Horst D. Deckert

Scott Ritter: Russland wirft den nuklearen Fehdehandschuh hin

Wladimir Putin präzisiert die russische Nukleardoktrin

 

Von SCOTT RITTER | Bei einem Auftritt anlässlich der Plenarsitzung des Valdai-Diskussionsklubs am 5. Oktober 2023 gab der russische Präsident Wladimir Putin bekannt, dass Russland den «nuklear getriebenen Marschflugkörper mit globaler Reichweite» Burevestnik erfolgreich getestet habe.

Damit wurde ein Vorhaben verwirklicht, das Putin bereits in einer Rede am 1. März 2018 angekündigte und eine Reihe neuer russischer strategischer Waffen vorstellte, die in Reaktion auf die fortgesetzten Aufkündigungen der USA von Rüstungskontrollvereinbarungen zur Raketenabwehr erfolgt waren.

In seiner Rede von 2008 erläuterte Putin die Bemühungen, die Russland im Laufe der Jahre unternommen hätte, um die USA dazu zu bewegen, die Raketenabwehrprogramme, die Russland als existenzielle Bedrohung für sein Überleben erachtete, zurückzufahren. „Damals haben Sie unserem Land nicht zugehört“, schloss Putin. „Hören Sie uns jetzt zu.“

Die Hauptsorge von Russland war die unablässige Bestrebung der USA nach Raketenabwehrkapazitäten in Verbindung mit einer amerikanischen Position in Nuklearfragen, welche die Möglichkeit eines präventiven Atomkriegs einschloss und Voraussetzungen schaffen könnte, US-Nuklearkriegsplaner zu verleiten einen amerikanischer Erstschlag zur Neutralisierung der strategischen Nuklearkapazität Russlands für durchführbar zu halten – in Kombination mit einem US-Raketenabwehrschild, das die meisten, wenn nicht alle russischen Raketen, die einen Erstangriff überstanden hätten, vermeintlich abschießen sollte.

Im Publikum des Valdai-Diskussionsklubs saß Sergej Karaganow, ein bekannter russischer Politologe, der sich in einem Artikel mit dem Titel „Eine schwierige, aber notwendige Entscheidung“, der am 13. Juni 2023 in der Zeitschrift «Russia in Global Affairs» veröffentlicht wurde, dafür aussprach, dass Russland von einer nuklearen Haltung, die auf gesicherter nuklearer Vergeltung beruhe, sich zu einer Haltung, die auf Präventivmaßnahmen basiere, durchringen solle. „Wir müssen die nukleare Abschreckung wieder zu einem überzeugenden Argument machen“, schrieb Karaganow, „indem wir die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen unannehmbar hoch ansetzen und die Abschreckungs-Eskalationsleiter schnell, aber umsichtig nach oben schieben.“

«Wenn wir eine Strategie der Einschüchterung und Abschreckung und sogar des Einsatzes von Atomwaffen richtig aufbauen», so Karaganow, «könnte das Risiko eines nuklearen oder sonstigen „Vergeltungsschlags“ auf unser Territorium auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Nur ein Verrückter», so Karaganow, «der vor allem Amerika hasste, würde den Mut aufbringen, zur ‚Verteidigung‘ der Europäer zurückzuschlagen und damit sein eigenes Land aufs Spiel zu setzen und ein «konditionelles Boston» für ein «konditionelles Posen» zu opfern.»

Schwere russische Interkontinentalrakete «Sarmat» beim Start | Quelle: Creative Commons 4.0 International license – Atribution: Mil.ru

«Wenn es einen solchen Verrückten tatsächlich gäbe, dann,» so Karaganow, «müssten wir eine Reihe von Zielen in einer Reihe von Ländern angreifen, um diejenigen, die den Verstand verloren hätten, zur Vernunft zu bringen. Moralisch gesehen wäre dies eine schreckliche Entscheidung, da wir Gottes Waffe einsetzten und uns damit selbst zu schweren spirituellen Einbußen verdammten. Aber wenn wir das nicht tun, könnte nicht nur Russland untergehen, sondern höchstwahrscheinlich die gesamte menschliche Zivilisation aufhören zu existieren.»

Präsident Putin machte von seinem Vorrecht Gebrauch, das ihm aufgrund seiner Position zusteht und forderte Karaganow auf, eine Frage zu stellen. Dies geschah nicht zufällig angesichts des Aufschreis nach der Veröffentlichung von Karaganows Artikel, der zu zahlreichen Spekulationen führte, ob Putin eine nukleare Haltung in der von Karaganow vorgeschlagenen Richtung in Betracht ziehe. Der russische Akademiker enttäuschte nicht, als er den russischen Präsidenten fragte, ob es nicht an der Zeit sei, dass Russland seinen Ansatz in Bezug auf Atomwaffen ändere und seine Abschreckungsstärke in den Augen der westlichen Eliten wiederherstellte, die immer wieder behaupteten, Russland wäre schwach.

Russischer Marschflugkörper «Burevestnik» beim Start |
Quelle: Screenshot – CC BY 4.0 – Attribution: Mil.ru

Das war eine Falle. «Ich habe Ihren Artikel gelesen», antwortete Putin, bevor er eine ausführliche Antwort gab, die allen Zuhörern deutlich machte, dass der russische Präsident mit Karaganows These nicht einverstanden war. «Von dem Moment an, in dem der Start von Raketen entdeckt worden wären», sagte Putin, «egal auf welchem Punkt der Weltmeere oder einem beliebigen Territorium – erschienen eine solche Anzahl – so viele Hunderte von unseren Raketen in der Luft – zu einem Vergeltungsschlag und das in mehrere Richtungen gleichzeitig, dass es keine Überlebenschance gäbe, sodass kein einziger Feind mehr übrig bliebe.» Putin mahnte Amerika, zu verstehen, dass jegliche Drohung gegen Russland „für jeden potenziellen Aggressor absolut inakzeptabel“ ausfallen müsste.

Kurz gesagt, Präsident Putin belebte neu die aus der Zeit des Kalten Krieges stammende nukleare Position der gegenseitig gesicherten Zerstörung [Mutually Assured Destruction – MAD] als Russlands bevorzugte Nukleardoktrin.

Russischer Nuklear-Torpedo «Poseidon» | Quelle: Screenshots – Russian DoD, CC BY 4.0

Darüber hinaus, so Putin, würde Russland einen Nuklearangriff gegen jedes Land oder alle Länder starten, die seinen Fortbestand als souveränen Staat bedrohten, unabhängig davon, ob die Bedrohung durch Atomwaffen oder konventionelle Waffen erfolgte. Da es heute keine solche existenzielle Bedrohung für Russland gebe, so der russische Präsident, existiere kein Grund, mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen.

Allerdings, so Putin, gebe es einen Aspekt der russischen Nuklearpolitik, der geändert werden könnte und sollte: Die Ratifizierung des Atomtest-Stopp-Vertrags durch Russland. Die Vereinigten Staaten, so Putin, hätten den Vertrag zwar unterzeichnet, aber nie ratifiziert. Angesichts der Modernisierung des russischen Atomwaffenarsenals, zu dem neben dem Marschflugkörper Burevestnik auch die schwere Interkontinentalrakete Sarmat, der Nuklear-Torpedo Poseidon und Hyperschallträgersysteme gehörten, forderten viele im russischen Militär, dass Russland die Atomtests wiederaufnehme, um sicher zu gehen, dass die neuen hochmodernen strategischen Waffensysteme, die das Herzstück der russischen strategischen Atomstreitkräfte ausmachten, wie vorgesehen funktionierten.

Putin wies darauf hin, dass genau diese Frage in den Vereinigten Staaten von deren Militärs erörtert worden sei, die de jure nicht durch einen Vertrag gebunden wären, der nicht ratifiziert worden und somit nie in Kraft getreten sei.

Die große Neuigkeit des Valdai-Diskussionsclubs ist also nicht eine neue russische Position zur Raketen- oder Nuklearfrage. Die große Neuigkeit ist, dass der russische Präsident der Duma einen Gesetzentwurf vorlegen wird, der die Ratifizierung des Teststoppvertrags durch Russland rückgängig machen würde. Russland wird nicht das erste Land sein, das wieder Atomwaffentests durchführen werde. Aber sollten die Vereinigten Staaten diesen Weg einschlagen, würde Russland sofort nachziehen. Wichtig dabei ist, dass jegliche US-Tests dafür zählten, sei es für alte Atomwaffen, die dringend zu ersetzen oder für künftige Atomwaffen, die erst noch zu entwickeln und einzusetzen wären.

Spiel, Satz und Sieg – Russland!

Russland hat, wie Putin betonte, seine Atomwaffen bereits modernisiert. Sollten die Vereinigten Staaten ein nukleares Wettrüsten wieder aufnehmen, indem sie zu Atomtests zurückkehren wollten, würde Russland ein solches Wettrüsten mit einem unüberwindbaren Vorsprung an nuklearen Trägersystemen beginnen.

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Mit freundlicher Genehmigung von Scott Ritter

Übersetzung aus dem Englischen: UNSER-MITTELEUROPA

Der Artikel erschien auf Englisch bei Sputnik: Hier

William Scott Ritter, Jr. ist ein ehemaliger US-amerikanischer Nachrichten Offizier und vormaliger Inspektor der Vereinten Nationen für die UNSCOM-Mission, unter anderem im Irak. Scott Ritter setzte sich mit viel Zivilcourage für eine friedliche Beilegung des Irak-Konfliktes ein. Seine Analysen zum Ukraine Konflikt werden weltweit geschätzt!

 

 

 

Scott Ritter ist Autor, wie z.B. von:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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