Horst D. Deckert

Leben im Fieberwahn der Fiktion

Eine unglaubliche Geschichte: Ein Kommando von 26 pensionierten kolumbianischen Soldaten, unterstützt von zwei Amerikanern, die behaupten, Dolmetscher für das Team zu sein, erschiesst den Präsidenten von Haiti in seinem Haus. Die Killer sollen durch Jobangebote auf einer speziellen Website rekrutiert worden sein.

Eine filmreife Aktion, die der Tragödie dieses gemarterten Volkes mit seiner heroischen Geschichte ein weiteres Kapitel hinzufügt. Die Spannung hält an: Wer hat die Operation bezahlt?

In der Zentralafrikanischen Republik unterstützen russische Söldner der «Wagner-Gruppe» die Regierung mit Waffengewalt. Sie inszenieren sich in einem abendfüllenden Fiction/Reality-Film, der in Bangui präsentiert und im Netz ausgestrahlt wird. Nach allen Regeln der Kunst.

Ein Schriftsteller, der sich ausgedacht hätte, wie in einem Labor in den Tiefen Chinas an Viren herumgetüftelt wird, oder eine Geschichte über Fledermäuse geschrieben hätte, die ganzen Planeten in Angst und Schrecken versetzen, wäre bis vor kurzem kaum ernst genommen worden. Sein Buch wäre in den Regalen für Science-Fiction-Besessene herumgestanden. Oder man hätte sie als Verschwörungsspinnerei verbannt. Und doch …

Es ist eine unendliche Geschichte, deren wichtigste Komponente Angst ist. Gewürzt mit dem Triumph von ein paar Helden, ein paar Gaunern und ein paar Potentaten.

Und Schlachten ohne Ende! Das gigantische Duell zwischen China und den Vereinigten Staaten. Die Rivalität zwischen den Pharmakonzernen, die sich um den gigantischen Impfstoff-Markt streiten und dabei ihre Agenten in den Regierungen aktivieren.

Die Kluft zwischen Arm und Reich? Nicht mehr zeitgemäss. Zwischen Gläubigen und Ungläubigen? Eine alte Geschichte. Heute treten die Reinen gegen die Unreinen an, also die grossherzigen Geimpften gegen die egoistischen Rebellen.

«Sie werden Tote auf dem Gewissen haben», warnt ein Politiker, ehemals ein grosser Verteidiger der individuellen Freiheit. Auch die andere Seite ist erregt: «Ihr wisst nicht, welche Folgen das hat, was ihr uns injizieren wollt!» Und: «Ich schlafe nicht mehr mit Geimpften, dieses Zeug wird auch durch Sex übertragen!»

In diesem Getöse, das durch Medien und soziale Netzwerke nur verstärkt wird, haben die Appelle zur Ruhe und Besonnenheit kaum noch Gewicht. Es gibt aber auch einige teilweise sehr gut ausgearbeitete Gegenpositionen. Zum Beispiel den Beitrag «Herolde der Impfung, Feuer einstellen!» des Lausanner Historikers Antoine Gallay in Le Temps: Gallay demontiert den Mechanismus der Eskalation mit einer weisen Mahnung: «Man überzeugt seine Gegner nicht, indem man sie beleidigt und bedroht.»

Aber wie können wir wieder auf dem Boden der Realität Fuss fassen, wo die Realität so voll von Widersprüchen ist? An dieser Frage arbeitet Edgar Morin, der gerade seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hat. Ein Mann mit einer faszinierenden Geschichte, die er in der kürzlich erschienenen «Leçon d’un siècle de vie» (Ed. Denoël) mit Finesse beschreibt. Der Theoretiker des komplexen Denkens destilliert jeden Tag Tweets, die eher zum Nachdenken anregen, statt sich selbst zu entlarven.

Zu seinem Geburtstag wurde Morin mit Ehrungen von allen Seiten überschüttet. Was ihn zu der Aussage veranlasste: «Sollte diese Beinahe-Einstimmigkeit — anlässlich des hundertsten Geburtstags eines Mannes, der immer ein Abweichler war und bleibt — beunruhigend oder tröstlich sein?» Immer mit einem Lächeln in seinem Gesicht, bis zum Ende.

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Dieser Text wurde uns von Bon pour la tête zur Verfügung gestellt, dem führenden alternativen Medium der französischsprachigen Schweiz. Von Journalisten für wache Menschen.

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