Prof. Dr. John Ioannidis von der Stanford University warnte früh vor Panikmache und gehört zu den profiliertesten Kritikern der Corona-Massnahmen (Corona-Transition berichtete). So erklärte er den Nutzen von Lockdowns als insignifikant und berechnete mit Metastudien die Sterblichkeitsrate.
Am 26. Juni hielt Ioannidis einen Vortrag in Salzburg. Zum Vortrag geladen hatte Prof. Dr. Manuel Schabus von der Universität Salzburg. Ioannidis betonte, dass in einem Notfallszenario qualitative Evidenz nur mangelhaft vorliege. Diese Lücken würden durch Spekulationen und modellarische Berechnungen gefüllt. Diese könnten jedoch noch irreführender sein. Das war beispielsweise bei der Schweizerischen Task Force immer wieder der Fall (Corona-Transition berichtete). So hätten bis Ende 2020 alle wissenschaftlichen Disziplinen, sogar die Automobilindustrie, über Epidemiologie Arbeiten publiziert.
Quelle: YouTube. Zum ganzen Vortrag geht’s hier.
Ioannidis kritisierte, dass die einengende Sicht auf das Virus die meisten Probleme ignoriere:
«Dies ist nicht nur ein Virus; es betrifft die ganze Gesellschaft, Wirtschaft, Gesundheit, die ganze Welt. Wenn man nur eine Dimension dabei betrachtet, verliert man den Blick für das Ganze.»
Etwas, was man schon ganz früh wusste, sei die spezifische Gefährdung von Risikogruppen gewesen: besonders die alten Menschen (Grafik 1). In dieser Gruppe sind mit Abstand die meisten Todesfälle zu verzeichnen. Auch Vorerkrankungen wie Herzkrankheiten, Krebs oder Diabetes spielen eine wichtige Rolle. So zeigt Grafik 2, dass beispielsweise in den Niederlanden die Todesfälle bei Menschen unter 65 Jahren ohne Vorerkrankungen lediglich 0,7 Prozent betragen haben.
Grafik 1. Quelle: Vortrag Ioannidis.
Grafik 2. Quelle: Vortrag Ioannidis.
Bei Kindern und jungen Erwachsenen liegt die Mortalität noch viel tiefer. So beträgt sie zum Beispiel in den Niederlanden 0,37 pro Million oder in der Schweiz 1,8 pro Million (Grafik 3).
Grafik 3. Quelle: Vortrag Ioannidis.
Ioannidis schlägt vor, zunächst vulnerable Menschen der Risikogruppen zu schützen. Das sei fast nirgendwo wirklich gemacht worden. Es sei unerklärlich, weshalb es diese Priorisierung der Altersgruppen erst bei der Verteilung des Impfstoffes gab, wo doch die Risikogruppen schon früh klar waren. Stattdessen habe man einfach «alle ins Badezimmer eingeschlossen und nicht mehr rausgelassen». Das sei «komplett albern» gewesen.
Während der ersten Welle seien zum Beispiel in Spanien 63 Prozent oder in Belgien 61 Prozent der Opfer in Altersresidenzen zu beklagen gewesen. Es sei «komplett irre», jungen Menschen die Schule und das Studium zu verbieten, während die Regierungen Covid-19-Patienten in Altersresidenzen schickten, wo sich viele alte Menschen infizierten und starben.
Eine Reaktionsmöglichkeit sei ein Lockdown. Das wichtigste wissenschaftliche Paper in diesem Zusammenhang stammt vom Imperial College London (veröffentlicht in Nature). Darin wurde behauptet, der Lockdown habe drei Millionen Menschenleben gerettet. Eine wichtige Figur hierbei ist Neil Ferguson (Corona-Transition berichtete). Gleichzeitig habe dasselbe Team des Imperial College ein zweites Modell entwickelt, das in den USA angewendet worden sei. Ioannidis:
«Als wir das zweite Modell auf Europa anwandten, ergaben sich komplett andere Schlussfolgerungen: Lockdown hatte keinen Nutzen […] Doch in Nature veröffentlicht wurde das Modell, das Lockdown propagierte, obwohl das andere Modell auch verfügbar war.»
In einer Studie verglichen Ioannidis und sein Team Daten aus Ländern mit Lockdown mit solchen mit weniger drakonischen Einschränkungen (Südkorea, Schweden). Sie setzten dazu die Entwicklung der Fallzahlen ins Verhältnis (Grafik 4). Es zeigte sich: Die Fallzahlen in Ländern mit restriktivem Lockdown entwickelten sich nicht besser. Es habe sogar eine Tendenz zum Schlechteren gegeben, so Ioannidis.
Grafik 4. Quelle: Studie Ioannidis.
Hunger, Tabak, psychische Gesundheit und Bildung
Ioannidis verwies auf die gesundheitlichen Risiken, mit denen aufgrund der Massnahmen zu rechnen ist. Darunter fallen zum Beispiel die Nichtbehandlung von Gesundheitsproblemen (z.B. Krebs), weil die ganze medizinische Aufmerksamkeit auf Corona gelenkt wurde. Auch Folgeprobleme werden aufgeführt, wie Suizide oder Alkoholmissbrauch (Grafik 5).
Grafik 5. Quelle: Studie Ioannidis.
Ausserdem habe sich die Zahl der hungernden Menschen («severe stage of hunger») laut Oxfam von 135 auf geschätzte 270 Millionen verdoppelt, und es dürften rund 300 Millionen Vollzeit-Arbeitsstellen verlorengegangen sein, was zusätzlich 500 Millionen Menschen in die Armut trieb. Ioannidis:
«Man sieht ein echtes Desaster, das viel, viel grösser ist im Vergleich zu dem, was Covid-19 hätte anrichten können.»
Ioannidis stellte im Vortrag weitere entstehende Probleme ins Verhältnis zu Covid-19. So zum Beispiel das Rauchen. Er schätzt, dass Rauchen als Begleiterscheinung bei einem beträchtlichen Teil der Verstorbenen eine Rolle gespielt haben dürfte. Man schliesse alles, über Schulen, Unternehmen, Freizeiteinrichtungen; aber nicht die Tabakindustrie.
Die meisten Menschen wurden während der Pandemie mit psychischen Problemen konfrontiert (Grafik 6). «Wir haben Ergebnisse, die zeigen, dass sich diese Probleme verdoppelt bis verdreifacht haben», so Ioannidis. Dies stellte er ins Verhältnis zu den 0,1 Prozent der Bevölkerung, das «an» oder «mit» Covid-19 gestorben ist – «die meisten wahrscheinlich ‹mit›».
Grafik 6 illustriert den Anstieg von Angststörungen. Quelle: Vortrag Ioannidis.
Laut einer Studie aus Stanford mit 350’000 Schülern in den Niederlanden haben diese während der Schulschliessungen so gut wie nichts gelernt («next to nothing»). Schüler aus armen Verhältnissen waren dabei überdurchschnittlich betroffen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Goethe-Universität Frankfurt am Main kam zu einem sehr ähnlichen Schluss (Corona-Transition berichtete). Ioannidis:
«Es war eine ‹wunderbare› Gelegenheit, mehr Möglichkeiten für Privilegierte zu schaffen und sie für Benachteiligte zu zerstören. In den USA war es nicht nur ein Problem der Bildung. Diese Kinder mussten sich um die Versorgung kümmern. Ich denke, es war ein Massaker, ein Riesenfehler der öffentlichen Gesundheit höchsten Ausmasses. Vielleicht der grösste des Jahrhunderts.»
In den USA wird geschätzt, dass über 5 Millionen Personenjahre wegen Schulschliessungen verloren gingen. Selbst bei einer viel geringeren Zahl würde dies immer noch deutlich schwerer wiegen als die Verluste durch das Coronavirus, so Ioannidis.
Gast bei ServusTV
Anlässlich seines Aufenthaltes in Salzburg war Ioannidis ausserdem Gast in der Sendung Talk Spezial des österreichischen Kanals ServusTV. Dort sprach er über die grössten Fehler in der Pandemie und die Irrmeinungen von Politik und Wissenschaft und was zur Krisenbewältigung nötig ist.
Quelle: ServusTV. Zur ganzen Sendung geht’s hier.
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Eine Auswahl von Ioannidis’ Arbeiten zu Corona (teilweise im Vortrag erwähnt):
- Studie 1: Infection Fatality Rate of COVID-19 Inferred from Seroprevalence Data
- Studie 2: Assessing Mandatory Stay-at-Home and Business Closure Effects on the Spread of COVID-19
- Studie 3: Preserving equipoise and performing randomised trials for COVID-19 social distancing interventions
- Studie 4: Global perspective of COVID-19 epidemiology for a full-cycle pandemic
- Studie 5: Does the COVID-19 pandemic provide an opportunity to eliminate the tobacco industry?