
Die Geschichte bestraft zweierlei Arten von Staatsmännern: Die, die zu früh kommen, und jene, die zu spät kommen. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein ist ein seltener Glücksfall, der meist mit epochalen Zäsuren oder historischen Sternstunden einhergeht. Friedrich Merz politischem Lebensweg wird immer die Tragik innewohnen, dass er seine eigentliche Stunde, als Deutschland – wie man heute weiß – an einem schicksalhaften Wendepunkt stand, verpasst hat: Im Machtkampf gegen Angela Merkel vor 20 Jahren verloren zu haben und seither ein Waisendasein im Abseits der großen Bühne zu fristen, während die Ex-FDJ-Agitationssekretärin zur finalen Abdeckerin Deutschlands als Kulturnation avancierte, erweist sich erst in der Rückschau als Verhängnis biblischen Ausmaßes.
Nun, mit 66 und nicht mehr 45 Jahren, wird Merz zwar Parteivorsitzender, doch er wird die Uhr nicht mehr zurückdrehen können. Alles, was Merkel Deutschland angetan hat, wirkt wie eine Thalliumvergiftung: Man bekommt sie nie mehr aus dem Körper, der Sterbeprozess ist gänzlich irreversibel. Daran könnte auch der begnadetste realpolitischste Zaubermeister nichts mehr verhexen – falls Friedrich Merz überhaupt noch einer ist. Mancheinem erstrahlt er als Lichtbringer des unter Merkel begrabenen Unionskonservativsmus, doch daran darf gezweifelt werden. Im Sommer 2020 noch sprach er sich für eine Koalition mit den Grünen aus.
Diskrepanz zwischen Basis und Funktionären
Merz‘ Wahl durch eine überwältigende Zweidrittelmehrheit der Unionsmitglieder ist daher vielleicht weniger von praktischer Relevanz als vielmehr ein wichtiges reinigendes Gewitter, eine verspätete Klatsche und Abrechnung mit Merkels undemokratischem, verlogenem, rückgratlosem, klandestinem und selbstherrlichem Führungsstil. Von einer „doppelten Watschn für die Funktionäre der Partei” sprach „Bild„, und tatsächlich zeigt das Wahlergebnis zeigt, wie groß die Diskrepanz zwischen Mandatsträgern und Basis, zwischen dem tatsächlich Mitgliederwillen und dem Votum der abhängigen Parteitagsdelegierten schon seit vielen Jahren gewesen sein muss; Merkel und ihr Stab wußten ganz genau, warum sie Mitgliederentscheide stets bis aufs Messer bekämpften: Weder Kramp-Karrenbauer noch Laschet hätten es bei einer Basisabstimmung je zum Vorsitzenden geschafft.
Nun aber, nachdem mancheiner heiter das Lied „Ding-Dong, die Hexe ist tot” insgeheim anstimmen mochte und mit dem personifizierten Offenbarungseid Laschet bei den Wahlen ein Totpunkt erreicht war, durfte sich der Mitgliederwille endlich erstmals artikulieren – und er fiel zugunsten Merz‘ eindeutig aus. Die 12,1 Prozent, die Merkels Aktenkofferträger Helge Braun grade noch erhielt, waren der überfällige Arschtritt für das abgewrackte Mutti-Lager – und das klare Signal, dass ein Weiter-so des opportunistischen Einerlei keinesfalls gewünscht ist. „Am 17.12.2021 hat die CDU die Ära Merkel beendet”, kommentierte „NZZ“-Deutschlandchef Alexander Kissler trocken. Ob und inwieweit Merz für einen echten Politikwechsel steht, bleibt indes abzuwarten.