Horst D. Deckert

Ostern, 1. Mai, Pfingsten: Was steckt hinter dem Frühjahrsbrauchtum?

Die Historikerin Dr. Renate Reuther beschäftigt sich seit vielen Jahren mit vorchristlichem Brauchtum. Im exklusiven Gespräch mit AUF1.INFO spricht sie über uraltes Frühlingsbrauchtum von Ostern bis Pfingsten. Sie sagt: „Wer in den Zyklen der Natur lebt, fürchtet den Tod nicht.“

Dr. Renate Reuther ist promovierte Historikerin und Sachbuchautorin. Sie hat zahlreiche Fachartikel und Bücher zur Sozial- und Kulturgeschichte verfasst. Zuletzt erschien ihr Buch „Hauptsache Panik – Ein neuer Blick auf Pandemien in Europa“, das sie gemeinsam mit Dr. Gerd Reuther verfasst hat. Bei Gesund AUF1 sprach sie bereits über die naturreligiösen Wurzeln des Weihnachtsfestes. Im Exklusiv-Interview mit AUF1.INFO erklärt sie nun die Bedeutung uralter Frühlingsfeste und -bräuche. 

Frau Dr. Reuther, die meisten Menschen halten Ostern und Pfingsten für „christliche Feiertage“. Dabei gehen ihre Ursprünge auf ein viel älteres Frühjahrsbrauchtum zurück. Wie kam es zu diesem „Etikettenschwindel“?

Nach der Christianisierung hielten die Menschen sehr lange an den alten Ritualen fest. Was die neuen Herren nicht verbieten und auslöschen konnten, musste eben umgedeutet und umbenannt werden.

Ostereier sind ja ganz offensichtlich kein christliches Symbol, sondern stehen für das neue Leben, das im Geheimen bereits heranwächst, genauso wie in den Knospen des Frühlingsstraußes. Wie wir aus dem – immer auch spirituell aufgeladenen – Brauchtum unserer Vorfahren schließen können, respektierten sie die Natur, wünschten sich Lebens- und Zeugungskraft, und fürchteten die ungeheuren Zerstörungskräfte. Deshalb gehören zu den fröhlichen Feiern stets auch Opfergaben, um mit der Natur in freundschaftliche Beziehung zu treten. In den ersten Eiern, der ersten Kuhmilch nach der Winterpause, dem Birkengrün oder dem Festgebäck wird das Göttliche für uns erfassbar.  

Was verbirgt sich nun für vorchristliches Brauchtum hinter dem „Pfingstfest“?

Die Feiern und Rituale zum Pfingstfest haben sich bei uns nicht so gut erhalten, wie die Erinnerungen an das ursprüngliche Osterfest oder die Maifeiern. Womöglich wurden Elemente des nicht mehr gern gesehenen 1. Mai auf das von der Kirche geförderte Pfingsten verlegt. Vieles war ähnlich, da alle Feste und Feiern des wiederkehrenden Lichts, des frischen Grüns und des neuen Lebens waren. Mancherorts wurden auch die Brunnen gereinigt und geschmückt, um symbolisch und tatsächlich für frisches Wasser zu sorgen und zu danken.

Der Maibaum hat bis heute überlebt, aber nur noch wenige Orte kennen die Pfingsttanne, die ebenso das Ortszentrum schmückte und umtanzt wurde. Andernorts wurden wie in der Nacht zum 1. Mai zu Pfingsten Maien gesteckt, das heißt junge Birken wurden vor die Häuser gesetzt. Meist markierten Burschen damit die Wohnungen ihrer Liebsten. Die Pärchen fanden zusammen. Bis heute gilt der Mai als Hochzeitsmonat. Zu Pfingsten gipfelten die Feiern des neuen Lebens in Paarungen, nicht nur einfach als Zeichen der in der Natur überall spürbaren Lebenslust, sondern auch als rituelle Begleitung der sich vereinenden Naturkräfte: von Himmel und Erde, von Sonnenlicht in der Ackerfurche, von mildem Regen auf frischen Saaten…

In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai findet die sogenannte Walpurgisnacht statt. Bekannt wurde das Motiv der „Hexennacht“ vor allem durch Goethes Faust. Worum geht es hier genau?

Auch in diesem Fall ist uraltes Brauchtum unserer keltischen und germanischen Vorfahren christlich überformt worden. Schon die Figur der Walburga klingt verdächtig nach keltischer Göttin, denn sie ist zuständig für Wind und Wetter, für Geburt und neues Leben, für Erntesegen und Wohlergehen der Menschen. Zudem erinnert der Name an die Wallburgen, also Kreisgraben-Anlagen, die bei uns zwar offiziell wenig Beachtung finden, aber nachweislich Kalenderbauten waren, in denen man seit der Bronzezeit die festen Termine (Festtage) des Jahres in Messfeiern feststellen, markieren und feiern konnte. Dazu strömten die Menschen aus dem Umland zusammen bei großen gemeinsamen Wall-Fahrten.

Während Ostern und davon abhängig Pfingsten nach päpstlicher Anweisung unstet von Termin zu Termin wandert, feierten unsere Vorfahren die Wendepunkte im Sonnenlauf: den kürzesten Tag des Jahres (Weihnachten) und den längsten (Sommersonnenwende) sowie Ostern zur Tag- und Nachtgleiche am 21. März. 

Die Überformung der Mainacht durch Erfindung einer hl. Walburga ist die übliche Methode, Feiern, die man durch Verbote nicht auslöschen konnte, durch Umbenennung als christlich zu kaschieren und darüber die naturreligiösen Wurzeln vergessen zu machen. Als dies nicht glückte, begann die Dämonisierung. Feiern zur Ehre von Mutter Erde und ihren Begleiterinnen wie Elfen, Feen oder Holden sowie den mit göttlichen Zauberkräften versehenen weisen Frauen oder Hexen wurden verunglimpft.

Aus mächtigen weiblichen Gottheiten wurden hässliche Hexen. Aus überirdischer Macht teuflische Bosheit. Das Ganze ist hauptsächlich ein Beweis für die Angst kirchlicher Autoren vor der großen Kraft der Weiblichkeit und der Natur.

Bleiben wir kurz beim Frühjahrsbrauchtum im Allgemeinen. Das zentrale Motiv hier ist die Wiedergeburt des Lebens nach dem kalten, dunklen Winter. Trotz aller Entfremdung von der Natur sind diese „Frühlingsgefühle“ heute immer noch lebendig spürbar. Sehen Sie hier eine Chance, wieder mehr zur Natur zu finden? Gerade in Hinblick auf die stattfindende Zerstörung der Natur.

Der Respekt vor den mächtigen Naturkräften und die Ehrfurcht vor dem Leben ist tief in uns Menschen verwurzelt. Dies ist kulturübergreifend und nicht in wenigen Jahrhunderten gänzlich auszurotten. Fast jeder spürt, wie die Seele aufatmet bei einem Spaziergang draußen durch Wald und Wiese. Wer hat noch nicht andächtig das Farbenspiel eines Sonnenuntergangs bestaunt? Wer wird nicht unruhig, wenn ein Gewitter tobt? Wir sind Teil der Natur, wir gehören zur Gemeinschaft der Lebewesen. Wir alle, ob Mensch, Tier oder Pflanze, brauchen Wasser und Sonnenlicht und atmen CO2 aus. Wir unterliegen alle den gleichen grundlegenden Gesetzen.

Immer mehr Menschen besinnen sich auf eine vorchristliche und naturreligiöse Spiritualität. Woher kommt dieses Interesse an diesem Thema? Steckt Ihrer Ansicht nach dahinter primär eine Art Folklore, ist es eine „echte Sinnsuche“ oder nur eine Krise des Christentums?

Jeder wird seinen eigenen Weg finden müssen. Jedoch gibt uns Naturvertrauen eine innere Kraft, die auch als spirituell empfunden werden kann. Dann gehen wir hinaus in die Natur, um das Leben im Licht zu feiern. Wer das erkannt hat und intensiv erlebt, braucht keine Medikamente gegen Depressionen.

Uns im Einklang mit der Natur zu sehen, statt sie als Feind wahrzunehmen und sie ständig zu bekämpfen, bringt uns Seelenruhe, inneres Gleichgewicht und den Mut, uns den Widrigkeiten des Lebens zu stellen. Die zyklische Weltsicht, die den Naturreligionen innewohnt, verleiht uns Kraft durch die Hoffnung auf die jährliche Wiederkehr von Licht und Wärme. Der Kreislauf von Säen und Ernten sichert unsere Existenz. Jedes Jahr von Neuem dürfen wir den Sieg der Natur über Dunkelheit und Kälte feiern; jedes Jahr von Neuem wird das Sterben überwunden, weil das Leben siegt. Wer in den Zyklen der Natur lebt, fürchtet den Tod nicht, denn Sterben ist Teil des Lebenskreislaufs. Jede Woche wieder feiern wir den Sonntag als den höchsten Tag. Die Sonne ist das Zentrum des Lebens. Nur wo es Sonnenlicht und Wärme gibt, kann Leben fortbestehen.

Zum Autor: Raphael Mayrhofer ist seit vielen Jahren für zahlreiche Alternativmedien tätig. Als Redakteur und Medienfachmann begleitete er den „Wochenblick“ ab seiner Gründung. Seinen Fokus legt der studierte Publizist dabei auf die Themenbereiche Souveränität, Identität, Nachhaltigkeit und Solidarität. Seit 2022 kümmert sich Mayrhofer als leitender Redakteur um das Format „Gesund AUF1“.

Ähnliche Nachrichten