Eine Technik der Kriegspropaganda besteht darin, die Politik des Feindes zu personalisieren. Dabei werden Handlungen einer Regierung einzig dem Staatsoberhaupt zugeschrieben, der dann diffamiert und als Hitler des Tages durchs Dorf getrieben werden kann. Und da kommt auch der «Psycho-Journalismus» ins Spiel: Diese Handlungen werden mit psychologischen Eigenschaften des Betreffenden begründet. Alternativ lassen sich solche Eigenschaften auf ein ganzes Volk überstülpen.
Ziel ist es, den Gegner als grundsätzlich böse darzustellen und jeglichen realen Faktor, der zu einem Krieg geführt hat oder führen könnte, auszublenden. Das soll wiederum dazu dienen, um gegen diesen Feind vorzugehen und dabei das Volk hinter sich zu wissen. Der von ARD und ZDF betriebene Fernsehsender Phoenix bedient sich im letzten «persönlich»-Interview gleich aller dieser drei Propagandatechniken.
Nomen est omen , könnte man anmerken, doch das «persönlich» bezieht sich eigentlich auf das Gesprächsformat und den Gast. Durchleuchtet wird jedoch der russische Präsident Wladimir Putin. Und Phoenix schafft tatsächlich das Kunststück, in einem halbstündigen Interview über ihn, Russland und den Krieg in der Ukraine die NATO kein einziges Mal zu erwähnen. Und verschwiegen wird auch die neoliberale Schocktherapie des Westens in den 1990-er Jahren unter Boris Jelzin, die Russland aussaugte. Wir erfahren hingegen, dass Jelzin «wesentlich demokratischer veranlagt» gewesen sei als Putin.
Die Moderatorin Inga Kühn tritt das Gaspedal gleich zu Beginn ganz durch: «Wladimir Putin ist der blutrünstigste Herrscher Russlands seit Josef Stalin», meine ihr heutiger Gast. Erfahrung in Russland hat dieser: Als aussenpolitischer Korrespondent leitet Michael Thumann bereits zum dritten Mal das Moskauer Büro der Zeit. Der Titel seines neuen Buches: «Revanche – Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat». Kein Wunder also, dass er eingeladen wurde. Und auf Kühns kritische Gegenstimme wartet man vergebens.
Laut Thumann hat man Putin in Deutschland «lange Zeit und vielfach unterschätzt». Man habe in ihm «einen gesehen, der Deutsch spricht und in irgendeiner Form mit uns Geschäfte und Kooperation sucht». Tatsächlich habe sich Putin im Laufe seiner Amtszeit jedoch sehr stark verändert. Diesen «Revanche-Moment» hätte man übersehen.
Der Zeit-Korrespondent führt Putins Wandel nicht etwa beispielsweise auf die NATO-Osterweiterung oder auf die einseitige Kündigung des ABM-Vertrags seitens der USA im Jahre 2001 zurück, sondern auf «Beleidigungen, die er so empfand». Diese seien jedoch gar nicht immer als Beleidigung gemeint gewesen und «schon gar nicht gegen Russland».
Putin nehme ausserdem Revanche für Dinge, die er als Erniedrigung für sein Land empfunden habe, zum Beispiel den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, und für die innere Opposition gegen sich. Diese Revanche im Inneren des Landes habe sich nun nach aussen gewendet.
Die Moderatorin nimmt den Ball dieses «Psycho-Journalismus» gleich auf. Sie erwähnt, dass der ehemalige US-Präsident George W. Bush 2001 gesagt hatte, er habe «dem Mann» tief in die Augen geschaut, seine Seele gesehen und ihn «aufrichtig und vertrauenswürdig» gefunden. Kühn fragt:
«War unsere Sehnsucht nach Frieden, nach Weltvereinigung da einfach zu gross? Waren wir da zu blauäugig?»
An dieser Stelle kommt man nicht umhin, auf die Doppelmoral hinzuweisen – und auf die Ironie. Denn es war derselbe Bush, der mit Lügen und Vorwänden die Kriege im Irak und in Afghanistan entfacht hatte. Bei Putin haben wir uns gemäss Thumann indes «ein bisschen einwickeln lassen von der Persönlichkeit des Mannes» – eine ganz andere «als dieser klassische Stereotyp früher sowjetischen Führer, die ja immer schon sehr alt und häufig auch ein bisschen dem Alkohol zuneigend» waren.
Durch Putins Jugendlichkeit und seine anscheinende Bereitschaft zu kooperieren habe man schon damals übersehen – oder «geflissentlich vorbeigesehen» –, was eigentlich im Inneren des Landes geschehe. Die Repression habe ja «ganz vorsichtig» begonnen. Allerdings räumt Thumann ein, dass seiner Ansicht nach der russische Präsident nach seinem Machtantritt niemanden in die Irre geführt hat und damals nicht schon «alles geplant hatte».
Der Autor erkennt bei Putin im Jahre 2011 einen «Kippmoment» – Demokrat sei er allerdings «nie gewesen». Als er nach der Amtszeit von Dmitri Medwedew zum dritten Mal Präsident werden wollte und es im Land Proteste dagegen gab, sei Putin «tief schockiert» und seine Popularität im «Keller» gewesen. Aufgrund der arabischen Aufstände habe er befürchtet, wie Hosni Mubarak in Ägypten oder Zine Ben Ali in Tunesien durch das Volk entmachtet zu werden.
Somit habe Putin entschieden, sich «eine neue Erzählung» zuzulegen und anders vorzugehen. Er habe die Repressionen gegen Oppositionelle verstärkt und sich dem Nationalismus verschrieben, was heute auch «uns» und die Ukraine betreffe. Dieser Nationalismus soll auch der Grund gewesen sein für den Konflikt mit der EU ab 2012 wegen der Zollunion, welche die EU der Ukraine angeboten hatte. Der Zeit-Korrespondent erachtet es also als Nationalismus, wenn sich ein Präsident für die Wirtschaft seines Landes einsetzt.
Kühn bleibt auf der psychologischen Ebene: Laut Korrespondenten und Thumanns Buch zufolge ist Putin «tief gekränkt» und «beleidigt», weil seine Rolle auf der Weltbühne gelitten hat. Deshalb greife er «zu diesem Angriffskrieg und ähnlichen schrecklichen Dingen, die wir ja nun auch jeden Tag in den Nachrichten sehen». Auch sei er beleidigt gewesen, als der König Charles ihn nicht zum Begräbnis von Elisabeth II eingeladen hatte. Kühn will nun wissen, ob letzteres «wirklich so schlecht» gewesen sei.
Ja, ist Thumann der Ansicht, solche Dinge würden Putin weh tun. In diesem Moment habe er «sich hingesetzt», weiss der Journalist. Es sei eben ein «ganz grosses Familientreffen des Globus» gewesen, an dem er nicht dabei war. Der russische Präsident sehe sich hingegen als jemand, der «eigentlich gar nicht isoliert ist, sondern der mit der ganzen Welt ausser mit diesem blöden Westen gute Beziehung unterhält». Allerdings stelle er dann immer wieder fest, dass auch andere Länder ausserhalb Europas und Nordamerikas mit ihm ein Problem hätten.
Dann weitet der Journalist seine psychologische Analyse auf alle Russen aus: Das Gefühl, beleidigt oder gekränkt zu sein – Obida auf Russisch – sei in dem Land weitverbreitet. Um das zu kompensieren, setzte man darauf, respektiert zu werden. Thumann relativiert sogleich: Das treffe nicht auf alle Russen zu – doch auf Putin «ganz gewiss». Zum Staatsbegräbnis der Queen meint er noch, dass die britische Krone und die Regierung gar keine Wahl gehabt hätten: «Den Mann konnte man nicht einladen».
Dem Journalisten zufolge führte diese Kränkung bei Putin zu einer Reaktion, die er 2018 «exemplarisch vorgelegt hat». In der alljährlichen Rede zur Lage der Nation habe er sich darüber beklagt, dass der Westen Russland jahrelang nicht zugehört hat. Um das zu ändern, habe er dann einen Film über die neuesten Nuklearraketen abspielen lassen, die dem Radar entweichen und in kürzester Zeit Washington erreichen könnten.
Thumann erwägt nicht, dass diese Reaktion eventuell mit einer realen Bedrohung zu tun haben könnte – zum Beispiel eben die NATO-Osterweiterung oder den vom Westen gesteuerten Coup in der Ukraine im Jahre 2014 und den darauffolgenden Krieg an der Grenze zu Russland.
Auch Kühn macht keine Anstalten, auf solch relevante Ereignisse hinzuweisen. Sie fährt lieber weiter die Psycho-Schiene und will wissen, wie sich Thumann gefühlt hat bei seinem ersten Interview mit Putin im Jahre 1999. Und nicht nur das, die Moderatorin legt auch die Stossrichtung fest: Ob das für ihn «angsteinflössend» gewesen sei, fragt sie. Auch will sie in Erfahrung bringen, wie Thumann Putin damals erlebt hatte und wie er ihn heute erlebt.
Vom «Russland-Kenner» – so Kühn in der Einleitung – erhalten wir nun folgende anscheinend relevanten Informationen. Von der Psychologie führt er uns unter anderem zur Ästhetik:
- Putin war damals äusserlich ein ganz anderer Mensch.
- Er ging noch nicht so breitbeinig und inszeniert wie heute.
- Er war damals ein bisschen faltiger als heute – man hat ja ein wenig an ihm gearbeitet.
- Er hat nicht mehr die Ränder von damals unter den Augen, die er als hart arbeitender neuer Ministerpräsident und Präsident hatte.
- Er sah ein bisschen gestresst aus, weil er auch aufgrund des «von ihm ausgelösten» Tschetschenienkrieges viel zu tun hatte.
- Er war insgesamt aber sehr freundlich.
- Er liess das Team der Zeit weniger als zehn Minuten warten, während in den letzten Jahren auch Staatsmänner teilweise Stunden warteten.
Nach dieser Flut an Trivialitäten kommt endlich etwas Wichtiges, was bemerkenswerterweise Thumann selbst so ankündigt – allerdings nichts Unbekanntes: Putins Bereitschaft, mit dem Westen zu kooperieren und «irgendwie Teil dieses erweiterten Westens» zu sein. Das sei «ein ganz anderer Ton» gewesen als in den Jahren nach 2011.
Obwohl Thumann der Moderatorin schon erklärt hatte, dass Putin seiner Meinung nach zu dieser Zeit niemanden in die Irre geführt hat, fragt Kühn: «Haben sie ihm denn 1999 getraut? Und falls ja, hat sie das sehr umgetrieben in den letzten Jahren?». Das dann doch nicht: Jemandem, der «sozusagen vorher der Chef des Geheimdienstes gewesen ist», sei «per se» nicht zu trauen, macht der Autor klar.
Das «sozusagen» ist an dieser Stelle wichtig, doch es macht die Aussage nicht korrekter. Putin war nämlich nicht Chef des Geheimdienstes, sondern Offizier des Auslandsgeheimdienstes KGB. Auch stellt sich die Frage, ob Thumann George W. Bush ebenfalls grundsätzlich nicht traute. Schliesslich leitete Bush tatsächlich einen Geheimdienst: In den Jahren 1970 und 1971 war er ein Jahr lang Direktor der CIA.
Ausserdem traute Thumann Putin 1999 nicht, weil er «gleich den Tschetschenienkrieg vom Zaune brach», und das unter einem Vorwand. Die russische Regierung habe «ominöse» Angriffe auf Wohnhäuser in einigen russischen Städten sofort tschetschenischen Terroristen zugeschrieben. In zwei Fällen könne möglicherweise auch der Geheimdienst dahinterstecken, das sei nicht aufgeklärt.
Sogar Wikipedia beschreibt den Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges allerdings so: «Im August 1999 drangen islamistische Kämpfer aus Tschetschenien in die russische Region Dagestan ein und verletzten die Grenzen Russlands.» Und dahinter stecken vermutlich auch westliche Geheimdienste. So erklärte beispielsweise der Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, dass er den US-Führerschein eines CIA-Agenten gesehen habe, der bei einer von ihm geleiteten Operation getötet worden sei.
Thumann erkennt also bei sich damals eine «gehörige Portion Misstrauen», doch:
«Was ich aber nie gedacht hätte ist, dass sich aus diesem eher kleinen, schmalen Mann irgendwann dieser Typ entwickeln würde, der einfach mit täglichen oder wöchentlichen Drohungen – ‹ich könnte auch die Nuklearbombe einsetzen› – die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzt.»
Wichtig erscheint Kühn auch noch etwas über Putins Privatleben zu erfahren. In der Antwort kommt unter anderem doch noch eine interessante Information, wobei sie nicht besonders überraschend ist, angesichts der erwähnten militärischen Bedrohung für Russland und nun des Krieges in der Ukraine. Früher habe sich Putin anscheinend auf zwei Säulen verlassen: Die Wirtschaftsexperten – oder die «Petersburger Liberalen» – und die Sicherheits- und Geheimdienstleute. Dieser Einfluss habe sich zugunsten letzterer verlagert.
Immerhin: Wie Kühn anmerkt, widerspricht Thumann der Äusserung von Olaf Scholz, es sei Putins Krieg und nicht jener der Russen – wobei natürlich auch «der Russen» falsch ist. Und überhaupt: Haben Sie jemals westliche Mainstream-Politiker oder -Medien gehört, die von «Bushs Kriegen» oder derjenigen «der US-Amerikaner» sprechen? Trotz seiner Uneinigkeit mit Scholz macht der Zeit-Korrespondent klar, dass Putin diesen Krieg «vom Zaun gebrochen», «geplant», «gewollt», «die Befehle dafür gegeben» und ihn «historisch begründet» hat.
Der russische Präsident habe aber mithilfe der Propaganda erreicht, dass eine Mehrheit ihn unterstützt und diesen Krieg befürwortet – «eine erschreckend grosse Zahl an Russen». Und das, stellt Thumann fest, trotz der auch ihnen zugänglichen ausländischen Medien, bei denen sie «sich schlau machen» könnten. Die Wahrheit ist hingegen: Sollten sie westliche Mainstream-Medien konsumieren, würden sie lediglich die Propaganda der anderen Seite aufnehmen.
Laut Thumann würden viele Russen der Berichterstattung staatlicher Medien glauben wollen – zugunsten eines «homogeneren und entspannteren» Verhältnisses mit ihrer Umgebung. Denn es sei heute tatsächlich sehr schwer, gegen diesen Krieg zu sein. Das trifft wohl zu, doch gegen den Strom zu schwimmen, ist nirgends einfach, insbesondere wenn es um Krieg geht – ob gegen ein anderes Land oder ein Virus.
Aufgrund der Repressalien ist der Moskau-Korrespondent «pessimistisch», was einen Volksaufstand betrifft. Die Menschen würden sich weiterhin konform verhalten und Putin werde es auch «Kraft seiner Staatsmedien» gelingen «die Leute einfach weiter bei der Stange zu halten». Er könne die meisten Russen allerdings auch bei einem «ehrlichen Waffenstillstand» mitnehmen. «Ehrlich», denn bisher habe er «immer nur unehrliche angeboten». Er habe das gar nicht so gemeint.
Mit Bezug auf die sich intensivierende militärische Unterstützung der Ukraine und die Angst, dass sie zu einem Atomschlag führen könnte, fragt Kühn ihren Gast, ob er Putin einen solchen zutraue. Laut Thumann wäre der russische Präsident dazu «am Ende ruchlos genug». Derzeit sei allerdings «nicht der Moment da» und er drohe nur, im Bewusstsein der Wirkung auf die nahen europäischen Länder. Sollte Putin hingegen einmal seine persönliche Macht in Russland bedroht sehen, möchte der Journalist nicht ausschliessen, dass er zu taktischen Atomwaffen greift.
Thumann bemängelt, dass der ominöse Atomkoffer nur noch von einer anderen Person bedient werde, im Gegensatz zu Sowjetzeiten, als ein Kollektiv dafür verantwortlich gewesen sei. Das gebe ihm keine Sicherheit oder Überzeugung, dass Putin die Waffe nicht einsetzen würde. Zur Präzisierung: Zuständig dafür sind in Russland drei Personen. Dennoch ist Thumanns Unsicherheit natürlich berechtigt, nur ist es so, dass es zum Beispiel in den USA in der Tat nur zwei Leute betrifft: Diese Kompetenz liegt dort bei der National Command Authority (NCA), die aus dem Präsidenten und dem Verteidigungsminister besteht.
Zu der weit verbreiteten Meinung, ein Friede sei nur noch ohne Putin vorstellbar, meint Thumann, dass nach ihm zunächst keine Demokratie entstehen würde. Russland sei zwar fähig für «demokratische Ansätze» oder eine «demokratische Entwicklung», das hätte das Land gezeigt. Doch Eliten hätten das regelmässig systematisch verhindert. Somit sieht Thumann einen «autokratischen Herrscher» aufkommen. Dennoch könne dieser Krieg mit einem Nachfolger «sehr schnell beendet werden» weil dieser darin nicht so politisch involviert wäre wie Putin.
Auf die Bedrohung in Russland angesichts seiner publizistischen Tätigkeit angesprochen, erwähnt Thumann eine Medien-Kampagne gegen ihn und bürokratische Schikanen. Zu den möglichen Folgen weist er auf die Deutsche Welle und die BBC hin, die zu ausländischen Agenten erklärt und ausgewiesen wurden. Was er verschweigt: Dasselbe Schicksal ereilte in der EU und anderswo die russischen Sender Russia Today und Sputnik.
Zum Schluss erfahren wir auch noch etwas Positives über Russland: Es würden dort «tolle Menschen» leben, stellt Thumann fest und schwärmt über gesellige Abende mit Freunden in Küchen wie früher in der Sowjetunion.
*********************************
Für unsere Arbeit sind wir auf Spenden angewiesen. Wir schätzen jeden Beitrag, damit unserem kleinen Team eine gewis-se Sicherheit gewährleistet werden kann. Wir bedanken uns be-reits im Voraus für jegliche finanzielle Unterstützung.
Oder direkt auf folgende Konti:
Spenden in CHF auf folgendes Konto:
IBAN: CH15 0645 0600 3117 8466 0
Spenden in EUR auf folgendes Konto:
IBAN: CH64 0645 0600 3117 8465 1