Horst D. Deckert

Prozess gegen 96-Jährige: Die Selbstgerechten

(Symbolbild:Imago)

In Itzehoe sollte am Donnerstag der Prozess gegen die 96-Jährige Irmgard F. beginnen. Der Tatvorwurf ist gewaltig: Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen. Als 18-jährige Sekretärin soll sie im KZ-Stutthof bei Danzig zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen bei der systematischen Tötung von Inhaftierten geholfen haben.

Die Angeklagte hatte dem Gericht wenige Tage vor dem Prozessbeginn in einem Brief mitgeteilt, daß sie nicht zum Termin erscheinen würde. Sie erschien dann tatsächlich nicht, sondern begab sich „auf die Flucht“. Sie habe ihr Heim in Quickborn am Donnerstag Morgen mit einem Taxi verlassen und sei am Nachmittag in Hamburg aufgegriffen worden, nachdem das Gericht einen Haftbefehl ausgestellt hatte, wie die „MoPo“ berichtete. Der Prozess wurde nun verschoben. Die 96-Jährige sitzt bis dahin in Untersuchungshaft.

Zu einem Fall für die Justiz war Irmgard F. erst vor fünf Jahren geworden. Bis dahin galt ihre Tätigkeit als Schreibkraft im KZ nach der Rechtsprechung des BGH als nicht justiziabel. Geändert hatte sich das mit dem 20.09.2016. Zwischen ihren Taten und der Justiziabilität derselben lagen also etwa 70 Jahre, in denen Irmgard F. nicht angeklagt werden konnte. Man hätte es wohl auch heute besser bleiben lassen.

Angesichts des Alters der Angeklagten, in Kombination mit der Tatsache, daß sie persönlich wohl niemanden umgebracht hat, sondern den massenhaften Mord als junge Schreibkraft „nur“ gehorsam „mitverwaltet“ hatte, und daß sie siebzig Jahre lang dafür nicht hatte belangt werden können, liegt es auf der Hand, daß es keine irdische Gerechtigkeit mehr gibt, die man hier walten lassen könnte. Rechthaberei ist das einzige, was überhaupt noch stattfinden kann – und die wiederum hat die Größe nicht, welche der Umgang mit den gräßlichen Verbrechen von damals verlangt.

Die Anklage läuft nach dem Jugendstrafrecht, weil die 96-jährige Irmgard F. zum Zeitpunkt ihrer vor fünf Jahren justiziabel gewordenen Tatbegehung noch keine zwanzig Jahre alt gewesen ist. Worum kann es also heute noch gehen? Da bleibt nicht mehr viel, außer eben Rechthaberei und moralischer Selbstüberhöhung. Mit der allerdings wird man wohl niemandem mehr gerecht, weder den Opfern von damals, noch der Angeklagten.

Welches Gewissen?

Es gibt keine denkbare Strafe, mit der sich eine 96-Jährige belegen ließe, um die Ungeheuerlichkeit eines Zivilisationsbruchs zu sühnen, der bald achtzig Jahre zurückliegt und im speziellen Fall auch 70 Jahre lang nicht justiziabel gewesen war. „Bessern“ wird sich die Angeklagte auch nicht mehr. Dazu fehlt ihr die übriggebliebene Lebenserwartung. Die Anklage formuliert nur noch einen realitätsfremden Anspruch. Weise wäre es gewesen, sich einzugestehen, daß es das Leben selbst ist, welches der Möglichkeit, Gerechtigkeit walten zu lassen, natürliche Grenzen setzt.

Das internationale Auschwitz-Komitee wirft der 96-Jährigen „Verachtung“ vor, weil sie am Donerstag nicht zum Prozesstermin erschienen war. Außerdem begrüßt es den Prozess gegen Irmgard F.. Da geht es offensichtlich nicht mehr um Gerechtigkeit für irgendwen, sondern nur noch um ewige Rache als Prinzip. Die 96-jährige Irmgard F. ist nicht zu verteidigen für das, was sie als 18-Jährige getan hat, aber anzuklagen ist sie dafür im Jahr 2021 eben auch nicht mehr. Sich damit abzufinden, daß in diesem Fall keine irdische Gerechtigkeit mehr möglich ist, – das wäre es gewesen. Der Prozess ist einfach maßlos. Maßlose Rechthaberei war es aber, völlige Verkommenheit, die dem verabscheuungswürdigen Treiben der schwerstkriminellen Herrscher über Leben und Tod damals zugrunde lag. Menschliche Größe hätte damals anders ausgesehen und sie sähe auch heute anders aus.

Man weiß nicht genau, was es ist: Ein Nichtloslassenkönnen oder ein Nichtloslassenwollen? Auf jeden Fall ist der menschliche Gerechtigskeitswahn bisweilen deprimierend. Daß man nicht sprichwörtlich auf Teufel komm raus schon auf Erden Gerechtigkeit walten lassen muß, wenn es die Verhältnismäßigkeit einfach nicht hergibt, weil dem Jüngsten Gericht ohnehin niemand entgeht, sorgte früher für eine Gelassenheit, die heute offenbar fehlt. Ein Gewinn ist das keinesfalls, eine überflüssige Selbstbeschädigung schon eher. Das atmet den Ungeist amerikanischer Gerichte, die durchaus jemanden zu dreimal lebenslänglich plus 8 Jahre und 4 Monaten verknacken, als ob so etwas „gerecht“ sein könnte. Selbstgerecht ist es. Das ist alles.

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