Tamara Dörr vom Kantonsspital St. Gallen und Kollegen der Universität Zürich haben in einer großen, multizentrischen Studie untersucht, ob wiederholte COVID-19-Auffrischungen Beschäftigte im Gesundheitswesen tatsächlich schützen – oder ob sie kurzfristig sogar das Risiko für grippeähnliche Erkrankungen (ILI) und Krankentage erhöhen.
Zentrale Ergebnisse
Die Daten, veröffentlicht am 9. August 2025 in Communications Medicine, sind überraschend:
- COVID-Booster: Statt weniger Infekte gingen sie mit höheren ILI-Raten und mehr Arbeitsausfällen einher.
- Grippeimpfung: Wirkte dagegen klar schützend, sowohl gegen ILI als auch gegen Fehlzeiten.
Studiendesign
- Teilnehmer: 1.745 Angestellte in neun Schweizer Spitälern
- Zeitraum: November 2023 bis Mai 2024
- Erhebung: Wöchentliche Selbstauskünfte zu Symptomen und Arbeitsausfällen
- Endpunkte:
- Primär: ILI nach CDC/ECDC-Kriterien (Fieber + Atemwegssymptome ≤7 Tage)
- Sekundär: Krankheitsbedingte Ausfalltage
Wichtige Befunde
- Häufigkeit: 43 % erkrankten mindestens einmal an ILI, 49 % fehlten mindestens einmal am Arbeitsplatz.
- Dosis-Effekt: Mehr Impfungen = höheres Risiko. Bei 3 Dosen stieg das ILI-Risiko um 56 %, bei 4 Dosen um 70 %.
- Timing-Effekt: Besonders hoch war das Risiko kurz nach einer Impfung, ließ aber mit der Zeit nach.
- Arbeitsausfälle: Mit 3–4 Dosen stiegen die krankheitsbedingten Ausfalltage um ~50 %.
- Grippeimpfung: Reduzierte Risiko und Ausfälle durchgehend deutlich.
Interpretation
Die Forscher betonen, dass es sich um Beobachtungsdaten handelt. Es wurde kein Virusnachweis durchgeführt, sondern ausschließlich auf klinische ILI-Symptome abgestellt. Unbekannte Störfaktoren sind möglich. Dennoch deuten die Ergebnisse auf ein vorübergehendes Risiko nach COVID-Boostern hin – im Gegensatz zur konsistenten Schutzwirkung der Grippeimpfung.
Mögliche Erklärungen
Diskutiert werden immunologische Mechanismen wie Prägung oder eine kurzzeitige Modulation der Immunantwort. Ein kausaler Nachweis fehlt bislang.
Bedeutung für die Praxis
Die Studie wirft wichtige Fragen für die Impfpolitik auf:
- Sind routinemäßige jährliche COVID-Booster für junge, gesunde Beschäftigte nach der Pandemie sinnvoll?
- Sollten Impfempfehlungen stärker auf ältere und Risikogruppen fokussiert werden?
Bis mehr mechanistische oder randomisierte Daten vorliegen, empfehlen die Autoren, die Booster-Strategie kritisch zu überdenken.
Bewertung der Evidenz
- Design: 7/10 (prospektive Kohorte, solide)
- Stichprobe: 7/10 (N=1.745, adäquat)
- Exposition/Ergebnisse: 5–7/10 (Selbstauskunft, keine Labortests)
- Statistik: 7/10 (umfangreiche Analysen, robuste Methoden)
- Externe Gültigkeit: 5/10 (vorwiegend weibliche Schweizer HCWs)
- Gesamtbewertung: 6,5/10 – solide Beobachtungsdaten, aber vorsichtige Interpretation nötig.