Horst D. Deckert

Nach dem Mord von Idar-Oberstein: Die Jagdsaison ist eröffnet

Schauplatz des Mordes: Aral-Tankstelle in Idar-Oberstein (Screenshot:Youtube)

Der tödliche Angriff auf einen Studenten in Idar-Oberstein bestimmt gerade die Debatte in Nachrichten und sozialen Medien. Der Täter wird der Querdenker-Szene zugerechnet und weigerte sich im Verkaufsraum der Tankstelle, in welcher der junge Mann jobbte, eine Maske zu tragen. Der Streit eskalierte, schließlich zog der Täter seine Waffe und erschoss den Studenten. Ein Mann, der eine Tankstelle schon bewaffnet betritt – da kommen bei mir Fragen auf. Hatte der Täter es eventuell von Anfang an auf einen Überfall abgesehen? Wie dem auch sei, an der Tat selbst gibt es nichts zu beschönigen.

Allerdings ist die Reaktion darauf einmal wieder ein Zeichen dafür, wie totalitär unsere Gesellschaft inzwischen gestrickt ist. Vom Twitter-User über die Politik bis hin zum Verfassungsschutz: Man hat es gleich gewusst – diese Maskenverweigerer und Maßnahmen-Kritiker sind alle potentielle Mörder! Hinter der wohlfeilen Empörung steckt auch ein Stück Erleichterung und Schadenfreude. Endlich gibt es ein handfestes Ereignis, das alle Ängste gegenüber den renitenten Abweichlern rechtfertigt. Sogar Wolfgang Kubicki – obwohl er sich im Bundestag vor der Abstimmung über die Verlängerung der pandemischen Notlage drückte – wird wegen einer unfreundlichen Bemerkung über Karl Lauterbach plötzlich zum Mordbuben ernannt, der die Meute auf den standhaften SPD-Mann hetzt.

Erleichterung und Schadenfreude

Die Jagdsaison ist eröffnet. Das Juste Milieu, das sich tapfer weigert, eine Systematik hinter den Morden von Würzburg, der Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Party und dem jüngsten Angriff auf einen Israeli in Hamburg zu erkennen – und es gibt noch unzählige weitere Beispiele – weiß mit einem Male ganz genau, wen es für die Tat von Idar-Oberstein in Mithaftung zu nehmen hat. Der Täter besaß noch schulderschwerend die Dreistigkeit, sich der Sprache der „Guten“ zu bedienen, indem er bekundete, er habe „ein Zeichen setzen wollen„. Nun wird gefahndet, welchen Autoren er in den sozialen Medien folgte. Kein Geringerer als Jan Böhmermann hat es auf sich genommen, eine „Liste der Schande“ zu erstellen.

Niemand, der seinen gesunden Menschenverstand noch einigermaßen beisammen hat, würde ernsthaft behaupten, Maßnahmen-Kritiker wie Vera Lengsfeld oder Roland Tichy hätten jemals zu irgendeiner Gewalttat aufgerufen – im Gegenteil, ihnen geht es darum, den Corona-Zwang zu beenden und staatliche Übergriffe auf den Bürger zu kritisieren. Aber solche Feinheiten werden außer Acht gelassen, wenn eine Gesellschaft in den irrationalen Panikmodus gewechselt ist und sich diesen auch nicht nehmen lassen will.

Die Sprache der Guten

Wer die Ambition hat, im Alleingang von Deutschland aus den Planeten vor der Klimakatastrophe zu retten, glaubt ebenso fest daran, durch rigide Maßnahmen auch ein Virus in den Griff bekommen zu können. Jeder, der diesem Glauben etwas entgegen setzt, wird von der heiligen Corona-Inquisition an den Pranger gestellt. Das Außergewöhnliche daran ist, dass die Notlage erst herbeigerechnet werden muss. In Kriegs- und Seuchenzeiten reagieren Menschen irrational, suchen Schuldige und geben den Druck, unter dem sie selbst stehen, ungehemmt an Schwächere weiter. Aber eine solche Situation besteht in Deutschland derzeit faktisch nicht, wir haben sehr gute Chancen, unsere Tage gesund, satt und mit einem Dach über dem Kopf zu verbringen.

Der Lockdown hat Deutschland diesbezüglich in einen Teufelskreis hineinmanövriert: Er hat ein Volk von „sensation seekers“ geschaffen, die im Grunde wissen, wie überzogen viele Maßnahmen von Anfang an durchgesetzt worden sind. Da man sich aber aus Gründen der Gesichtswahrung nicht eingestehen kann, falsch gehandelt zu haben – und es auch bequem für die Regierung ist, autoritär durchregieren zu können – kämpft man wacker gegen eine Phantomgefahr weiter an.

Es stimmt, was die Experten des Verfassungsschutzes sagen: Unsere Gesellschaft ist aggressiver geworden. Allerdings trifft das nicht nur auf die Querdenker zu. Auch die „Zeugen Coronas“ tragen viel heiligen Zorn in sich – aber sie merken es noch nicht einmal.

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