Der Radfahrer avanciert in Deutschland immer deutlicher vom strampelnden Verkehrsteilnehmer zum heiligen Rindvieh. Inzwischen ist undenkbar, daß er selbst an irgendwelchem Ungemach schuld sein könnte, dem er sich ausgesetzt sieht. Den grünen Fortschritt symbolisiert er. Schwach und verletzlich ist er – und seine Narrenfreiheit genießt er zunehmend genau deswegen. Der Medien-Mainstream platzt bald vor lauter Mitgefühl mit den behelmten Stramplern. Genauer hingesehen.
von Max Erdinger
„Wir sind wütend und traurig„, hieß es im Berliner „Tagesspiegel„. Und: „Berlins Comic-Szene trauert um Laetitia Graffart.“ Was war passiert? Der „Tagesspiegel“ weiß es genau. Frau Laetita Graffart (37), Comicexpertin, wurde bei einem Verkehrsunfall „getötet“. Passiv. Sie war auf dem Rad unterwegs gewesen, erfährt der Leser. Ein Geldtransporter hatte den Radweg zugeparkt. Der Sattelschlepper, unter dem sie zu Tode kam, fuhr aber nicht auf dem Radweg, sondern auf der Straße. Nicht, daß Sie jetzt denken, Frau Graffart sei wegen des blockierten Radwegs einfach so, ohne sich umzusehen, im prallen Bewußtsein des Unrechts, welches ihr, der moralisch Überlegenen, durch den parkenden Geldtransporter auf „ihrem Radweg“ angetan worden war, aktiv auf die Straße ausgewichen. Nein, sie scheint „alternativlos“ auf die Straße gezwungen worden zu sein, um dort dann zum unschuldigen Opfer eines mächtigen Sattelschleppers zu werden, der zu allem Überfluß auch noch von einem weißen Mann gelenkt wurde. Klarer Fall: Frau Laetitia Graffart wurde auf gar keinen Fall zum Opfer ihrer eigenen Unvorsichtigkeit, sondern sie wurde das Opfer einer „(verkehrsinfra-) strukturellen Benachteiligung“ des heiligen Rindviehs. Denn die Straße gehörte ihr kraft Ökomoral auch noch. Vom Rad abzusteigen, wäre mit Sicherheit zu viel der Demütigung für das arme Opfer gewesen.
Die Kondolenzpredigt
So mußte sich meinereiner wieder einmal seinen zivilreligösen Talar umhängen, um für die hinterbliebenen, wütenden und traurigen Generalradbenachteiligten die Kondolenzpredigt zu halten.
„So, so, liebe Gemeinde, hat es wieder einmal einen von Euch erwischt. Unter dem Sattelschlepper. Mein herzliches Beileid.
Wie geht es Georg dem LKW-Fahrer? Stand er unter Schock? Wird er einen Traumatherapeuten brauchen? Besteht ein erhöhtes Risiko, daß Georg wegen des tragischen Unglücks zum Trinker wird? Ist nicht auch er unser aller Bruder, dem unsere gemeinsame Sorge gelten muß?
Wir erheben uns.
Herr, hilf unserem Bruder LKW-Georg, daß er den hinterhältigen Selbstmordanschlag eines Radfahrers auf seine psychische Gesundheit und seine Lebensfreude in Deinem Geiste überleben möge, um wieder ein fröhliches Mitglied der Gemeinde zu werden.
Wir setzen uns wieder.
Liebe Stramplergemeinde, da wir hier versammelt sind, damit ich euch die Leviten lesen kann, so spitzet die Ohren. Der Herr gab euch einen Verstand, damit ihr nicht unter den Sattelschlepper müsst. Nutzet ihn weise. Der Herr hat auch den Affen geschaffen. Das kann man daran sehen, daß „affen“ in „geschaffen“ enthalten sind. Nur der Affe könnte vielleicht aus Versehen unter den Sattelschlepper geraten. Ein Mensch, das Ebenbild Gottes, kann nicht aus Versehen unter den Sattelschlepper geraten. Denn Gott sieht nicht aus wie ein zerquetschter Radfahrer. Die Krone der Schöpfung des Herrn müsste so etwas absichtlich tun. Der Herr aber sagt: Unter dem Sattelschlepper hast du nichts zu suchen! Du sollst nicht unter den Sattelschlepper fahren, denn solches bringt Betrübnis über unseren Bruder Georg.
Wir erheben uns.
Herr, gib´, daß sich die Radstrampler für Sterbliche halten und Vorsicht walten lassen, anstatt sich in ihrer törichten Leichtlebigkeit unter den Sattelschlepper zu stürzen, um unseren Bruder Georg zu traumatisieren. Zerreiße ihre Ketten und versieh´sie mit Plattfüßen bis zum Tage ihrer endgültigen Läuterung von der leichtsinnigen Selbstmordattentäterei zum Nachteil unseres Bruders Georg dem LKW-Fahrer. Lehre sie, daß die Wege des Herrn unerforschlich sind – und daß das auch für Radwege gilt, auf daß sie fürderhin zu Deinem Lobpreis in Demut durch den ganzen Rest deiner Schöpfung strampeln, während sie ihren Verstand gebrauchen. Und befreie sie von ihren Akkus, denn solche sind ein Zeichen des Hochmuts.
Wir setzen uns wieder.
Und nun, liebe Gemeinde …
Wir erheben uns wieder.
Wir setzen uns wieder.
… Fitness, sagt der Herr …
Wir erheben uns wieder.
… auch die geistige …
Wir setzen uns wieder.
… ist gut gegen die Verlockungen des Sattelschleppers.
Auf und nieder, immer wieder, Helmchen schwenken, Knie verrenken … wer nicht mehr kann, darf nach Hause gehen. Der Segen des Herrn sei mit euch. Vergeßt nicht, euer Scherflein in den Opferstock am Ausgang zu werfen.“
Und wie es so ist mit den Predigten und den Predigern: Genützt hat es nichts. Würden Predigten nämlich etwas nützen, dann hätten sich die Protestanten nicht seit Martin Luther 500 Jahre lang jeden Sonntag erfolglos eine anhören müssen. Dann wäre spätestens vor 400 Jahren Schluß mit Predigt gewesen, weil die Protestanten gesagt hätten: „So, hundert Jahre Predigt reichen. Wir haben verstanden.“ – Aber die Hoffnung auf die Wirksamkeit von Predigten aller Art stirbt zuletzt. Deshalb predigen die Pfarrer und die zivilreligiösen Priester noch heute.
Gefühl und Mitgefühl
Radfahrende und Radfahrer:innen sind fühlende Wesen, weswegen es den Motorisierten gut zu Gesicht stünde, Mitgefühl mit den Fühlenden zu entwickeln. So jedenfalls die Theorie. Ein Beitrag der „Tagesschau“ erzieht die Motorisierten schon einmal zur löblichen Mitgefühligkeit.
„–> Inland –> Gesellschaft –> Sicherheit im Radverkehr: Eng überholt statt ernstgenommen“, heißt es gleich zu Beginn des ökokorrekten Rührstücks. Um ein Rührstück muß es sich wohl handeln, wenn gleich der erste Satz so geht: „Wie sicher fühlen sich Radfahrer und wo werden sie im Straßenverkehr benachteiligt?“ – Als eiskalter Empathieloser, der ebenfalls seine Lebensberechtigung hat, muß ich leider sagen, daß es mich nicht im geringsten interessiert, „wie sicher“ sich Radfahrer fühlen. Wenn nämlich schon die Frage „wie sicher?“ lautet, fühlen sie sich offensichtlich nicht unsicher. Mir reicht, wenn ich weiß, daß sie sich sicher fühlen. Mich interessiert ja auch nicht, „wie groß“ die Hämorrhoiden des Gewohnheitsradlers werden können – und ob es die Schmerzen sind, derentwegen er durch die Fußgängerzone rast, um möglichst bald wieder absteigen zu können. Außerdem ist mir klar, daß es keinerlei Relevanz hat, „wie sicher“ sich Radfahrende und Radfahrer:innen fühlen, sondern daß wichtig ist, ob sie sicher unterwegs sind. Daran jedoch habe ich erhebliche Zweifel. Zwar soll man nicht alle über einen Kamm scheren, aber die Häufigkeit von „schwarzen Schafen“ unter den Radelnden scheint mir doch weit höher zu sein, als die unter den Motorisierten. Der erste Anarchist war bestimmt ein Radfahrer.
„Was Radfahrer mit Abstand am meisten stresst, sind Autos, die sie zu eng überholen. Das ist ein Ergebnis einer neuen Untersuchung zum Gefährdungsempfinden von Radfahrenden. Der SWR hatte in seiner Mitmachaktion #besserRadfahren dazu aufgerufen, Gefahrenstellen und Probleme im Radverkehr zu melden. Über sieben Wochen konnten in Südwestdeutschland in 25 Kategorien Gefahrenstellen oder Behinderungen gemeldet und frei kommentiert werden.„, heißt es im „Tagesschau“ – Artikel. Da fragt man sich, wieso die „Mitmachaktion“ unter dem Hashtag „#besser Radfahren“ lief – und nicht unter dem Hashtag „#besser Meldung machen“. Allerdings muß man sich das nicht lange fragen, weil man mit ein bißchen Nachdenken und Lebenserfahrung von selber drauf kommt. Bei „Besser Radfahren“ ist es in Deutschland auch nicht anders, als in allen anderen Zusammenhängen. Nicht der aktive Radfahrer muß mit Gefahrenstellen und Behinderungen zurecht zu kommen lernen, sondern alle anderen sind dafür verantwortlich, daß er keinen Gefahrenstellen und Behinderungen begegnet.
In England gilt das schon für Fußgänger. An neuralgischen Punkten in London wurden bereits Laternenmasten gepolstert, damit sich die vielen Fußgänger, die während des Gehens auf ihre Smartphones glotzen, nicht die Schädel einrennen. Das aber nur nebenbei. Zurück zum deutschen Radverkehrsteilnehmenden.
„Herausgekommen ist eine Online-Landkarte, auf der die Problemzonen im Radverkehr exakt eingetragen sind. 10.756 Meldungen gingen ein.„- Gerade eben schrieb ich noch, daß die Mitmachaktion treffender unter „#besser Meldung machen“ gelaufen wäre.
Nun ist es so, daß meinereiner selbst Rad gefahren ist, bevor er mit 18 Jahren zunächst den Führerschein für Autos und Motorräder erwarb und später dann auch noch den für LKW und Omnibusse aller Größen. Deshalb weiß er auch, wie nützlich es ist, richtig gut Radfahren zu können. Bereits im Alter von zehn Jahren nahm er an Fahrfertigkeitswettbewerben der Verkehrswacht für Radfahrer teil, fuhr über Wippen und kurvte mit halber Schrittgeschwindigkeit durch enge Pylonengassen, ohne dabei eines der Hütchen umzufahren. Auch mit dem Fahrrad stehen zu bleiben, ohne die Füße auf den Boden zu setzen, trainierte er immer wieder, so lange, bis er das konnte. Denn bereits als Kind wußte er: Auf dem Rad ziehst du gegen Autos und LKWs den Kürzeren. Moralisch zwar nicht, faktisch aber schon.
Eng überholte Strampelmasochisten
Stellen Sie sich vor, Sie wären am Steuer eines vollbesetzten Reisebusses, Doppeldecker in Überlänge womöglich, auf dem Weg von Frankfurt nach San Remo an die italienische Blumenriviera, sie lägen gut in der Zeit und würden sich entscheiden, Ihren Reisegästen statt des drögen Gotthardtunnels in der Schweiz die Ausblicke zu bieten, die sich bei einer Fahrt über den Gotthardpaß ergeben. Es wäre ein heißer Julitag und sie bewegen ein Gesamtgewicht von ca. 25 Tonnen durch die Gegend. Seien Sie sicher, daß Sie auf den Serpentinen durch die Schöllenenschlucht auf quietschbunte Strampelmasos treffen, die sich keuchend, extrem schwitzend und extrem langsam zur Paßhöhe hinaufquälen. Da Sie wegen Gegenverkehrs nicht gefahrlos überholen können, schleichen Sie erst einmal hinter ihnen her. Vergessen Sie die Idee, daß die Strampler irgendwann einmal zur Seite fahren würden, um Sie und die Schlange, die sich hinter Ihnen bereits gebildet hat, vorbeizulassen. Sowie auch nur der Hauch einer Chance besteht, an den quietschbunten Strampelmasos vorbeizukommen, ohne den Gegenverkehr zu gefährden, werden Sie das tun. 2 Meter Abstand zu den egozentrischen Stramplern können Sie dabei keinesfalls einhalten – und schnell vorbei können Sie auch nicht, weil Ihr Gefährt trotz seiner 530 PS besonders an steilen Steigungen viel Zeit braucht, um von Schrittgeschwindigkeit auf etwa 40 km/h zu „beschleunigen“. Also fahren Sie zentimetergenau. Was wollen Sie auch sonst machen? Nie mehr über den Gotthardpaß fahren, um die sich bietenden, atemberaubenden Ausblicke exclusiv den Strampelmasos zu überlassen? – Wohl kaum.
In der Stadt
In den Städten gilt es inzwischen als vernünftig im Sinne des heiligen Rindviehs, die Fahrstreifen für Autos zu verengen – und dafür den Radweg direkt daneben zu verbreitern. Sie können Gift darauf nehmen, daß die heiligen Strampler den Radweg auch in seiner ganzen Breite nutzen werden. Sie hingegen können sich innerhalb Ihrer Fahrspur nicht mehr weit nach links oder rechts bewegen, wenn neben ihnen ein anderes Fahrzeug fährt. Folglich fahren Sie mit weniger als 1,5 Metern Abstand am Breitradler vorbei und verschwenden dabei keinen Gedanken an die Frage, „wie sicher“ sich der Strampler gerade „fühlt“. Außerdem hassen Sie die Tretmüller sowieso schon dafür, daß Sie Ihnen nachts ohne Licht und besoffen in der Einbahnstraße entgegenkommen im prallen Bewußtsein ihres ökologistischen Heiligkeitsstatus´.
Auf der Landstraße: Zusammenrottung
Die quietschbunten Strampler sind oft auch gesellige Wesen, die sich zu einem Pulk zusammenrotten, um Landstraßen zweiter oder dritter Ordnung selbstherrlich in Radwege umzufunktionieren. Damit sie sich besser über die „Umweltsäue in ihren Blechkisten“ unterhalten können, radeln sie gern zu zweit oder zu dritt nebeneinander und besetzen den rechten Fahrstreifen in seiner ganzen Breite. Früher hätten sie sich noch einer Formationsänderung hin zur „Perlenschnur“ befleißigt, wenn sie eines Automobils hinter sich gewahr geworden sind. Heute nicht mehr. Wenn Sie irgendwann den ganzen linken Fahrstreifen zum Überholen brauchen, können Sie den Mindestabstand von zwei Metern außerorts zum Mittelstreifen-Radler gar nicht einhalten, weil keiner der Fahrtstreifen die Breite Ihres Fahrzeugs plus 2 Meter überhaupt hat.
Fazit: Die Strampelmasos könnten mit einer anderen Attitüde selbst oft viel dafür tun, daß sie sich nicht nur „irgendwie sicher“ fühlen, sondern tatsächlich sicher sind. Aber wir wären nicht in Deutschland, wenn nicht auch für Radler der alte deutsche Optimismus gälte, der da lautet: Heute gehört mir Deutschland – und morgen die ganze Welt.
Mir ist völlig egal, „wie sicher“ sich Radfahrende und Radfahrer:innen in diesem attitüdenreichen Land „fühlen“. Die sollen selber zusehen, daß sie sicher unterwegs sind. Niemand gefährdet sie mit einer solchen Nonchalance wie sie sich selbst. Ein Helmchen ändert daran gar nichts. „Deutscher Radler“ ist nachgerade zum Synonym geworden für „Moralischer Sieger beim Wegdrücken der Eigenverantwortlichkeit zu Lasten Dritter“. So gesehen ist das Gemaule der Radler tatsächlich „Mainstream“.