragung vom Wegweisungs-Gelände zurück.»

3. Akt: Strafbefehl und Befragung durch die Staatsanwaltschaft

Am 9. Juli erhält Guido B. Post von der Staatsanwaltschaft: Die Beschuldigung von «Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen» wird mit einer Busse von CHF 200.00 und Gebühren von 150.00 in Rechnung gestellt. Am 20. Juli erhebt Guido B. gegen den Strafbefehl Einsprache. Zehn Tage später teilt der Verfahrensleiter der Staatsanwaltschaft Guido B. mit: «Die Verurteilung im Strafbefehl wurde gestützt auf die vorliegenden Akten und in Anwendung der für solche Delikte massgebenden Richtlinien ausgefällt. Ohne einem umfassenden Beweisverfahren vorgreifen und mich auf den Ausgang des Verfahrens festlegen zu wollen, bin ich nach nochmaliger Prüfung der Akten zur Ansicht gelangt, dass die im Strafbefehl ausgefällte Sanktion richtig und angemessen erscheint.» Im Schreiben empfiehlt die Staatsanwaltschaft Guido B., die Einsprache zurückzuziehen. Bei einem Rückzug bleibe es bei den bestehenden Kosten.

Für Guido B. ist der Rückzug der Einsprache allerdings keine Option. Er lässt die Frist zur Einsprache ablaufen. Vier Monate später, am 12. November, wird er in einem Büro der Staatsanwaltschaft vom Verfahrensleiter befragt. Guido B.: «Ich wurde weggewiesen, begab mich an einen neuen Ort, ca. 100 Meter vom Wegweisungsort entfernt. An beiden Orten war ich alleine, und ich sah nichts von einer Veranstaltung, Kundgebung oder Menschenansammlung, und war selbst auch nicht Teil einer solchen. Die Wegweisung war unverhältnismässig und unrechtmässig.» Das Befragungs-Protokoll der Staatsanwaltschaft endet mit der Frage: Wollen Sie an der Einsprache festhalten? Guido B. antwortet: «Ja, und ich stelle auch den Antrag, den Strafbefehl zurückzuziehen».

4. Akt: Verhandlung vor dem Strafgericht, 13. April 2021

Seitens der Staatsanwaltschaft ist es ruhig. Der Antrag von Guido B., den Strafbefehl zurückzuziehen, bleibt ohne Resonanz. Dafür trifft eine Einladung zur Verhandlung vor dem Regionalstrafgericht Bern-Mittelland ein, an der ein definitives Urteil gesprochen werden soll. Und dieser Tag ist heute: Dienstag, 13. April 2021.

Guido B. erscheint ohne Anwalt bzw. Rechtsvertreter vor Gericht, hat sich aber auf diese Hauptverhandlung sorgfältig vorbereitet und für das Plädoyer einen versierten Anwalt beigezogen. Das Plädoyer händigt er dem Gericht in schriftlicher Form aus erläutert es vor dem Richter noch mündlich – ohne Maske. In der Schlussrede wird die Frage aufgeworfen, wie es zu einer Wegweisung kommen kann, ohne dass sich Guido B. vor Ort überhaupt in einer Gruppe aufgehalten hat: «Die einzige Gruppe, in der ich mich aufhielt, waren drei Polizisten und ich». Die Wegweisung wird im Plädoyer auch umfangreich als Verstoss gegen das Bestimmtheitsgebot und als unzulässigen Eingriff in den Kerngehalt der Versammlungsfreiheit kritisiert. Im Schlussantrag schreibt Guido B.: «Zusammengefasst bin ich mangels gesetzlicher Grundlage und fehlender Bestimmtheit des Übertretungstatbestandes freizusprechen.»

5. Akt: Freispruch

Nach einer knapp 15minütigen Pause zur Beratung öffnet sich die Türe zum Verhandlungszimmer 217 wieder und der Gerichtspräsident gibt das Urteil bekannt: «Freispruch von der Anschuldigung wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen, angeblich begangen am 16. Mai 2020.» Die Argumentation des Plädoyers ist dem Richter nicht unbekannt, ist es doch an anderen Gerichten bereits zu weiteren Freisprüchen auf ähnlicher oder praktisch identischer Argumentationsgrundlage gekommen. Die Verfahrenskosten von CHF 1’350.00 trägt der Kanton Bern. Verzichtet Guido B. auf eine schriftliche Urteilsbegründung, reduzieren sich die Verfahrenskosten um CHF 600.00 auf CHF 750.00. Der Richter in seiner kurzen mündlichen Urteilsbegründung: «Es tut mir leid, dass Sie für diese Sache vor Gericht ziehen mussten.» Für seine eigenen Aufwendungen erhält Guido B. keine Entschädigung.

Mit leichtem Tonfall der Ironie sagt der Richter während der mündlichen Urteilsbegründung: «Dass man zu Unrecht in ein Verfahren verwickelt werden kann, gehört zur Unbill des Lebens.»

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