Der Ukrainekrieg als US-Projekt, das Slawen mordet und verheizt? Solche Stimmen aus slawischen EU-Völkern werden lauter. Darunter liegt das Prinzip des Panslawismus: ein peripher-kleines Symptom gegen neoliberal-globalistischen Größenwahn, oder eine legitime Bewegung?
Von Elem Chintsky
Als Mitte Januar 2024 der slowakische EU-Abgeordnete Miroslav Radačovský seine Rede im EU-Parlament hielt, mussten sicherlich die etablierten Bürokraten der europäischen Systempartei-Zusammenschlüsse schwer schlucken. Denn der Vorsitzende der rechtsnationalen Partei Slovenský PATRIOT hatte in Straßburg Folgendes kommuniziert:
„Wir müssen aufhören, das Töten von Slawen zu unterstützen. Wenn ihr dies nicht unterbindet, dann könnten wir, die Slawen, uns verbünden. Bruder mit Bruder. Wobei ich empfinde, dass wir uns verbünden und Westeuropa dem Erdboden gleichmachen würden. Ich bin mir sicher, dass das hier niemand möchte. Der Krieg in der Ukraine ist ein Problem der USA – das sind ihre Interessen. Die EU hat sich zu einem Vasallen der USA verwandelt. Lasst uns Friedensverhandlungen beginnen, aber ohne die Amerikaner. Lasst uns dem Töten von Menschen Einhalt gebieten.“
Der Regierungswechsel in der Slowakei, der durch die vorgezogenen Wahlen im September 2023 ermöglicht wurde, ließ dahingehend auch einen Kanal offen für eine Rückbesinnung auf konstruktive Beziehungen zur Russischen Föderation. Der Vorsitzende der Slowakischen Nationalpartei (SNS), Andrej Danko, hatte eigens für die Stärkung des nationalkonservativen Flügels während der letztjährigen Wahlkampagne, Politiker wie Miroslav Radačovský mit ins Boot genommen, um letztendlich mit einem Wahlergebnis von 5,6 Prozent der kleinste der drei neuen Koalitionspartner zu werden.
Auch die neue Kulturministerin der Slowakei, Martina Šimkovičová, ist Mitglied der Slowakischen Nationalpartei (SNS), was sich in ihrem jüngsten Schritt Richtung Annäherung zu Russland zeigt. Sie hat nämlich den Erlass der neoliberal-hörigen, Brüssel verschriebenen, zum Schein neokonservativen Vorgängerregierung unter Eduard Heger (April 2021–Mai 2023), über den Abbruch der kulturellen Beziehungen und Zusammenarbeit ihres Landes zu Russland und Weißrussland ab dem 24. Februar 2022, kürzlich rückgängig gemacht.
Weniger überraschend ist die neue Militärdoktrin Weißrusslands, die sich im Begriff sieht, bald eine Generalüberholung zu erfahren – angepasst an die europäischen und eurasischen Entwicklungen seit Februar 2022. Bereits jetzt ist aus erster Hand bekannt – nämlich von dem Vertreter des weißrussischen Generalstabs und Leiters der dortigen Informations- und Analyseabteilung, Artem Butorin –, dass Minsk die Bestimmung, dass jeder Angriff auf einen ihrer Verbündeten (zum Beispiel Russland) als Angriff gegen Weißrussland behandeln wird, beibehält. In internationalen Beziehungen könnte wohl die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Moskau und Minsk das formell am fundiertesten auftretende Beispiel für Panslawismus sein.
Die Bewegung geht auf das 19. Jahrhundert zurück und hatte mal russophobe, mal russophile Tendenzen. Besonderes Augenmerk legten die Architekten der Bewegung auf die ethnische Zugehörigkeit der Slawen, aber auch auf die Souveränität der einzelnen slawischen Reiche, welche der entscheidende gemeinsame Nenner sein sollte. Bei manchen Auslegungen sollte selbst die verschiedene Kirchenzugehörigkeit – vor allem der Katholizismus und die Orthodoxie – dabei überwunden werden.
Der einstige slowakische Nationaldichter und späterer politischer Aktivist für eine nationalistische Slowakei, Ľudovít Štúr, verfasste 1852 ein Werk, das als Gründungsschrift des Panslawismus verstanden werden könnte: „Das Slawentum und die Welt der Zukunft“. Im Jahr 1856 starb Štúr. Er erlebte die russischen Publikationen seines panslawischen Werks, in den Jahren 1864 und 1909, nicht mehr. Darin argumentierte er für eine Annäherung mit dem Russischen Reich mithilfe einer panslawisch einenden Ideologie, in der Russland sogar eine Führungsrolle übernehmen solle beziehungsweise müsse.
Das katholische Polen war selbstredend für solche Höhenflüge alles andere als empfänglich. Wohl hatte sich deshalb in Polen nach dem Ersten Weltkrieg die prowestliche Ideologie Józef Piłsudskis durchgesetzt – nicht aber die neutrale, „nationale Demokratie“ eines Roman Dmowski. Dmowski – selbst ein einflussreicher Staatstheoretiker der Zwischenkriegsjahre Polens – kann zwar nicht als „Panslawe“ bezeichnet werden, aber er war eindeutig dafür, dass die Zweite Polnische Republik eine unbedingte Skepsis und pragmatische Konfliktbereitschaft gegenüber dem deutschen Nachbarn beibehält und stattdessen Moskau gegenüber zumindest eine gemäßigte, friedfertige, nichtantagonistische Position bezieht. Im Hinblick auf die historische Feindschaft zwischen Warschau und Moskau, ist die gemäßigte Attitüde gegenüber dem Kreml eines Dmowski schon unter einem polnischen Panslawismus zu verbuchen. Solche Sentiments werden in Polen teilweise in dem monarchistisch-libertär-konservativen Parteienbündnis Konfederacja veräußert und in Publikationen, wie der Mysl Polska thematisiert.
Allerhöchster Wahrscheinlichkeit nach war auch der russische Gelehrte Nikolai Danilewski einer der aufmerksamen Leser von Štúrs panslawischem Manifest. War es doch Danilewski der nur sieben Jahre nach Štúrs „Das Slawentum und die Welt der Zukunft“ seine eigene panslawische Doktrin in seinem Buch, „Russland und Europa“ (1871), publizierte. Danilewski sah sich als ein slawischer Prophet, der die Unausweichlichkeit einer Konfrontation zwischen der westeuropäischen und slawisch-russischen Zivilisation auf dem Alten Kontinent antizipierte. Anders als Štúr, war Danilewski bei Weitem nicht so blauäugig, was die Überwindung des kirchenideologischen „Großen Schismas“ anbelangt. Für ihn war es letztendlich ein großes, unvermeidbares Entweder-oder. Somit disqualifizieren sich einige westslawische Länder durch ihre Zugehörigkeit zu Rom von einem linearen Panslawismus. In Danilewskis Interpretation für einen Erfolg der Doktrin galt die politische Souveränität der slawischen Völker als maßgebend. Des Weiteren sah er die Wiederbelebung der kulturellen Identität der Slawen als entscheidend – westliche Konzepte aus der Aufklärung, wie Individualismus und Verweltlichung der Institutionen, welche er in Form von Atheismus und Rationalismus bereits entstehen sah, verstand er dahingehend als die größten, korrumpierenden Hindernisse.
Grob sah er in einem erfolgreichen Panslawismus die geopolitische Stärkung des Einflusses der slawischen Welt, während gleichzeitig die Wahrung eines gesunden Machtgleichgewichts in der gesamten Welt wahrscheinlicher würde. Ein Autor der Staatsuniversität zu Belgorod, Nikita M. Poiminow, schrieb letztes Jahr in seiner Studienarbeit über Danilewski:
„Der Denker vertrat die Ansicht, dass Europa in einem kulturellen und historischen Kontext Russland gegenüber feindlich eingestellt war, weil es die Macht und das Ausmaß des letzteren erkannte. Es war das Potenzial für die Entstehung eines starken Reiches, das in der Lage war, die slawische Welt zu vereinen, das die Ängste der romanisch-germanischen Zivilisation hervorrief. Die Bedrohung aus dem Westen lässt laut N.Y. Danilewski zwei Szenarien für die Entwicklung der Situation zu: der Verlust der slawischen Identität, wenn sie vom germanisch-romanischen kulturgeschichtlichen Typus absorbiert wird, oder, im Bündnis mit anderen Slawen, die Bildung einer unabhängigen und starken Föderation.“
Poiminow führt in seinem Papier ein Zitat Danilewskis an, welches die ganze panslawistische Doktrin sogar auf eine metaphysische, theistische Ebene hebt, die sich als essenziell entpuppt:
„Für jeden Slawen… nach Gott und seiner heiligen Kirche, – muss die Idee des Slawentums die höchste Idee sein, noch über der Freiheit, über der Wissenschaft, über der Aufklärung, über jedem irdischen Gut, denn keines dieser Güter ist für ihn ohne ihre Verwirklichung erreichbar – ohne ein geistig, national und politisch ausgeprägtes, unabhängiges Slawentum. Und im Gegenteil, alle diese Güter werden die notwendigen Folgen dieser [slawischen] Unabhängigkeit und Identität sein.“
Der Verfasser des gegenwärtigen Artikels ist selbst gebürtiger Pole, der die Entwicklungen der letzten 150 Jahre für die westslawischen Nationen bestätigen kann. Polen als Nation und Volk ist im steilen Begriff, seine slawische Identität zu verlieren. Der Prozess der Assimilierung in die moderne Europäische Union – unter dem durch internationalen Wucherzins finanzierten Banner kosmetischer Varianten von „Freiheit, Gleichheit, Demokratie“ – stellt genau die „Absorbierung“ durch die „germanisch-romanische“ Machtkultur-Zentrifuge dar. Dieser Versuch wurde mit der heutigen Ukraine auch – „bis zum letzten Ukrainer“ – sehr weit, aber nicht ganz erfolgreich, vorangetrieben. Ferner sei zu erwähnen, dass zu dieser „Absorbierung“ sich auch die transatlantische NATO dazu gesellte – das US-angloamerikanische Diktat offenlegend, welches kulturell und machtpolitisch sogar noch über dem „deutschen Konstrukt“ namens EU liegt. Die Westslawen – hier entscheidend, die Polen – sind derzeit noch in vehementer Leugnung, dass die einzige Alternative, ihre „slawische Identität“ zu bewahren, eine Annäherung und Versöhnung mit Russland ist. Alle passiv-lethargischen „dritten Wege“ Warschaus, innerhalb des westlichen Paradigmas der durch Eugenik angetriebenen Klima- und LGBT-Religion, sind zu einem dramatischen Scheitern verurteilt.
Wie bereits mehrmals hervorgehoben, grundsätzlich sind jegliche mit dem Panslawismus verbundenen politischen Projekte mit dem Ende des Ersten Weltkrieges vorerst eingebrochen, da die Vehemenz und der Drang einzelner slawischer Nationen zur „Unabhängigkeit unter westlicher Aufsicht“ priorisiert wurden und oft auf Kosten anderer Slawen erreicht wurden. Die blutjunge Zweite Polnische Republik unter Józef Piłsudski, zum Beispiel, führte mit den Tschechoslowaken, den Ukrainern und den Sowjets Krieg. Die orthodoxen Serben und die römisch-katholischen Kroaten hatten seit jeher ihre Fehde, wobei die Kroaten, ähnlich wie die Ukrainer, den mordenden Faschismus zurate zogen, um die Serben zu „pazifizieren“. Selbst zwischen den Slowaken und den Tschechen gibt es historisch bedingte nationale Skepsis, die für eine „panslawische“ Teilnahme erst überwunden werden müsste. Von den heutigen Ukrainern und ihren verdeckt gehaltenen Konflikten mit Polen und der evidenten Feindschaft zu Russland, ganz zu schweigen. Selbst die Bolschewiki verstanden die Ideologie – offensichtlich negativ konnotiert – als ein Fragment des russischen Imperialismus, da sie in einer ihrer Urformen auf dem russischen Monarchismus basierte. Obwohl der Panslawismus später (nach dem Tod Stalins) von der Sowjetunion sporadisch genutzt wurde, um die Zugehörigkeit der Volksrepublik Polen zum Ostblock historisch zu rechtfertigen, sowie Unmut zu harmonisieren.
Heute werden Versuche, Panslawismus als aufrichtige, berechtigte politische Ideologie salonfähig zu machen, als hybride „Russifizierung durch die Hintertür“ verschrien. Wenn überhaupt die Not aufkommt, im Mainstream-Diskurs das Phänomen zu behandeln, diskreditiert man es als ein von den Russen in Moskau getarntes, „imperialistisches Mittel“ zur Machtergreifung innerhalb des neoliberal-progressiven Hauses Europa mit von Onkel Sam gelegtem US-Fundament. Die Russenfeindlichkeit ist im Wertewesten mittlerweile so hysterisch und irrational, dass jegliche vermeintliche Faktenlage eines sich nur ansatzweise verwirklichenden Panslawismus zu einem „russischen Irredentismus“ vereinfacht wird. Als Irredentismus bezeichnet man in der Politologie die Rückführung von Territorien, die einst zu dem Land gehörten. Im Fall von Russland sind das konkret die Halbinsel Krim sowie die Donbass-Regionen – allesamt auch per Plebiszit legitimiert und per Völkerrecht zumindest im Patt-Limbo zwischen „Selbstbestimmung der Völker“ und „Unverletzlichkeit der Ländergrenzen“. Slawischen Völkern, wie den Polen oder Tschechen wird von ihren angelsächsischen und anderweitigen Herren vorgegaukelt, dass ihnen „dasselbe Schicksal blüht“, obwohl das Letzte, was die Russen wollen würden, ist, die direkte Kontrolle und Verantwortung über diese heute problematischen und neoliberal kompromittierten Nationen zu erlangen. Präsident Putin schaudert es schon vor dem Gedanken, die Westukraine alimentieren und umerziehen zu müssen – so schwer ist es, aufmüpfige Volksgruppen zu verwalten oder zu regieren. Für einen „organischen Panslawismus“ müsste unter den Westslawen eine Art authentische, freiwillige Erweckungsbewegung entstehen.
Allerdings ermöglicht keines der gemäßigten Szenarien dem Panslawismus für die nächste Dekade ein organisches Wachstum. Die viel intensiver und viel besser finanzierten, neoliberal-globalistischen Ideologien der EU und der NATO, die mittlerweile mit der Gender-Ideologie ins absolut Absurde getrieben wurden, haben zurzeit noch eine unmissverständliche, systemische Vorherrschaft, Deutungshoheit sowie informationstechnisch-propagandistische Überlegenheit. Vielleicht hat aber Radačovský eben deshalb gerade recht? Vielleicht müssen die Slawen erst erkennen, wie sie als entbehrliches, entwertetes Kanonenfutter in einem zynischen Stellvertreterkrieg gegen Russland verheizt werden, damit ein konstruktiver, Frieden stiftender Panslawismus in einer neuen, multipolaren Welt hervorkommen kann?
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Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.