Horst D. Deckert

Polens Sensationsurteil gegen EU-Einmischung: Kommt jetzt der „Polexit“?

Angespanntes Verhältnis: EU und nationale Gerichte (Symbolbild:Shutterstock)

Die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, Teile des EU-Rechts für verfassungswidrig zu erklären, ist mehr als nur Ausdruck des tiefen Zerwürfnisses zwischen der Brüsseler Kommission sowie eines moralisierenden Clubs um Deutschland und Frankreich einerseits und einem renitenten, bockigen Einzelstaat. Sie ist von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie das fundamentale Missverständnis der Eurokraten beleuchtet, die EU sei eigentlich ein Bundesstaat mit Zentralprimat. Das ist sie nicht, war sie nie und sollte sie allen Beitrittskonditionen auch nie sein. Insbesondere in Deutschland hingegen ignoriert nicht nur die Regierung, sondern leider auch die Justiz zunehmend diese fundamentale und ganz wesentliche definitorische Unterscheidung, von der nicht weniger abhängt als der Vorrang nationaler Selbstbestimmung und damit die uneingeschränkte Gültigkeit des Grundgesetzes.

Das letzte Aufbäumen deutscher Verfassungsorgane gegen ein EU-Supremat stellte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Anleihekäufen der EZB vom Mai letzten Jahres dar, das mit der jetzigen Entscheidung polnischen Pendants letztlich wesensverwandt war – indem es feststelle, dass die Ankäufe zumindest teilweise verfassungswidrig sind. Prompt bezeichnete die EU das Urteil als „gefährlichen Präzedenzfall„; dies wohlgemerkt, obwohl das – damals noch nicht vollends regierungsservile – Karlsruher Höchstgericht, anders als im Fall Polens, ein für die Deutschen weit einschneidendere, weil elementar nachteilige Rechtsprechung des EuGH Anleihenkaufprogramms PSPP zum Gegenstand hatte: Das europäische Gericht hatte nämlich einen europäischen Interventionismus zu Lasten Dritter – des deutschen Volksvermögens – legalisiert.

Polen ist nicht Deutschland

Das Problem wurde dann „Merkel-typisch“ so umschifft, dass Bundesregierung und Bundestag, um dem Karlsruher Urteil formal Genüge zu tun, die EZB-Staatsanleihenkäufe „überprüften“ – während selbige freilich ungebremst weiterliefen. Damit hatte es sich dann auch. Sämtliche folgenden Klagen, die seither unter Berufung auf das Urteil von 2020 den Erlass einer sogenannten Vollstreckungsanordnung durch das Verfassungsgericht verlangten, mit der dieses dieses die konkrete Umsetzung hätte vorgeben und die Regierung zur Unterbrechung oder Änderung der EZB-Ankaufpraxis gegen den Willen des EugH zwingen können, wurden vom Zweiten Senat als unbegründet verworfen; zuletzt im April (Az.: 2 BvR 1651/15 u.a.). Kein Wunder: Inzwischen folgte das Verfassungsgericht, dessen Vorsitz im Juni 2020 Merkels ergebener Vertrauter Stefan Harbath übernommen hatte, strikt der Regierungsräson – zur vollen Zufriedenheit Merkels und der Kommission unter deren Intima Ursula von der Leyen. (Der EU-Kommission allerdings genügte dies nicht; sie bestehen weiterhin eine formale Unterwerfung unter EU-Recht und die Aufhebung des Urteilsspruchs vom Vorjahr – weshalb sie im Juni 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleitete.)

Anders als in Deutschland bleiben in Polen hingegen, zum Glück, die dortigen Verfassungsrichter zu allererst den Interessen der eigenen Nation und den Bestimmungen eigenen Konstitution verpflichtet – und zeigen der EU trotzig ihre Grenzen auf: Wenn EU-Gesetze nicht mit der Verfassung kompatibel seien, dann entfalteten sie auf polnischem Boden auch keine Rechtsgeltung, so der Tenor des gestrigen Urteils. Die Reaktion der EU-Kommission hierauf ist nun fast wortgleich mit jener im Fall Deutschlands vor 17 Monaten: Die Entscheidung der Warschauer Richter weckten „ernsthafte Bedenken„, und das EU-Recht habe „Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich der Verfassungsbestimmungen„, teilte die Kommission in einer ersten Stellungnahme mit.

Wider die Anmaßung des EU-Supremats

In Wahrheit ist es richtig und wichtig, dass sich einzelne Mitgliedsstaaten endlich gegen die Anmaßung demokratisch fragwürdiger (wenn nicht gar delegitimierter) supranationaler Gremien stellen, einen Vorrang vor nationalen Verfassungen zu beanspruchen; eine Auffassung die in Deutschland leider nur zu bereitwillig geschluckt wird. Die EU-Verträge sind zwar von nationalen Parlamenten ratifiziert – aber insofern illegitim, als etwa im Fall der Bundesrepublik die generelle Geltung des Grundgesetzes, nach Auffassung namhafter Verfassungsrechtler, als solche gar nicht ausgesetzt werden darf, ohne dass das gesamte Volk hierüber abstimmt – und insofern eine heteronome EU-Fremdherrschaft niemals Rechtens sein kann.

Dass gerade die stolzen, nationalbewussten Polen dieser Pervertierung des Gemeinschaftsgedankens entgegentreten, die den ursprünglichen europäischen Geist des „e pluribus unum“ – aus der Vielfalt das Einende finden – eine kontinentale Gleichschaltung unter Kommando eines Brüsseler Politbüros zu formen versucht, ist kein Zufall: Mehr noch als in anderen osteuropäische Staaten hat man dort den Rand gestrichen voll von EU-Einmischungen, die mehr trennen als einen und die aus einer Nachbar- und Partnerschaft blanke Bevormundung machen. Auch hier war es vor allem Merkeldeutschland, das spätestens mit der Flüchtlingskrise tiefe Gräben aufgerissen und gespaltet hat, und damit den europäischen Einigungsprozess um Jahrzehnte zurückwarf (wenn nicht gar den Anfang vom Ende der EU einläutete).

„Weitestgehender Schritt in Richtung Austritt“

Seither wächst bei unserem östlichen Nachbar der Einfluss jener, die es am liebsten Großbritannien gleichtun würden. Und tatsächlich macht das Land mit dem gestrigen Urteil einen großen Schritt in Richtung „Polexit“: „Dies ist eine juristische Revolution“, erklärt René Repasi, Professor für Völker- und Europarecht an der Erasmus-Universität Rotterdam, laut „The Guardian„. Es sei nämlich „der bislang weitestgehende Schritt in Richtung eines legalen Austritts aus der EU, der je von einem nationalen Gericht unternommen wurde.“ Mit jedem weiteren Erpressungs- oder Sanktionsversuch der Kommission, die sich bereits im Nachgang zur polnischen Justizreform – wie schon im Fall des ungarischen Presserechts –  tief in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Mitgliedsstaats eingemischt hatte, wächst das Lager der austrittswilligen Polen weiter. Die unverhohlene Brüsseler Warnung, dass die EU-Bestimmungen „für alle Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte“ bindend seien, weshalb man nun nicht zögere, „von den Befugnissen gemäß den Verträgen Gebrauch zu machen, um die einheitliche Anwendung und Integrität der Union zu gewährleisten„, gießt hier nur weiteres Öl ins Feuer.

Gänzlich undiplomatisch war insofern auch die Äußerung des Präsidenten des Europäischen Parlaments, David Sassoli, der gestern auf Twitter antipolnische Gerichtsschelte betrieb: „Das Urteil in Polen kann nicht ohne Folgen bleiben. Der Vorrang des EU-Rechts muss unumstritten sein. Ihn zu verletzen, bedeutet, eines der Gründungsprinzipien unserer Union infrage zu stellen„, drohte unverblümt. Sassoli sollte gut aufpassen, was er von sich gibt: In Polen sind nämlich keine unterwürfigen, rückgratlosen Politiker wie seit 16 Jahren in Berlin am Ruder, die bei Bedarf wahlweise die Brieftasche zücken oder nationale Interessen auf einseitiges Verlangen Außenstehender verraten. Sondern eine Regierung, die sich zu zuerst den Interessen der eigenen Bevölkerung verpflichtet fühlt – und dann der Union.

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