Ein AUF1.INFO-Exklusiv-Interview mit dem philosophischen Essayisten Dushan Wegner
AUF1: Herr Wegner, Sie sind als Kind mit ihrer Familie lange vor der Wende aus der kommunistischen Tschechoslowakei nach Australien geflüchtet und dann nach Westdeutschland gezogen. Wie unterscheidet sich der Staat der Zeit von Helmut Kohl von der heutigen Berliner Republik?
Wegner: Der größte Unterschied ist das Vertrauen der Bürger in das gesellschaftliche System. Als wir nach Deutschland kamen, glaubten die Bürger und wir auch, dass es sich lohnt zu arbeiten, zu sparen, sich über Jahre und Jahrzehnte ein Haus zu erarbeiten und die Kinder studieren zu lassen.
Das ist heute anders. Wenn ich mit Lesern rede, stelle ich fest: Man erwartet, bewusst oder unbewusst, dass Leistung bestraft wird. Die Regierung wird sich neue Tricks ausdenken, um dir das Erarbeitete wegzunehmen. Als fleißiger Deutscher, ob in Deutschland geboren oder ordentlich eingewandert, fühlst du dich wie die Melkkuh des Staates, nicht als sein Zweck.
Das Konzept von Deutschland als Heimat bröckelt für viele Deutsche. Die Hymne von Tschechien heißt übersetzt »Wo ist meine Heimat?« – und als Deutscher könnte ich dies heute auch singen.
Kommunistische Denkmuster kehren zurück
AUF1: Ihre Familie hat unter den Verhältnissen im früheren Ostblock gelitten. Sehen Sie Parallelen zur Entwicklung im heutigen Westeuropa?
Wegner: Ich selbst war ein Kind, als wir in den Westen kamen, doch Verwandte und Leser, die den Ostblock selbst erlebten, entdecken heute ein erschreckendes Denkmuster des Sozialismus wieder, sowohl bei Funktionären als auch bei Bürgern.
Bedeutungsverlust von Wörtern im Orwell-„1984“-Stil, Alltäglichkeit der Lüge, schwindender Wert des individuellen Lebens, Spaltung der Gesellschaft in Gehorsame und Ausgestoßene – all das erinnert gefährlich an diverse Sozialismen.
Nur eines ist leider grundlegend anders: Im voll erblühten Sozialismus war mehr subversiver Humor. In Tschechien pflegte man zu sagen: »Etwas Leben in dieses Sterben!« und: »Lache, selbst wenn sie dir gerade das Väterchen erhängen!«
Wären Deutsche heute in der Lage, so über ebendiese zu lachen?
AUF1: In Ihrem Blog behandeln Sie die Politik in Brüssel oder Berlin. Was denken Sie – aus welchen Gründen arbeitet zum Beispiel die EU-Spitze unter Ursula von der Leyen gegen die Interessen der Bürger? Warum machte v. d. Leyen seltsame Deals mit der Spritze von Pfizer Inc. – ist es simple Bestechung mit Geld?
Wegner: Schuster, bleib bei deinen Leisten, so sagt man. Ich habe keine Akteneinsicht. Mich interessiert ohnehin zuerst, was diese Politik mit uns sogenannten kleinen Leuten macht, wie wir mit dem Wahnsinn klarkommen, ohne selbst wahnsinnig zu werden. Ich wage aber die These, dass das Gewissen dieser Gestalten sehr anders tickt als Ihres und meines.
Keine der großen philosophischen Fragen wird ja davon berührt, was deren wirkliche Motivation ist: Wer bin ich? Was ist der Sinn des Lebens? Wie kann ich glücklich sein?
Keine der Antworten hängt davon ab, warum diese Leute tun, was sie tun. Ob der Bürger jedoch überhaupt dazu kommt, diese Fragen zu stellen und an seinen Antworten zu arbeiten, das kann davon abhängen, dass er sich rechtzeitig, wie ich zu sagen pflege, seinen »Innenhof« gesucht hat.
Bekommen wir „1984“ – oder wird es noch schlimmer?
AUF1: Vor allem angelsächsische Autoren wie George Orwell und Aldous Huxley warnten in ihren Dystopien vor diktatorischen Entwicklungen. Werden die offiziell kapitalistisch-demokratischen Länder tatsächlich zu Tyranneien wie in „1984“ oder „Schöne Neue Welt“?”
Wegner: Die Dystopien „1984“ und „Schöne Neue Welt“ basieren auf unterschiedlichen Ideen. Bei Orwell werden Menschen überwacht und bedrängt, und es ist natürlich erschreckend, wie häufig man heute der Politik zurufen möchte: „Hey, ‚1984‘ war nicht als Anleitung gedacht!“
Bei der „Schönen Neuen Welt“ werden die Menschen für ihre Rollen gezüchtet und mit Drogen ruhiggestellt. Sie müssen nicht bekämpft werden, denn sie werden mit psychologischen Mitteln kontrolliert.
So augenfällig heute die Parallelen zu „1984“ auch sein mögen: Unsere Ähnlichkeit zur „Schönen Neuen Welt“ sind womöglich erschreckender. Spätestens, wenn das Denkvermögen von Kindern durch Social-Media-Apps aktiv verändert wird – womöglich irreparabel und fürs Leben –, wären Denkverbote und Sprachzwänge wie in „1984“ sogar das kleinere Übel.
Denkverbote setzen voraus, dass überhaupt jemand denken kann – und auch denken will. Doch ich erlebe heute bereits, dass man Mitmenschen belegte Fakten vorlegen kann und sie dennoch abwehren, das seien „Verschwörungstheorien“.
AUF1: Welche Dystopie wird es nun? Orwell oder Huxley oder eine Kombination?
Wegner: Aufgrund der heutigen Erkenntnisse und technischen Mittel denke ich, dass das Buch, das die heute wahrscheinlichste Dystopie beschreibt, noch nicht geschrieben ist. Auch ich kann es nicht schreiben: Es ist so viel offen und unklar wie selten zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Ich vermute, dass einige der sogenannten Eliten, so harsch es klingt, gerade auch nicht wissen, was sie „mit uns anfangen sollen“ – und wir wissen es ja selbst oft nicht!
Ein Beispiel: Einige Akteure scheinen sich gerade dafür einzusetzen, durch Lizenzverfahren die wirklich mächtige Künstliche Intelligenz nur einem kleinen elitären Kreis vorzubehalten, was die Schere zwischen denen und dem Rest noch mal weiter aufreißen wird. Was werden die Folgen für das Machtdelta zwischen Konzernen und Bürgern sein? So viele unbekannte Variablen! Nein, diese Dystopie ist noch nicht beschrieben.
Mittel gegen die Kulturlosigkeit: unsere Kultur!
AUF1: Was rät der Philosoph? Was kann der einzelne Bürger tun, um mit den immer wirrer werdenden Verhältnissen am besten umzugehen?
Wegner: Unabhängig davon, ob man vom besten oder schlimmsten Szenario ausgeht, rate ich heute jedem von uns, unsere Kultur in uns aufzusaugen, die Klassiker wiederzuentdecken, die göttliche Musik, die großen Bücher, vielleicht auch etwas deutsche Philosophie.
Einer, der weiß, dass er am nächsten Tag erblinden wird, wird versuchen, noch schnell so viel an Bildern aufzunehmen, wie er irgendwie kann. So sollte jeder von uns unsere Kultur in uns aufsaugen.
Ich weiß nicht, was morgen der Fall sein wird, doch ich bin mir sicher, dass es besser ist, wenn der Einzelne in sich trägt, was wir einst der Welt gaben, was wir wussten, wie viel Schönheit wir schufen.
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Dushan Wegner, 49, studierte Philosophie in Köln und schreibt Essays auf seinem Blog dushanwegner.com. Seit Jahren ist er als besonders lesenswerter philosophischer Chronist der politischen Verhältnisse im Land bekannt.