Horst D. Deckert

Melnyk wird erst recht zum Skandal – Die FAZ wiederholt die Relativierungen des Bandera-Antisemitismus

Das dreistündige Gespräch von „jung und naiv“ vom 30.6. mit Andrij Melnyk, dem Botschafter der Ukraine in Deutschland bot ausreichend Stoff dafür, dass der Mann umgehend den Hut nehmen und seinen Job abgeben müsste. Rechtfertigung von Antisemitismus und eine Verharmlosung des Holocaust sollten in Deutschland nicht akzeptabel sein. Und ein Loblied auf einen Polen-Schlächter dürfte in der Ukraine von heute kontraproduktiv wirken. Doch genau diese Vorwürfe müssen Melnyk gemacht werden. Dennoch gibt es in deutschen Medien und in Kiew nur zurückhaltende Kritik. Es wird massiv bagatellisiert. Mehr noch: Der Mann wird offensichtlich befördert. Er soll im Herbst zum stellvertretenden Außenminister der Ukraine gekürt werden. Von Winfried Wolf

Liest man am 6. Juli einige deutsche Zeitungen, dann gewinnt man zunächst den Eindruck, Melnyk sei doch zur persona non grata geworden. So heißt es in der „Süddeutschen Zeitung“ unter der Überschrift „Als Vermittler ausgedient“, Melnyk stehe „vor einer Rückkehr nach Kiew“, wo er „womöglich Vize-Außenminister werden könnte“. Doch „was als Aufstieg interpretiert werden kann, wäre … de facto eine Rückstufung.“ Ähnlich die „Neue Osnabrücker Zeitung“, in der es heißt: „Mit einer derart penetrant provokativen Art, wie sie der Topdiplomat an den Tag legt, sichert man sich nicht die Solidarität der Deutschen […] Je eher Präsident Selenskyj also einen Nachfolger für Melnyk präsentiert, der ein wenig mehr Gespür für deutsche Empfindlichkeiten beweist, umso besser für die ukrainische Sache. Ob es zielführend ist, Melnyk als stellvertretenden Außenminister wegzuloben, steht auf einem anderen Blatt“.

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schaut sich dieses „andere Blatt“ genauer an und stellt fest: „Eine Degradierung wäre der Weggang (von Melnyk nach Kiew; W.W.) allerdings nicht. Denn der 46 Jahre alte Diplomat soll in Kiew Stellvertretender Außenminister werden. […] Für sein Land hat er einen guten Job gemacht.“ Eine entsprechende Blattlinie scheint es auch bei der „Schwäbischen Zeitung“ zu geben. Sie präsentiert Melnyk – ebenfalls in der Ausgabe vom 6.7. – in Form einer Hofberichterstattung auf einer Dreiviertel Seite mit Foto und in Siegerpose. In dem Interview, geführt vom Chefredakteur der Zeitung, Hendrik Groth, in der – mit prächtig-kitschigem Barockgestühl ausgestatteten – „ukrainischen Residenz in Berlin Dahlem“, gibt es nicht eine einzige kritische Frage zu den aktuellen Themen. Stattdessen darf Melnyk erneut austeilen, so gegen die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des „zweiten offenen Briefs“, jüngst veröffentlicht in der „Zeit“. Melnyk: „Solche Briefe spielen Russland in die Hände.“

Ganz offensichtlich aber konnten die Macher von „jung und naiv“ Wirkung zeigen. Und die Mainstream-Medien mühen sich ab, die Plattform herunterzumachen, unsauberen Journalismus zu unterstellen und die entscheidenden Aussagen, die Melnyk dort machte, zu relativieren.

Welche Art Interview?

In der FAZ erschienen am 6.7. gleich zwei Artikel, die jeweils eine dreiviertel Seite in Anspruch nehmen. Ein erster, erschienen im Politik-Teil und verfasst von „Gerhard Gnauck , Warschau, und Markus Wehner, Berlin“, trägt die Überschrift: „Verschwinden wird er sicher nicht“. Ein zweiter Artikel, nur mit Gerhard Gnauck als Autor und im Ressort „Medien“ wiedergegeben, hat die Überschrift „Leise Töne werden im Krieg überhört“. In dem zuletzt genannten Beitrag heißt es: „Nicht den heutigen Krieg oder aktuelle Kriegsverbrechen wollten die ´jungen und nativen´ Medienmacher in den Mittelpunkt stellen… Russische Kriegsverbrechen kamen, so die Auskunft der ukrainischen Botschaft, in dem Gespräch erst gar nicht vor. Die Sendemacher nahmen stattdessen eine Passage über Verbrechen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs heraus und schickten sie per Twitter in die Welt. Die Passage erhellt wenig…“

Das ist eine groteske Verzerrung des Interviews. Wobei es schon absurd ist, dass die FAZ sich bei einer der Aussage, um was es in dem Interview geht, auf die „Auskunft der Ukrainischen Botschaft“ berufen muss. In dem dreistündigen Gespräch gibt es ausführliche Passagen zum Krieg selbst. Die „Macher“ von „jung und naiv“ relativieren mit keinem Wort das, was in diesem Krieg stattfindet. Richtig ist, dass das Thema Bandera / OUN / Zweiter Weltkrieg rund die Hälfte der dreistündigen Sendung bestimmt.

Wer war Bandera?

In der „Süddeutsche“ (6.7.) heißt es: Stepan Bandera „führte zeitweilig die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), unter deren Anhängern viele Antisemiten waren.“ Tatsächlich war Bandera ab Mitte der 1930er Jahre Teil der OUN-Führung und ab 1940 und bis Anfang der 1950er Jahre der – auch so bezeichnete – „Führer“ der OUN-B, wobei das „B“ für „Bandera“ stand. Die OUN-B war der radikalere Teil der OUN. Die OUN war hundertprozent antisemitisch. Siehe unten. OUN und Bandera sind nicht zu trennen beziehungsweise diejenigen, die das zu trennen versuchen, fälschen Geschichte.

Wirklich im KZ? Und wenn ja, wann genau?

In dem Gnauck/Wehner-FAZ-Artikel ist zu lesen: „Tatsächlich war Bandera […] von 1942 bis 1944 eine Art Vorzugshäftling im Konzentrationslager Sachsenhausen und konnte diese Befehle [Juden zu vernichten; W.W.] nicht geben.“ Damit wird die Linie von Melnyk verfolgt, Bandera sei eine Art freischwebende Figur und in der Regel nicht direkt für die OUN-Verbrechen verantwortlich.

Tatsächlich befand Bandera sich von Anfang Juli 1941 bis September 1944 in Sachsenhausen. Die Verbrechen der OUN begannen jedoch mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen ab September 1939; die OUN unter Bandera agierte da als Hilfstruppe der Nazis, auch bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Bandera war damit bis Ende Juni 1942 und ab September 1944 auch Teil der operativen Führung der OUN. Inwieweit er von Sachsenhausen aus „Befehle erteilen“ konnte, mag strittig bleiben. Das ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht relevant. Weder distanzierte sich die OUN von ihm noch er sich irgendwann von der OUN und ihrem verbrecherischen Wirken.

Bandera war im KZ Sachsenhausen „Ehrenhäftling“. Er bewohnte dort zwei Zimmer, ausgestattet mit Möbeln und Teppichen. Es gibt keinerlei Berichte über Misshandlungen. Faktisch befand er sich dort in einer Art mittelmäßig komfortablen Hausarrest, der verhängt wurde, weil Banderas Projekt einer unabhängigen Ukraine ab Juli 1942 nicht mehr ins Konzept der NS-Kriegsführung passte.

Was waren die OUN, die UPA und in welchem Verhältnis standen sie zu Stepan Bandera?

In dem FAZ-Artikel von Gerhard Gnauck und Markus Wehner heißt es: „Die von Bandera geführte Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) wollte einen ethnisch homogenen Staat, in dem es keinen Platz für Juden und Polen geben sollte. Milizen, die sich auf Banderas OUN beriefen, sollen zwischen 1942 und 1944 an der Ermordung zehntausender Juden und Polen im Westen der Ukraine beteiligt gewesen sein. […] Bandera und die ohne seine direkte Teilnahme gegründete Ukrainische Aufständische Armee (UPA) sind in Polen Reizthemen, vor allem im rechten Teil des polnischen Spektrums. Die ethnischen Säuberungen vor allem in der Region Wollhynien hatten damals zehntausende Todesopfer gefordert.“

Hier gibt es die typischen Relativierungen, wie sie auch Melnyk dutzendfach im Gespräch vornahm; sie sind alle angesichts der geschichtlichen Forschungen durch nichts gerechtfertigt. Die Milizen „beriefen“ sich nicht bloß auf Bandera; es waren OUN-Milizen bzw. UPA-Milizen. Die UPA war eine Gründung der OUN-B; sie wurde von der OUN-Führung, in der angegebenen Zeit auch direkt von Bandera, befehligt. Zu schreiben, diese Todesschwadronen „sollen“ an den genannten Verbrechen beteiligt gewesen sein, ist skandalös. Sie waren direkt beteiligt, oft Ausführende. Die Aussage, dass die OUN und die UPA „vor allem im rechten polnischen Spektrum“ verurteilt würden, soll erneut relativierend wirken. OUN/UPA und Bandera gelten bei der gesamten politisch bewussten polnischen Bevölkerung als verbrecherisch; der politisch rechtsstehenden polnischen Regierung ist es eher unangenehm, dass Melnyk und Asow-Regiment-Faschisten die aktuelle Harmonie, die es zwischen Warschau und Kiew gibt, stören.

In dem zweiten FAZ-Artikel, verfasst ausschließlich von Gerhard Gnauck, heißt es: „In erster Linie wurden polnische Zivilisten ermordet, in zweiter Linie jüdische. Beide wollte die OUN durch ´ethnische Säuberungen´ loswerden. Tilo Jung und sein Gesprächspartner hätten an dieser Stelle erklären können, dass viele Völker, die keinen eigenen Staat hatten, zur Waffe des Terrors griffen – wie Bandera es tat. […] Richtig war allenfalls, dass der Nationalist die einmarschierenden Nazitruppen ´ausnutzen wollte´, um eine unabhängige Ukraine zu schaffen – was ihm nach wenigen Tagen untersagt und mit Verhaftung beantwortet wurde.“

Richtig ist, dass man die faschistische Ideologie und die Verbrechen von Bandera und OUN nur konkret nachvollziehen kann, wenn man sie im Zusammenhang mit den höchst unterschiedlichen Phasen des Krieges in Verbindung bringt. Ich nannte dazu, gestützt auf die Darstellung des Historikers Keith Lowe vier Phasen, was hier nicht zu wiederholen ist.

Nimmt man die Periode 1939 bis 1945 als Ganzes, dann waren die OUN und die UPA wesentlich mitverantwortlich für die Ermordung von 200.000 Jüdinnen und Juden und für rund 90.000 ermordete Polinnen und Polen. Dass es „in erster Linie um polnische Zivilisten“ gegangen wäre, ist demnach falsch. Die Formulierung, dass man mit Massenmord die polnischen und jüdischen Menschen „loswerden“ wollte, deutet bereits auf die dann folgenden drei Verharmlosungen hin. Da heißt es zunächst, andere hätten doch ebenso gehandelt; Terror und Faschismus seien doch eine Art Zug der Zeit gewesen. Im Interview sagte dazu Tilo Jung bereits, dass das damit ja nicht weniger zu verurteilen wäre. Sodann wird behauptet, Bandera hätte die NS-Besatzer „ausnutzen“ wollen, was ihm aber „nach wenigen Tagen untersagt“ und mit „Verhaftung“ beantwortet worden sei.

Das ist der Skandal im Skandal: Die führende Zeitung in Deutschland wiederholt faktisch fast alle Relativierungen, die Melnyk in Sachen Bandera/OUN selbst vortrug. Es ist aber so: Die Ideologie von Bandera und diejenige von OUN und UPA war durch und durch faschistisch und antisemitisch. Sie besagte explizit, dass Juden, Polen und Russen die „drei Feinde“ der Ukraine seien; weswegen diese auszurotten seien. Die Praxis von Bandera und OUN/UPA entsprach dieser Ideologie. Sie begingen vielfachen Massenmord – mal im Verbund mit den Nazi-Banden, mal als eigenständige Formationen. Die Art und Weise, wie sie mordeten, unterschied sich nicht von den Methoden der Nazis, was auch damit zusammenhängt, dass sie ihre ersten massenhaften Verbrechen (1939-1941) als Hilfstruppen der SS und der Einsatzkommandos der Wehrmacht begingen; dass es die deutsche Seite war, die ihnen das mörderische Handwerkszeug beibrachte.

Wenn Melnyk jetzt sagt – so zitiert in der FAZ – die Juden seien „ein untrennbarer Teil der Geschichte meiner Heimat, ein fester Bestandteil unserer DNA“, dann wirkt das grotesk vor dem Hintergrund seiner vielfachen Aussagen, Stepan Bandera sei ein „Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit“ gewesen, den er bewundere. Das machte er auch dadurch deutlich, dass er am 27. April 2015 bei seinem Besuch in München am Grab des Antisemiten und Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera Blumen niederlegte. Im jung-und-naiv-Interview erklärte er zwei Mal und mit Verve, dass er sich nicht von Bandera distanzieren werde.

Die Flüchtlinge und der aktuelle Rassismus

Der Rassismus der Bandera-OUN-Ideologie spielt auch im aktuellen Ukraine-Krieg eine erkennbare Rolle. Wobei es so gut wie keine Juden auf ukrainischem Gebiet mehr gibt; und es so bei einer verbalen Auseinandersetzung zwischen Kiew und Tel Aviv bleibt. Und Polen enger Bündnispartner und wichtige Durchgangsstation für die Waffenlieferungen ist, weswegen man sich hier keinen härteren Disput leisten kann.

Es bleibt von den drei Feinden der Ukraine Russland. Und Russisch-sprachige gibt es in der Ukraine als Ganzes wohl um die 40 Prozent; auf dem aktuell verbliebenen, von Kiew beherrschten Gebiet sind es wohl um die 30 Prozent. Und selbst in Lwiw, der Heimatstadt von Melnyk, sind es nach dessen eigenen Aussagen rund ein Fünftel. Zwei Mal in dem „jung und naiv“-Gespräch wurde Melnyk gefragt, ob er denn keine russischen oder russisch-sprachigen Freunde oder Bekannte hätte. Er verneinte dies. Das ist im Übrigen verwunderlich, da er ja in den Jahren 2010 bis 2014 auch unter dem ukrainischen, eher Russland-freundlichen Präsidenten Wiktor Janukowytsch als Diplomat treu diente.

Doch offensichtlich hat sich der Mann inzwischen klar entschieden. Neu für einen jüdischen Präsidenten Selenskyj und dabei gleichbleibend für den Judenhasser Bandera. In dem Interview rechtfertigt er das Verbot von zehn Parteien in der Ukraine, da diese alle „russlandfreudlich“ seien; auch würde die russische Kultur „als Waffe“ eingesetzt, weswegen er auch auf diesem Gebiet entsprechende Ausgrenzungen und Verbote mitzutragen scheint.

Melnyk wurde beim Thema Flüchtlinge rhetorisch gefragt, ob er denn wisse, welches Land – nach Polen – am meisten Flüchtlinge aufgenommen habe. Die Antwort: 1,1 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer seien nach Russland geflüchtet. Und dies, so „Jung und Naiv“-Journalist Hans Jessen, seien die offiziellen Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Melnyk protestierte mehrfach gegen diese Feststellung und bezweifelte die Glaubwürdigkeit dieser Zahl. Er behauptete, diese Menschen seien überwiegend deportiert oder zur Flucht in diese Richtung gezwungen worden.

In der „Neuen Züricher Zeitung“ vom 6. Juli gibt es eine interessante Reportage aus dem Donbass. In dieser wird ein Bewohner der Stadt Slowjansk, die sich noch unter ukrainischer Kontrolle befindet, wie folgt zitiert: „Eines ist klar: Dieser Krieg muss sofort aufhören.“ Viele Dinge seien falsch gelaufen hier im Donbass. „Daran trägt die Regierung in Kiew auch Schuld. Wir hätten zumindest Autonomie bekommen müssen, wenn nicht sogar mehr. Schließlich sprechen wir Russisch, kein Ukrainisch.»

Weiter heißt es im NZZ-Bericht:

„Sie ist nicht die Einzige in der Stadt, die so denkt. ´Ein gewisser Teil unserer Einwohner ist nun einmal prorussisch´, sagt Wadim Lach, der Bürgermeister. ´Das ist ein Problem. Aber wir können daran nichts ändern. Ich frage mich nur, warum diese Leute nicht einfach hinüber nach Russland gehen.´“

Es war die 2014 an die Macht gekommene Regierung Jazeniuk, die Russisch als zweite Amtssprache abschaffte, was wesentlich zum Krieg in der Ostukraine und zum Entstehen der „Volksrepubliken“ beitrug. Es war die Regierung Poroschenko, die 2019 ein Gesetz beschließen ließ, wonach in der Ukraine alle Publikationen, die in russischer Sprache erscheinen, zugleich in ukrainischer Sprache publiziert werden müssen. Das Gesetz trat Anfang 2022, kurz vor Kriegsbeginn, in Kraft; es bedeutet das Aus für viele Zeitungen, Zeitschriften und Verlage, die in erster Linie in russischer Sprache publizieren. Und es sind heute Selenskyis eigene Leute, die der russisch-sprachigen Bevölkerung zurufen: Geht doch rüber!

Titelbild: Oleksandr Polonskyi/shutterstock.com

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