Horst D. Deckert

Niemand fordert ein Ende der steuerlichen Barwertdiskriminierung, vor allem nicht die FDP

Einen Unterschied wird es am Ende wohl nicht machen, aber ich habe mir tatsächlich vorgenommen, persönlich zur Wahlurne zu gehen, nachdem ich in der Vergangenheit meist entweder per Post oder Abwesenheit abgestimmt habe. Da ich in den letzten Jahren hin und wieder, vielleicht aus Mitleid, Sympathien mit der FDP gehegt habe, bin ich trotz persönlicher Vorentscheidung auch diesmal ihr Parteiprogramm durchgegangen. Gesucht habe ich nach einem ganz bestimmten diskriminierenden Punkt in unserem Steuersystem, der es aus liberaler Warte dringend geändert gehört. Doch wie bei so vielem heutzutage haben Christian Lindners Liberallalalas auch hier nichts zu bieten. Dabei böte ein solcher Vorstoß ungeahnte Möglichkeiten für einen bürgerlich orientierten sozialen Ausgleich in unserem Land.

Aus gleichem Brutto mach unterschiedliche Netto

Im Grunde genommen verhält sich die Sache ganz einfach. Man nehme Person A, die ihr Arbeitsleben lang im Jahr reale 20.000 Euro verdient und Person B, die in der ersten Hälfte des Arbeitslebens 10.000 Euro pro Jahr verdient, dann ein weiteres Viertel 50.000 Euro, um dann im Schlussviertel wieder auf 10.000 Euro pro Jahr herunterzufallen.

Arbeiten Person A und B gleich viele Jahre, dann verdienen sie insgesamt auf das gesamte Arbeitsleben bezogen gleich viel Geld. Meist sind dies 40 Jahre, so dass beide auf einen Barwert ihrer Arbeitsleistung von 800.000 Euro kommen. Der Einfachheit halber werde ich das weiter unten für die Tabelle aber abkürzen auf 4 Jahre.

So lange es entweder gar keine Steuern oder nur eine Pauschalbesteuerung, dann bleibt den beiden unabhängig von der Steuerlast sowohl brutto als auch netto gleich viel übrig. Leider ist dies bei uns nicht der Fall und bevor dieser Zustand eintritt, wird entweder die Hölle eingefroren sein, oder aber der Dritte Weltkrieg über unser Land hinweggefegt sein. In der Realität und vermutlich bis in alle Ewigkeiten muss Person A aufgrund der deutschen Steuergesetzgebung erheblich weniger weniger Steuern zahlen und das ist diskriminierend.

Für alle, die das nicht glauben, hier das auf 4 Jahre gekürzte Rechenbeispiel mit einem Freibetrag bis 10.000 Euro, wobei für die ersten 10.000 Euro danach 10% Steuern anfallen, für die nachfolgenden 10.000 Euro 20% Steuern und so weiter.

brutto brutto Steuerlast Steuerlast netto netto Steuerquote Steuerquote
Person A Person B Person A Person B Person A Person B Person A Person B
Jahr 1 20.000 € 10.000 € 1.000 € 0 € 19.000 € 10.000 € 5% 0%
Jahr 2 20.000 € 10.000 € 1.000 € 0 € 19.000 € 10.000 € 5% 0%
Jahr 3 20.000 € 50.000 € 1.000 € 10.000 € 19.000 € 40.000 € 5% 20%
Jahr 4 20.000 € 10.000 € 1.000 € 0 € 19.000 € 10.000 € 5% 0%
Barwert 80.000 € 80.000 € 4.000 € 10.000 € 76.000 € 70.000 € 5% 12,5%

Man muss denke ich kein Raketeningenieur sein, um zu sehen, dass hier etwas nicht so recht stimmt. Beide kommen im Verlauf ihres Arbeitslebens zwar auf den selben Bruttobetrag, dank des Steuersystems wird einer von beiden aber bevorzugt, weil dessen Karriere besser zum Steuersystem passt als jene des anderen.

Die Barwertdiskriminierung ist allgegenwärtig

Wer jetzt denkt, dass es sich dabei um ein randständiges Phänomen handelt, der sollte sich vergegenwärtigen, dass Fußballprofis spätestens nach 15 Jahren der Karriere einen völlig kaputten Körper haben und nicht jeder zum Trainer oder TV-Kommentator taugt. Von Eike Immel bis Thomas Häßler gibt es zahlreiche Beispiele für Spieler, die zwar eine Zeitlang groß verdient haben, bei denen es am Ende aber nicht einmal zum Stadionkiosk reichte. Weniger glamouröse Beispiele gibt es noch weitaus mehr, etwa bei stark konjunkturabhängigen Berufen, oder bei Qualifikationen mit einer kurzen Halbwertszeit.

Das Problem mit der Barwertdiskriminierung (ein Begriff, der mir spontan einfiel und den ich sehr gut passend finde) ist allgegenwärtig und nicht einmal auf unser spezifisches Steuersystem beschränkt. Es tritt unabhängig von Freibeträgen und Progressionsstufen auf und wird umso relevanter, je mehr Menschen von unterschiedlichen Grenzsteuersätzen betroffen sind. Da das deutsche Einkommenssteuersystem aus einer quasi-stetigen Kurve besteht, lässt sich davon ausgehen, dass so gut wie jeder diskriminiert wird, der in seinem Arbeitsleben nicht konstant viel verdient. Dies trifft auf quasi jeden zu, der nicht sein Leben lang beim selben Arbeitgeber in der selben Position arbeitet – außer Beamten also mehr oder weniger alle.

Der einkommensteuerliche Gewinnvortrag konkret

Die Abhilfe gegen diesen Fall der Diskriminierung wäre denkbar einfach, und nicht nur, weil wir im Zeitgeist des Diskriminerungswehklagens leben. Der Fiskus müsste lediglich erlauben, dass man seine Steuerlast auf die kommenden Jahre verteilen kann. Für Unternehmen und sogar Einzelunternehmer ist dies heute schon möglich, allerdings mit einigem Aufwand verbunden, der sich in Anbetracht der Anwaltskosten vermutlich nur selten lohnt. Über eine Erweiterung auf Privatpersonen lasst sich damit sagen, dass es durchaus funktionieren würde, da Unternehme(r)n ansonsten nicht die Möglichkeit offen stünde.

Tatsächlich wäre es sogar am gerechtesten, wenn die Möglichkeit automatisch vom Fiskus angenommen wird, damit sich der einzelne Steuerbelastete nicht eigens darum kümmern muss. Mit einem solchen automatischen Gewinnvortrag würde im deutschen Steuersystem zunächst einmal der Steuerfreibetrag aufgebraucht. Dieser liegt pro Jahr bei gut 9.000 Euro. Auf ein Arbeitsleben von 40 Jahren gerechnet entspricht dies mehr als 450.000 Euro und damit genug, um sich ein Haus abzubezahlen, bevor es mit dem Steuerzahlen losgeht.

Ist der Steuerfreibetrag aufgebraucht, dann kommt die nächste Stufe, die in Deutschland in kleinteiligen 1 Euro Schritte eingeteilt ist. Effektiv bedeutet es für 40 Jahre im Voraus, dass der Steuersatz immer nach 40 Euro etwas weiter steigt. Verdient man beispielsweise 80.000 Euro in einem Jahr, dann rutscht der Grenzsteuersatz für den Rest des Lebens um insgesamt 2.000 Euro nach oben. Konkret bedeutet es, dass im zweiten Jahr nach dem Aufbrauchen des Steuerfreibetrags implizit ein negativer Steuerfreibetrag von 11.000 Euro angenommen wird. Das klingt etwas kompliziert, wäre aber nicht wirklich umständlicher, als es heute schon ist.

Die Undurchführbarkeit und andere Ausreden

Was oftmals als Argument gegen einen solchen Gewinnvortrag angeführt wird, ist die Annahme zu vieler Variablen aus der Zukunft, die heute noch nicht bekannt sind. Dazu zählt beispielsweise die Familiensituation, oder auch Änderungen an der Progression oder dem Freibetrag. Letzteres wäre eine sehr einfache Sache, da der Steuerpflichtige mit dem Eingehen des Angebots im Prinzip einen Vertrag mit dem Finanzamt unterschreibt, in dem er mögliche Änderungen in der Zukunft zu seinem Nachteil akzeptiert. Seitens des Finanzamts ergibt sich daraus kein grundlegendes Problem, da stets die Möglichkeit besteht, die Steuern zukünftig noch etwas zu erhöhen.

Bei der Familiensituation sieht die Sache schon etwas anders aus. Hochzeiten, Scheidungen, abhängige Kinder oder auch ein frühzeitiges Ableben dem Vertrag mit der Zukunft einen Strich durch die Rechnung machen können. Bei Änderungen des Ehestandes lässt sich auf die Vertragssituation verweisen, worunter auch das Ehegattensplitting fällt, das im Zweifel entsprechend der steuerlichen Situation der beiden neuen oder ehemaligen Ehepartner neu berechnet werden müsste. Es wäre etwas kompliziert (und ein Ehevertrag würde helfen), doch es wäre prinzipiell durchaus machbar, wenn man es denn wollte. Der Einbezug von Kindern wäre ebenfalls machbar, da deren steuerliche Zukunft als eigenständige Subjekte zumeist absehbar ist.

Komplizierter wird es beim Einbezug eines möglichen Ablebens. Dadurch würde die Person alle Vorteile des Vertrags genießen, während das Finanzamt nur die Nachteile auf seiner Seite hätte. Selbiges Problem ergibt sich bei Auswanderern, da diese für den Fiskus fast noch schlechter erreichbar sind als Tote. Insgesamt vier Möglichkeiten sehe ich hier, wie sich das Problem minimieren ließe.

  • Erstens, sollte der Gewinnvortrag auf maximal 20 Jahre begrenzt sein. Dadurch lässt sich zwar nicht die gesamte Diskriminierung abschaffen, bei den meisten jedoch sollte dieser Zeitraum genügen.
  • Zweitens, sollte der Gewinnvortrag nur bis zum Renteneintritt möglich sein. Wer das Alter von 67 Jahren erreicht, der erhält in den meisten Fällen ohnehin vor allem ein passives Einkommen, so dass die in der jährlichen Abrechnung vorhandene Diskriminierung nur schwach auf die Motivation des Betroffenen wirkt.
  • Drittens, sollten nur 75% des Einkommens mit zukünftigen Steuersätzen verrechnet werden können. Dies hilft auch bei der Minimierung der übrigen Risiken bei dieser Besteuerungsmethode.
  • Viertens, sollte der Gewinnvortrag rückgängig gemacht werden und mit den jährlich erhobenen Steuersätzen verrechnet werden, wenn jemand in jenem Zeitraum auswandert, für den er in der Vergangenheit Gewinnvorträge vorgenommen hat.

Idealerweise sollte jeder in seiner Einkommensteuerabrechnung den genauen Betrag der Steuerschuld bei einer jährlichen Abrechnung genannt bekommen. Es würde jedem zeigen, wie groß die Motivation des Fiskus wäre, wenn derjenige Steuerflucht begeht und würde nebenbei dabei helfen, die finanziellen Nachteile einer Auswanderung oder einer Scheidung in die persönlichen Pläne einzuarbeiten.

Übergenerationelle Grenzsteuergerechtigkeit

Insbesondere in Relation zu dem Kuddelmuddel, das sich deutsches Steuersystem nennt und im Vergleich zu dem, was gerne von linksgrüner Seite gefordert wird, wäre der Einbau einer Möglichkeit für einen Gewinnvortrag bei der Einkommensteuer keineswegs ein Ding der Unmöglichkeit. Motivierte Finanzfachleute wären mit Sicherheit in der Lage, ein solches System in das existierende Chaos mit einzubauen. Man müsste es wie gesagt nur wollen.

Wie sehr man es wollen sollte, zeigt eine gedankliche Erweiterung des Gewinnvortrags hin zu einer Vererbung aller unverbrauchten Grenzsteuersätze. Denn prinzipiell spräche nichts dagegen, Steuerpflichtigen die Möglichkeit zu geben, all jene unverbrauchten Grenzsteuersätze an die Kinder zu vererben, die man selbst nicht verbraucht hat. Wer sein Leben lang nie über 20.000 Euro Jahreseinkommen kam, während der Spitzensteuersatz erst bei 50.000 Euro beginnt, der kam nie in die Verlegenheit, den steuerlichen Spielraum dazwischen auszunutzen. Warum also nicht diesen Betrag an die Kinder vererben?

Für den Fiskus wäre diese Möglichkeit nichts anderes, als würde jemand nicht nach 40 Jahren in Rente gehen, sondern erst nach 100 Jahren. Zwar ist unwahrscheinlich, dass jemand seinen Steuerfreibetrag nie ausreizt, doch mit Blick auf Fußballprofis, die schon in jungen Jahren exorbitante Gehälter verdienen, würde es der übergenerationellen Gerechtigkeit dienen, wenn die Eltern ihren unverbrauchten Gewinnvortrag auf den Sprössling übertragen. Über die genaue Ausgestaltung dieser Möglichkeit werde ich mich an dieser Stelle nicht weiter auslassen, da dieser Teil fraglos kompliziert wäre. Doch die theoretische Möglichkeit wäre definitiv gegeben. Ebenso offensichtlich ist deren soziale Gerechtigkeitswirkung.

Jenseits dieses Gedankenexperiments eröffnet sich mit einer Vererbung von Gewinnvortragspotenzialen sogar die theoretische Möglichkeit, diese frei zu handeln. Denn was sich Vererben (oder zu Lebzeiten Verschenken!) lässt, das ließe sich auch verkaufen. Für Häuslebauer und Unternehmensgründer wäre dies eine weitere Sicherheit, die sie für ihren Kredit bei der Bank hinterlegen könnten, oder aber bei einem Verkauf an unmittelbar steuerpflichtige Unternehmen und Einzelpersonen, bares Geld wert, mit dem das Eigenheim in jungen Jahren schon auf Anhieb abgezahlt wäre und völlig unabhängig des persönlichen Hintergrunds der Person.

Was konkret geschehen müsste

Wenn die Vorstellung einer vererb- und handelbaren Gewinnvortragsberechtigung nicht die Quintessenz von Gerechtigkeit ist, was dann? Es ist bezeichnend, dass die ach so unternehmens- und niedrigsteuerlich bewegte FDP in ihrem Wahlprogramm nicht einen Piepston in diese Richtung verlauten lässt. Ich würde sogar behaupten, dass die Forderungen der FDP erst dann einen Sinn ergeben, wenn die Abschaffung der Barwertdiskriminierung an deren Basis gesetzt wird.

Beispielsweise würde eine Pauschalbesteuerung von 40% in Verbindung mit einem hohen Steuerfreibetrag von etwa 20.000 Euro in etwa analog zum Kirchhoff-Modell viel besser passen, wenn flankierend dazu die jährliche Erhebung abgeschafft wird und das Recht auf ein Vererben und Verkaufen der Steuervorteile hinzukäme. Denn nur dann würde sich auch bei all jenen das Gefühl für fiskalische Gerechtigkeit durchsetzen, die zeitlebens nie über die Freigrenze kommen und sich von jenen übervorteilt sehen, die ein hohes aber stark schwankendes Einkommen verfügen.

Mit Pauschalbesteuerung und einem vererbbaren Gewinnvortrag wäre beidem gedient, während der Staat gleichzeitig auf keinen Cent verzichten müsste, sondern das Geld lediglich in einer anderen zeitlichen Sequenz zu sehen bekäme. Zwar müsste man mit einem gewissen Motivationsverlust rechnen, wenn jemand plötzlich vom ersten Euro an den Spitzensteuersatz bezahlen muss. Auf der anderen Seite ist die volkswirtschaftlich kritische Phase eher in jungen Jahren zu erwarten, wenn ohne geschlagene Wurzeln eine Auswanderung viel wahrscheinlicher ist. Hinzu kommt, dass jemand weit oben auf der Karriereleiter viel unwahrscheinlicher mit dem Arbeiten aufhört, wenn plötzlich hohe Steuern auf ihn zu kommen, als wenn jemand sukzessive die Steuerklassen nach oben rutscht und sich zunehmend zu fragen beginnt, ob er überhaupt noch weiter aufsteigen soll.

Die FDP ist eine miserable Umfallerpartei, daran gibt es keine Zweifel mehr. Das Ausmaß jedoch, mit dem sie hinter den Ansprüchen ihrer gerne vorgetragenen Schlagworte zurückbleibt, lässt sich an der völligen Abwesenheit jeglicher Phantasie ablesen, wenn es um das Ausfüllen ihrer Kernpunkte mit sozialem Leben geht. Infolge der innerparteilichen Entscheidung für den ESM hat sich die FDP in meinen Augen historisch verzichtbar gemacht. Ohne ein positives Gegenprogramm aus bürgerlicher Perspektive für den sozialen Ausgleich im Land macht sie sich überdies verzichtbar für all jene Wähler, die gedanklich weiterhin im alten System Westdeutschlands verharren und lediglich ahnen, dass etwas nicht stimmen könnte mit den vier großen Linksparteien in unserem Land.

Quelle Titelbild

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