Horst D. Deckert

Sergej Lawrow Interview: „Europa identifiziert sich mit Rassismus, Russophobie und Nazismus“

28.6.2023: Sergej Lawrow im Interview mit Channel One, Moskau für die Sendung Great-Game

Frage: Der Präsident der Vereinigten Staaten Joe Biden und Außenminister Antony Blinken haben in ihren Erklärungen gesagt, dass Washington in keiner Weise an der Rebellion vom 24. Juni 2023 beteiligt war. Sie behaupteten sogar, dass sie sich nicht in die inneren Angelegenheiten unseres Landes einmischen.

Wenn den Vereinigten Staaten etwas, was in der Ukraine geschieht, nicht gefällt, nimmt das Weiße Haus eine ziemlich direkte Position ein, unabhängig davon, was Russland tat, indem es Russland als Aggressor Staat brandmarkt und sagt, dass es ohne Russland keinen Krieg in der Ukraine gäbe und dass Russland die Schuld trage, egal was passiert sei.

Folgt man dieser Logik, so wäre die Situation, in der die Wagner Private Military Company (Private Militärfirma) ihre besondere Rolle einnahm und den Weg zu einer Rebellion einschlug, nicht passiert, wenn die NATO sich nicht so hartnäckig gegen die russische Grenze ausgedehnt oder das Bündnis – in erster Linie die Vereinigten Staaten – nicht diese Rolle in der Ukraine gespielt hätten. Würden Sie zustimmen, dass objektiv gesehen die USA der Auslöser für die Ereignisse der letzten Woche waren?

Sergej Lawrow: Wir haben immer wieder die Behauptung gehört, dass die Vereinigten Staaten in keiner Weise an diesen Entwicklungen beteiligt wären. Aber abgesehen von den öffentlichen Erklärungen wissen wir, wie Washington die Reaktion seiner Beamten orchestriert. Wir haben allen Grund, Berichten Glauben zu schenken, wonach das US-Außenministerium, als alles begann, oder sogar am Tag davor, seine Auslandsvertretungen anwies, sich nicht zu dieser Situation zu äußern, damit niemand behaupten könne, die Vereinigten Staaten seien in irgendeiner Weise daran beteiligt. Nach den uns vorliegenden Informationen, und ich neige dazu, diesen Berichten zu vertrauen, erhielt Kiew zur gleichen Zeit auch Anweisungen, in denen die Ukrainer davor gewarnt wurden, die Gelegenheit auszunutzen, um Sabotageakte auf russischem Territorium oder andere Provokationen zu verüben. Ich kann die Richtigkeit dieser Berichte nicht mit 100 Prozent bestätigen, aber sie scheinen recht vertrauenswürdig und plausibel zu sein.

Der Koordinator für strategische Kommunikation im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses, John Kirby, hat erklärt, dass sich die Vereinigten Staaten nicht in die inneren Angelegenheiten Russlands einmischten und nicht beabsichtigten, einen Regimewechsel in unserem Land herbeizuführen. Aber wenn man die Erfolgsbilanz der Vereinigten Staaten in Bezug auf Regimewechsel kennt, klingt diese Aussage im Vergleich zu anderen Ländern und Gebieten hohl, zu denen die Vereinigten Staaten keine derartigen Erklärungen abgegeben haben. Noch vor ein paar Jahren waren amerikanische Stiftungen und NRO [Nicht-Regierungsorganisationen] in Russland tätig. Was haben sie hier getan? Sie haben sich große Mühe gegeben, die Opposition zu umwerben und zu schulen. Ich glaube nicht, dass wir in diesem Punkt ins Detail gehen müssen. Hier wird offensichtlich ein doppeltes Spiel getrieben.

Ich würde den Kern Ihrer Frage auf das Phänomen der so genannten Annullierungskultur [Cancel-Culture] beziehen. Die Vereinigten Staaten und der Westen im Allgemeinen haben eine Begabung dafür, alles zu annullieren, was nicht ihren Interessen entspricht. In diesem Fall ist dies nur ein weiteres Beispiel für die Art und Weise, wie sie Zeitgeschichte ausblenden, insbesondere wenn es um Phasen geht, die zu Konflikten oder Krisen führten. Die NATO-Erweiterung ist ein Prozess – sie hat die Saat gelegt, die eine solch hässliche Ernte hervorgebracht hat.

Was die jüngere Geschichte betrifft, so sind viele Dinge erst durch den Staatsstreich in der Ukraine entstanden. Präsident Wladimir Putin sagte bei vielen Gelegenheiten, dass wir nicht die Absicht gehabt hätten, eine Bewegung auf der Krim zu unterstützen, die auf eine Wiedervereinigung mit Russland unter einem legitimen und rechtmäßig gewählten Präsidenten [in der Ukraine] abzielte. Nach dem Staatsstreich haben die von den Amerikanern gezüchteten Oppositionsführer eine mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch unterzeichnete Vereinbarung über eine friedliche Beilegung der Krise und die Abhaltung vorgezogener Wahlen aufgekündigt. Am Tag des Staatsstreichs kündigten sie als Erstes an, dass sie den Status der russischen Sprache für nichtig erklären wollten. Dmitri Jarosch forderte die Ausweisung der Russen von der Krim. Sogenannte „Freundschaftszüge“ mit Schlägern wurden auf die Halbinsel geschickt, um den Obersten Rat der Krim zu stürmen. Das war ein starkes Signal, auch für unsere Gesellschaft, die seit jeher besondere Gefühle für die anderen slawischen Völker, insbesondere die Ukrainer und Weißrussen, hegt.

Die Vereinbarung wurde trotz der von Frankreich, Deutschland und Polen im Februar 2014 gegebenen Garantien gebrochen. Niemand rührte auch nur einen Finger, um die Opposition zu zwingen, die in der Nacht zuvor eingegangene Verpflichtung umzusetzen. Später wurden die unglückseligen Minsker Vereinbarungen ebenfalls gebrochen, allerdings auf viel dramatischere Weise. Die Unterzeichner des Minsker Abkommens (mit Ausnahme von Präsident Putin) haben zugegeben, dass sie nie die Absicht gehabt hätten, das Abkommen zu erfüllen, doch nur mehr Zeit benötigt hätten, um die Ukraine mit Waffen hochzurüsten, um sie gegen Russland einzusetzen. Das ist ein umfassendes Geständnis. Es wurde offen und am helllichten Tag gemacht. Wären die Minsker Vereinbarungen umgesetzt worden, hätte es keine Notwendigkeit für die militärische Sonderoperation gegeben. Das ist eine Tatsache.

Russland die Schuld in die Schuhe zu schieben und es einer „unprovozierten“ Aggression zu bezichtigen, ist ein Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen und die Schuld jemand anderem in die Schuhe zu schieben. Das ist für jeden offensichtlich, genau wie die skrupellosen Methoden westlicher Propaganda.

Frage: Sie haben die Formulierung unprovozierte Aggression“ erwähnt, die von der US-Regierung verwendet wird. Wahrscheinlich wichtig für die Interpretation der Ereignisse, wie sie die USA verbreiten möchten. Das Weiße Haus und Präsident Joe Biden persönlich hätten sich über die Folgen der NATO-Erweiterung im Klaren sein müssen. Warum verhält sich die US-Regierung so?

Die Memoiren von William Burns enthalten die Telegramme, die er an seine Vorgesetzten im Außenministerium schickte: Sie waren explizit und drastisch, denn er sah die sehr ernsten Folgen der NATO-Erweiterung voraus. Botschafter Burns war kein Aussenstehender, sondern Teil des Systems, der allen passte. Nach seiner Amtszeit in Moskau wurde er zum Unterstaatssekretär für politische Angelegenheiten ernannt und später zum stellvertretenden Außenminister befördert. Derzeit ist er Direktor der CIA. Er hat seine Warnungen bekannt gemacht.  Warum wurden sie nicht beachtet? Warum verhalten sich die Regierung Biden und die Mehrheit des Kongresses so?

Sergej Lawrow: William Burns verhält sich so, wie es all jene, die aus der Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst zurückgekehrt waren. Sie handeln genau gegenteilig im Vergleich zu ihren Einschätzungen, die sie zuvor noch abgegeben hatten.

Wir hören und sehen, was die Amerikaner und andere NATO-Mitglieder tun und sagen. Es gibt neue Doktrinen, die auf dem Madrider NATO-Gipfel vor einem Jahr verabschiedet wurden. Nach denen wird China als strategischer Gegner und Herausforderung und Russland als unmittelbare Bedrohung der Gegenwart eingestuft. Ich verlasse mich auf die Einschätzungen vieler meiner Freunde, die die Entwicklung der US-Position generell und das Vorgehen des Westens genau verfolgen. Die Logik, die sie hinter den Aktionen der USA erkennen (aus der Sicht derjenigen, die die entsprechende Politik genehmigen und umsetzen, muss es eine gewisse Logik geben), ist folgende: Wir müssen den Aufrührer – Russland – beseitigen, der es gewagt hat, aus der Reihe zu tanzen.

Frage: Es geht also nicht nur um Russland, sondern auch um die internationale Ordnung?

Sergej Lawrow: Vor allem würde sich der Westen ganz sicher auch gegen jedes andere Land wenden, wenn es seine nationalen Interessen genauso entschlossen und entschieden verteidigen würde. Ihr Kalkül ist, dass diese Bedrohung zwar „taktisch“ wäre, aber langfristige und existenzielle Folgen in sich berge, und falls Russland gewönne (so sehen sie es), die Bedrohung inakzeptabel sei. Daher das Mantra und die Wichtigkeit, Russland „auf dem Schlachtfeld“ eine „strategische Niederlage“ zuzufügen. Meine Kollegen fügen hinzu, dass dies auch wichtig sei, um China eine Lektion zu erteilen. Wenn man die Sache aus dieser Perspektive betrachtet, wird die Logik des Westens, die dieser nicht einmal verheimlicht, deutlich: Sie laufen herum und erzählen jedem, der es hören will, dass es ihr Ziel sei, die „regelbasierte Ordnung“ intakt zu halten. Was sind das für „Regeln“? Beispiele gibt es zuhauf, je nach der Situation, die den Vereinigten Staaten gerade passt.

Frage: Hat Ihnen jemand die Liste dieser „Regeln“ zukommen lassen?

Sergej Lawrow: Nein. Niemand hat sie je gesandt.

Sie erklärten, im Kosovo wäre kein Referendum nötig gewesen, worauf der Kosovo seine Unabhängigkeit erklärte – das wäre alles, was dieser zu tun hatte. Auf der Krim gab es zwar ein Referendum, aber das hätte nichts zu bedeuten. Im Kosovo gilt der Grundsatz der Selbstbestimmung, während auf der Krim der Grundsatz der territorialen Integrität gelte. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass die UNO vorschreibt, dass die territoriale Integrität aller Staaten, deren Regierungen die Gesamtheit der in einem bestimmten Gebiet lebenden Menschen vertrete, zu respektieren sei. Welche Regierung in Kiew hat in den vergangenen acht Jahren die Interessen der Krim, des Donbass und des Südostens der Ukraine vertreten? Ich habe kaum Zweifel, dass diese Logik tief verwurzelt ist.

Frage: Die Logik dahinter ist also, dass der Hegemon immer im Recht ist? Ist das die zugrunde liegende Regel?

Sergej Lawrow: Natürlich. Sie zeigt sich gelegentlich als freudscher Versprecher in ihren Äußerungen. Selbst Josep Borrell, der als Kopf der europäischen Diplomatie gilt, dient in Wirklichkeit den Interessen der Vereinigten Staaten in Europa. Unter seiner Ägide ist die EU zum gehorsamen Gefolgsmann Washingtons geworden. Erinnern Sie sich an seinen Ausspruch, Europa sei ein schöner und blühender „Garten“ und alles um ihn herum sei ein „Dschungel“? Ich hoffe, er hat nicht die Vereinigten Staaten gemeint, denn die Vereinigten Staaten sind nicht Europa. Aber der Punkt ist, dass sich niemand traut, ihnen die Stirn zu bieten. Bei der „regelbasierten Ordnung“ geht es darum, dass sie entscheiden, welche Art von Globalisierungssystem es in der Welt gibt, wie die Dienstleistungsmechanismen aussehen und wie Handelsstreitigkeiten beigelegt würden. Doch nachdem der Westen über Nacht alle Grundsätze, die er dem Rest der Welt jahrzehntelang eingetrichtert hatte (freier Markt, fairer und ehrlicher Wettbewerb, Unschuldsvermutung, Unverletzlichkeit des Eigentums usw.), über den Haufen geworfen hat, und als er sich mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, die Russische Föderation zu bestrafen, wurde all dies zu einer Waffe.

Neulich sprach unser Vertreter beim IWF, Alexey Mozhin, auf einer IWF-Tagung in Washington öffentlich über dieses Thema. Seine Äußerungen lösten in den meisten Ländern einen tiefen Denkprozess aus: „Was geschieht, wenn es den Amerikanern morgen nicht mehr passt, was wir täten?“ Zweifellos wird die Reaktion darauf ebenso hart ausfallen. Aber es ist ein gesunder Prozess. Er zerstreut Illusionen und veranlasst jede Nation, die sich selbst achtet, die nach ihren Traditionen leben, ihre Geschichte und ihre Vorfahren respektieren und sich auf ihre nationalen Interessen verlassen will, unserem Beispiel zu folgen und Souveränität in Bereichen zu erlangen, die für das Überleben der Nationen entscheidend sind. Hier geht es nicht um Autarkie. Präsident Putin hat schon oft gesagt, dass wir für eine Zusammenarbeit offen sind. Aber was unsere früheren westlichen Partner betrifft, so können wir uns nicht auf Vereinbarungen mit ihnen verlassen, auch nicht auf rechtliche Vereinbarungen. Das ist die Art von „Kampf der Welten“, in der wir leben.

Frage: Nach Angaben des Weißen Hauses und des Außenministeriums hätten diese am Tag des Aufstandes inmitten dieses „Kampfes der Welten“ eine Position der Nichteinmischung eingenommen. Angeblich hätten sie ihre Position der russischen Führung und dem Außenministerium auf vielen verschiedenen Ebenen mitgeteilt. Wenn dem so ist, warum haben sie so gehandelt, wie sie es taten? Hat Sie das in gewisser Weise beruhigt, oder war es ein taktischer Trick?

Sergej Lawrow: Man kann lange über die Gründe sprechen, warum sie ihre Position der ganzen Welt gegenüber so lautstark kundgetan haben. Ich stimme mit den Analysten überein, die glauben, dass einer der Gründe ihre Sorge darüber war, was mit den Atomwaffen passieren könnte. Nuklearmächte sind in unsicheren Situationen immer besorgt darüber. Ich glaube (doch will keine Behauptungen aufstellen), dass die Amerikaner zu sehr der Idee anhangen, dass sie nichts damit zu tun hätten. Auch die Europäer haben zu ihrer Beteiligung auch nichts durchdringen lassen, aber sie haben sich sehr viel konkreter zu ihrem Anteil an dieser besonderen Situation geäußert.

So sagte Borrell, die wichtigste Schlussfolgerung aus den Ereignissen sei, dass die Ukraine weiterhin mit Waffen beliefert werden müsse. Er sprach von einer Art „Riss“ und davon, dass es wichtig sei, das durchzuziehen. Der französische Präsident Macron sagte, diese Entwicklungen zeigten die Zerbrechlichkeit und Schwäche Russlands und seiner Armee, weshalb die Politik zur Unterstützung der Ukraine die richtige wäre. Sie können dieselbe Denkweise erkennen, die Josep Borrell anwandte. Sie sagten es in den ersten Minuten der Ereignisse. Später gab es keine weiteren Erklärungen dieser Art, aber Berichten zufolge hielt die EU Ad-hoc-Sitzungen ab, um die Situation zu klären.

Es fällt mir schwer, Schlussfolgerungen aus ihren Beweggründen zu ziehen. Tief im Inneren denke ich jedoch, dass sie, wie in dem Fall, den wir zuvor ansprachen, davon besessen sind, die Entstehung einer demokratischen Weltordnung, einer multipolaren Ordnung, zu vereiteln, und dass sie jede Gelegenheit nutzen möchten, um ihre Hegemonie zu behaupten. Sie sehen die Ukraine als ein Instrument, um die Entstehung einer multipolaren Welt zu verhindern, in diesem speziellen Fall, um die Stärkung der Russischen Föderation zu verhindern. Es ist klar, dass diese Pläne zum Scheitern verurteilt sind. Daran habe ich keinen Zweifel. Aber die Tatsache, dass erwachsene Menschen, seriöse Politiker, sich von solchen Ideen leiten lassen, gibt Anlass zur Sorge um das Schicksal der europäischen Zivilisation und der westlichen Zivilisation im Allgemeinen.

Frage: Washington hat eine Menge Beschwerden über Russland. Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Eine davon, die wir in letzter Zeit immer häufiger hörten war, dass Russland die strategische Stabilität untergrabe. Was sagen Sie dazu?

Sergej Lawrow: Ich wird mir nicht schwerfallen, diese Frage zu beantworten. Gehen wir einfach die Fakten durch und sehen wir uns an, wer die Zerstörung der internationalen Verträge initiiert hat, welche die strategische Stabilität gewährleisten, angefangen mit dem ABM-Vertrag, dem INF-Vertrag, dem Vertrag über den Offenen Himmel und natürlich dem START-Vertrag. In der Präambel letzteren Vertrags wurden die grundlegenden, unveräußerlichen Bedingungen festgelegt, die zu seinem Abschluss beitrugen, wie Gleichheit, unteilbare Sicherheit und die Verflechtung der offensiven und defensiven strategischen Waffen. All das wurde über Nacht zunichte gemacht.

Jedes Mal, wenn es passierte, haben wir nicht einfach behauptet, die Amerikaner hätten nur ein weiteres Dokument zerstört. Ganz und gar nicht. Beginnend mit dem ABM-Vertrag haben der russische Präsident Putin und der amerikanische Präsident George W. Bush diese Frage offen und freundschaftlich diskutiert. Wladimir Putin sagte George W. Bush ganz offen, dass wir, wenn sie es täten, gezwungen wären, nachzuziehen, um sicherzustellen, dass das US-Raketenabwehrsystem nicht mehr undurchdringlich sei, und dass es keine andere Möglichkeit gäbe, mit der Situation fertig zu werden, da der russische Präsident ansonsten von seinem eigenen Land und dem Rest der Menschheit für schuldig befunden würde. Der US-Präsident sagte, dass sie keine Feinde oder Gegner [von Russland] wären, und versprach, dass das Raketenabwehrsystem nicht gegen Russland gerichtet würde, sondern nur wegen Nordkorea und dem Iran gebe, und fügte hinzu, dass er die Handlungen Russlands nicht als gegen die Interessen der USA gerichtet sähe. So war es dann auch.

Zum Schlusspunkt kam es im Jahr 2018, als Präsident Putin in seiner Rede vor der Föderalen Versammlung über unsere Reaktion auf die Kündigung des ABM-Vertrags durch die Vereinigten Staaten sprach. Wir haben keine Schritte unternommen, um diesen Vertrag zu ersetzen, sondern solche um sein Fehlen zu kompensieren. Die ehemalige US-Außenministerin und nationale Sicherheitsberaterin des Präsidenten Condoleezza Rice und der amerikanische Geschäftsmann Bill Gates kamen nach Russland. Sie wurden im Kreml von Präsident Putin empfangen. Ich habe an diesem Treffen teilgenommen. Der russische Präsident kam wiederholt auf dieses Thema zurück. Wir haben uns auf einige technische Maßnahmen geeinigt, die die Amerikaner auf ihren (damals geplanten) Stützpunkten in Polen und Rumänien, auf denen Raketenabwehrsysteme stationiert waren, ergreifen sollten. Wir haben diesen Maßnahmen zugestimmt und beschlossen, dass sich dadurch alle mehr oder weniger sicher fühlen würden. Aber die Amerikaner setzten sie nicht um, weil Polen dagegen gewesen wäre.

In Bezug auf den INF-Vertrag hat Präsident Putin auch nach dem Rückzug der Amerikaner gesagt, dass wir ein einseitiges Moratorium zur Stationierung der durch den Vertrag verbotenen bodengestützten Raketen einhalten würden, bis diese Raketenklasse im Westen (vor allem in den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten) auftauchten. Darüber hinaus schlugen wir NATO vor, ein eigenes Moratorium zu beschließen. Parallel dazu haben wir zwei einseitige Rechtshandlungen vorgenommen. Wir schlugen den Amerikanern vor, dass Kaliningrader Gebiet zu besuchen, wo unsere Iskander-Raketen stationiert sind, die der Westen verdächtigte über Entfernungen zu reichen, die nach dem Vertrag verboten sind, und uns im Gegenzug ähnliche Stellungen in Polen und Rumänien besuchen zu lassen. Das haben sie rundweg abgelehnt.

Frage: Wie haben sie ihre Weigerung begründet?

Sergej Lawrow: Das haben sie nicht. Sie sagten, sie würden uns kein Wort glauben, und das war’s. Wir haben ihnen gesagt, sie sollen kommen und sich selbst überzeugen.  Präsident Putin hat eine besondere Botschaft an die NATO-Mitglieder, vor allem an die Vereinigten Staaten, gerichtet.

In Bezug auf den Vertrag über den Offenen Himmel wurden wir beschuldigt, sie nicht hereinzulassen. Tatsache ist, dass wir nach dem Prinzip „wie Du mir, so ich Dir“ handelten. Weite Landstriche in einigen Teilen Europas und Nordamerikas waren für unsere Inspektoren aus verschiedenen Gründen tabu, vor allem wegen technischer und logistischer Tricks, die sich die Amerikaner einfallen ließen. Ich kann also dem Vorwurf, wir hätten das strategische Stabilitätssystem zerstört, nicht zustimmen.

2023: Zerstörter Leopard 2A6 nahe dem Ort Novodanilovka in der Ukraine

Frage: Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und darüber hinaus, wie auf die Situation um die Ukraine herum in Bezug auf die internationale Ordnung, habe ich eine Frage an Sie: Mit wem befindet sich Russland im Krieg? Wenn Sie sich die Ukraine anschauen, dann sind die Bodentruppen ukrainische Truppen, aber die Waffen, die Einrichtungen und die Geheimdienstinformationen (einschließlich derjenigen, die in-time geliefert werden) werden zunehmend vom Westen bereitgestellt. Die Militäroperationen werden von NATO-Generälen und den Generalstabschefs in Washington geplant. Der Westen sorgt für die ukrainischen Militäroperationen und versucht, Russland zu schwächen, indem er es daran hindert, an strategisches Material oder selbst an Material mit beidseitig zivilem und militärischem Verwendungszweck zu gelangen. Kann man vor diesem Hintergrund mit Fug und Recht behaupten, dass der Westen durch seine Unterstützung der Ukraine als deren Sponsor auftrete? Oder sollten wir den Tatsachen ins Auge sehen und einräumen, dass sich Russland im Krieg mit der NATO und dem gesamten Westen befände? Geht es hier um die Konfrontation Russlands mit, wie Sie vorhin sagten, der goldenen Milliarde, die sich in einen Kreuzritterorden verwandelt zu haben scheint?

Sergej Lawrow: Zweifelsohne ist der Westen der Sponsor der Ukraine. Allerdings ist die Ukraine der Sponsor des Westens in einer anderen Bedeutung des Wortes. Sie ist ein Werkzeug des Krieges gegen uns. Dies ist nicht das erste Mal, dass wir die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machten. Bei seiner Einschätzung der Lage am 24. Juni sagte Präsident Putin, dass wir es mit der wirtschaftlichen, militärischen und medialen Maschinerie des Westens zu tun haben, und das ist die Realität.

Sie haben Beispiele angeführt, die zeigen, dass dieser Krieg ohne den Westen schon längst vorbei wäre und die Ziele der militärischen Sonderoperation längst erreicht worden wären. Um den Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, zu zitieren, der kürzlich offen und sogar naiv erklärte, falls jemand den Krieg beenden wolle, sei das ganz einfach: Man müsse nur aufhören, die Ukraine mit Waffen zu beliefern, und in zwei Wochen oder sogar noch früher wäre alles vorbei. Aber wollen sie denn, dass der Krieg so endet? Herr Borrel sagte, man könne es sich nicht leisten, die Ukraine verlieren zu lassen: Die Russen müssten besiegt werden.

Das war ein Geständnis. Jeder Militäranalytiker wird bestätigen, dass dies der Fall ist: Der Westen führt einen Krieg gegen die Russische Föderation.

Es gibt noch viele andere Beispiele, unter anderem den Status der ausländischen Staatsangehörigen in der Ukraine. Manche bezeichnen sie als Söldner. Es gibt Grund zu der Annahme, dass eine Reihe von Ländern ihr Militärpersonal unter dem Deckmantel von Söldnern dorthin entsandt haben. Ausbilder, bei denen es sich per definitionem um reguläres Militärpersonal handelt, sind in der Ukraine tätig, wenn auch nicht an der Kontaktlinie, wie es scheint. Aber eine große Anzahl von Spezialisten und Ausbildern ist dort im Einsatz. Ich erinnere mich, wie während des Maidan (der 2013 begann und in einem Staatsstreich mündete) Vertreter der CIA und anderer US-Spezialdienste eine ganze Etage im Gebäude des Sicherheitsdienstes der Ukraine besetzt hatten. Daran kann es keinen Zweifel geben. Alles, was sie als Mantra von sich geben (NATO-Generalsekretär Stoltenberg sagt oft, die NATO befände sich nicht im Krieg gegen die Russische Föderation), klingt lächerlich und erbärmlich. Um es ganz milde auszudrücken: Erwachsene Menschen lügen geradeheraus. Aber das macht es umso wichtiger, das Recht zu verteidigen.

Ich habe die von Präsident Putin festgelegten Ziele der militärischen Sonderoperation erwähnt. Neben der Entmilitarisierung geht es auch um die Entnazifizierung der Ukraine. In der Ukraine führen wir Krieg gegen den Westen und gegen den Nazismus, der in diesem Land wiederaufgetaucht ist und von unseren westlichen Kollegen gründlich kultiviert wird.

Nehmen Sie zum Beispiel die Art und Weise, wie sie die Gespräche führen. Jedes Mal, wenn dieses Thema aufkommt, sagen sie, dass es nur eine Grundlage für die Gespräche gäbe, nämlich die Selenskyj-Formel (10 Punkte). In letzter Zeit versucht der Westen mit allen Mitteln, die führenden Entwicklungsländer des globalen Südens zur Unterstützung dieser Formel zu bewegen. Vor kurzem fand in Kopenhagen ein Treffen statt. Es sollte eigentlich im Geheimen stattfinden, aber die Informationen drangen trotzdem nach außen. Wir haben unsere Kollegen, die daran teilnahmen, gefragt, was der Westen und die Ukrainer mit der Einladung der führenden Länder der globalen Mehrheit erreichen wollten.

Die Position des Westens ist die einzige Grundlage für die Selenskyj-Formel. Der ukrainische Präsident und seine Regierung sagen, dass es überhaupt keine andere Grundlage geben kann. Wenn man die Zusätze wie Umwelt‑, Lebensmittel- und Nuklearsicherheit weglässt, geht es darum, dass Russland sich aus allen Gebieten bis zu den Grenzen von 1991 zurückziehe, dass die russische Führung vor ein spezielles (oder bereits bestehendes) Tribunal gestellt würde, dass unser Land Reparationen zu zahlen hätte und dass nur danach ein Friedensvertrag geschlossen würde.

Der Westen sagt, dass dies der einzige Ausweg aus der bestehenden Situation sei. In diesem Krieg hält die Ukraine die Werte der europäischen und westlichen Zivilisation hoch. Josep Borrell, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und andere westliche Politiker haben dies zu ihrem Prinzip erhoben.

Niemand zweifelt daran, dass die Ukraine von einem Nazi-Regime regiert wird. Ich werde mich selbst und Ihre Zuschauer nicht mit Beispielen behelligen. Sie sind wohlbekannt. Es handelt sich um ein rassistisches Regime, weil die russische Sprache überall in der Ukraine verboten ist, und jeder, der es wagt, gegen das Gesetz zu verstoßen, das besagt, dass Ukrainisch die einzige Sprache sei, die gesprochen werden darf, mit physischer Gewalt bestraft werden kann. Das bedeutet, dass Europa sich mit Rassismus, Russophobie und Nazismus identifiziert, weil es behauptet, das Kiewer Regime fördere europäische Werte. Da dies der Fall ist, bleibt uns keine andere Wahl, als ein Wiederaufleben des Nazismus direkt an unseren Grenzen zu verhindern.

Frage: Wenn ich den Standpunkt von Wladimir Selenskyj richtig verstanden habe, sind die von Ihnen genannten Bedingungen nur für die Aufnahme von Gesprächen notwendig, nicht für die Unterzeichnung eines Abkommens. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, können Gespräche erst nach der Kapitulation Russlands geführt werden. Aber mit wem sollte er denn reden?

Sergej Lawrow: Das ist genau das, was ich dazu gesagt habe. Zu den Vorbedingungen gehörten der Rückzug Russlands bis zur Grenze von 1991, Strafverfolgung und Reparationen, danach wäre man zu Gesprächen bereit.

Frage: Können Sie eine seriöse Macht nennen, die solche Bedingungen akzeptieren könne, falls sie nicht auf dem Schlachtfeld besiegt worden wäre?

Sergej Lawrow: Das kann ich nicht. Aber es gibt Kräfte, die weithin als seriös gelten, die diese Logik unterstützen. Ich spreche von denen, die ihren Ruf und ihre politische Zukunft auf Wladimir Selenskyj gesetzt haben. Der Westen kann nicht aus der Sackgasse aussteigen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Andererseits haben sie gelernt, ihren Gesichtsverlust als Erfolg zu verkaufen.

Frage: Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten. Gestern erhielt ich einen Anruf von der US-Botschaft in Moskau. Sie fragten mich nach meiner Meinung zu den aktuellen Entwicklungen und wie diese die russische Diplomatie beeinflussen könnten. Offensichtlich hoffte man, oder wollte zumindest wissen, ob sich Russland der Gefahr einer Fortsetzung des Krieges in der Ukraine und der damit verbundenen innenpolitischen Konsequenzen bewusst sei. Sie wollten wissen, ob Russland nach der gescheiterten Rebellion seine Haltung in der Ukraine-Krise ändern und flexibler verhalten würde. Was würden Sie darauf antworten?

Sergej Lawrow: Die Antwort ist von Präsident Wladimir Putin gegeben worden. Er hat in jüngster Zeit mehrere Erklärungen abgegeben, in denen er die Lage eindeutig bewertet und betont hat, dass wir mit unserem Handeln zur Beendigung der Rebellion weder die Ziele der speziellen Militäroperation noch Positionen auf dem Schlachtfeld aufgeben würden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Russland bereit ist, seine Haltung zu revidieren, vor allem wenn man bedenkt, was wir hier besprochen haben: Die ständigen Bemühungen des Westens, direkte Sicherheitsbedrohungen gegen uns zu schaffen und der Ukraine tödliche Waffen mit immer größerer Reichweite zu liefern, sowie Druck und Diskriminierung. Das in der Ukraine proklamierte Ziel ist die Beseitigung alles Russischen in Bezug auf das Volk, die Sprache und die Kultur derjenigen, deren Vorfahren jahrhundertelang dort lebten, die diese Gebiete entwickelten, die Städte bauten und denen in der Ukraine Denkmäler errichtet wurden. Sie werden jetzt abgebaut und durch die Statuen von Stepan Bandera, Roman Schuchewitsch und anderen Nazi-Komplizen ersetzt. Wir dürfen auf keinen Fall unsere Ziele aufgeben.

Was die Ratschläge betrifft, um die Sie gebeten wurden, um die russische Diplomatie zu beeinflussen…

Frage: Es ging mehr um meine Sichtweise, ob die Möglichkeit bestünde, dass Russland eine flexiblere Position bezöge.

Sergej Lawrow: Das hängt davon ab, was jene meinen. Wenn damit die Kapitulation als Bedingung für die Unterzeichnung eines Friedensabkommens im Stil von Selenskyj gemeint ist, dann ist hier kein Platz für Flexibilität. Wir haben kürzlich Kommentare aus Deutschland und Frankreich gehört. Sie haben ihre Hoffnungen auf einige Friedensmissionen gesetzt. Der brasilianische Präsident Luiz Lula da Silva hat ebenfalls Vorschläge in diese Richtung gemacht, und dasselbe gilt für die afrikanischen und arabischen Gruppen. Darüber hinaus plant Papst Franziskus, seinen Gesandten nach Russland und nach Kiew zu entsenden.

Pict. 7 – 2.7.2023

Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass Russland sich nie geweigert hat, zu verhandeln. Das hat auch Präsident Wladimir Putin vor einem Jahr gesagt. Aber diejenigen, die sich weigern zu verhandeln, und damit meine ich die Ukraine und den gesamten Westen, müssen verstehen, dass es umso schwieriger würde, eine Einigung zu erzielen, je länger sie die Frage einer Friedensregelung verzögerten. Bis vor kurzem haben wir betont, dass wir bereit wären, jeden ernsthaften Vorschlag zu prüfen, und sind nie von unserer Position abgewichen. Aber wir haben keine derartigen Vorschläge erhalten. Im Großen und Ganzen sehen wir nur leeres Gerede über den so genannten Plan von Wladimir Selenskyj und die Initiative, eine Art Friedensgipfel einzuberufen.

Frage: Ohne Russland.

Sergej Lawrow: Ohne die Beteiligung Russlands. Sie haben mehrere Länder der Dritten Welt nach Kopenhagen eingeladen und versucht, sie dazu zu bringen, die Formel von Wladimir Selenskyj zu unterstützen. Ich habe gehört, dass sie dabei einige schmutzige Tricks angewandt haben: Auf begründete Einwände dieser Länder, die in Frage stellten, ob dieser Plan, der, wie Sie völlig zu Recht bemerkten, Kapitulation bedeute, tatsächlich funktionieren könne, wurde ihnen gesagt, dass sie den Plan nicht in seiner Gesamtheit unterstützen müssten. Ihnen wurde gesagt, dass der Plan auch Bestimmungen enthalte, die sich nicht mit dem Krieg befassten, sondern sich auf die Nahrungsmittel‑, Energie- und nukleare Sicherheit in der Welt konzentrierten. Die afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Länder sollten sich also jeweils eine Bestimmung aussuchen und diese unterstützen. Was für ein jesuitischer Ansatz, indem man Bestimmungen herausgreift, die nicht unerhört sind, und erklärt, dass die Nahrungsmittel- und Energiesicherheit gestärkt werden müsse, was eine offensichtliche Wahrheit ist. «Unterschreiben Sie es einfach, und wir kümmern uns darum», sagen sie. Sie können sehen, dass dies ein übles Spiel ist.

Frage: Und sie würden weiter behaupten, dass diese Länder den Selenskyj-Plan in seiner Gesamtheit unterstützt hätten, richtig?

Sergej Lawrow: Natürlich. Sie würden sogar noch weiter gehen und sagen, dass diese Länder sich freiwillig bereit erklärt hätten, bestimmte Bestimmungen dieses Plans zu überwachen.

Was die Frage der Offenheit für einen Dialog angeht, so gab es keine ernsthaften Vorschläge, wie Sie sehen. Nicht ein einziger. Niemand hat ernsthafte Vorschläge gemacht, ich meine niemand im Westen. Die Afrikaner haben um ein Treffen gebeten, und wir haben sie sofort empfangen. Jetzt gibt es den Gesandten des Papstes. Wir haben auch mit unseren brasilianischen Freunden gesprochen, die die Vertreter von Präsident Lula da Silva hierherschickten.

Seit vielen Monaten haben der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron Drohungen ausgestossen und versprochen, Wladimir Putin anzurufen. Sie haben es so oft gesagt. Wenn man jemanden anrufen möchte, dann tut man es einfach. Warum darüber reden? Mit dieser Megaphon-Diplomatie wollen Sie vor allem Ihr Image bei Ihren Wählern aufpolieren und zeigen, dass Sie eine prinzipientreue Haltung einnähmen und allen zeigen wollen, wie sie zu leben hätten. Der französische Präsident hat kürzlich gesagt, dass er keinen Grund sehe, Präsident Putin anzurufen, aber wenn Putin ein Telefongespräch führen wollte, er den Anruf entgegennehmen würde.

Vergleichen Sie alle öffentlichen Erklärungen westlicher Politiker bezüglich Kontakten mit Wladimir Putin und Sie werden sehen, dass sie unseren Respekt nicht verdienen. Wenn Sie an Gesprächen interessiert wären, dann würde der russische Präsident nie einen Kontakt ablehnen.

Frage: Wären Sie bereit, mit Ihren westlichen Amtskollegen zu sprechen?

Sergej Lawrow: Natürlich wäre ich das. Jedes Mal, wenn US-Außenminister Antony Blinken um ein Gespräch bat, was in den letzten achtzehn Monaten zweimal der Fall war, habe ich nie abgelehnt. Einmal habe ich den Hörer abgenommen und das andere Mal hatten wir ein 10-minütiges Gespräch am Rande des G20-Gipfels in Bali. Es gab Ersuchen im Namen des nationalen Sicherheitsberaters der USA, Jake Sullivan. Es gibt auch Kontakte im Zusammenhang mit dem Betrieb unserer Botschaften, einschließlich der russischen Botschaft in den USA und der US-Botschaft in Russland. Wir versuchen, das Chaos zu beseitigen, das die Obama-Regierung angerichtet hat. Sie knallten die Tür zu, indem sie Dutzende russischer Diplomaten nur drei Wochen vor Donald Trumps Amtseinführung auswiesen. Anschließend wurden fünf Immobilien beschlagnahmt und so weiter. Das war der Anfang von allem. Wir sind bereit, uns auf Kontakte einzulassen.

Was die Frage angeht, wie lange Russland das aushalten könne, was die amerikanischen Diplomaten offenbar Sie fragten, so folgt das der gleichen Logik wie ihre Erklärungen zur Unterstützung der Ukraine «so lange es nötig» sei, ohne die Frage zu beantworten, auf was sie aus wären. Wenn sie den Militäreinsatz beenden wollen, wie es die Vereinigten Staaten in Afghanistan oder im Irak getan haben, ist das eine Sache. Wenn die Amerikaner aber wollten, dass der Feldzug die Vernichtung der ukrainischen Armee nach sich zöge, dann ist das eine andere Sache. Sie haben sich schnell aus Afghanistan und dem Irak zurückgezogen, als sie dort in die Klemme steckten, und das war’s. Für sie geht es hier nicht um die Ukraine.

Frage: Hatte Russland in letzter Zeit irgendwelche Kontakte mit westlichen Ländern, die keine Aufmerksamkeit erregten?

Sergej Lawrow: Nein, es gab keine Kontakte dieser Art. Ich glaube, sie haben ein Verbot über solche Kontakte verhängt.

Ich habe zum Beispiel die Ministerwoche der UN-Generalversammlung im September 2022 besucht. Wie üblich gab es viele Anfragen für Treffen. Wir haben auf alle diese Anfragen positiv reagiert. Zu den Antragstellern gehörte auch der damalige Präsident Zyperns, Nicos Anastasiades. Er und ich sind alte Bekannte. Jedes Mal, wenn er zu Beginn der Generalversammlung nach New York kam, gab es Treffen, an denen die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, Herr Anastasiades und der UN-Generalsekretär teilnahmen. Die Teilnehmer versuchten, weitere Schritte auszuarbeiten, die der Zypernregelung Schub geben und helfen könnten, aus der Sackgasse herauszukommen, in der sie sich heute befinden.

Wir bestätigten das Treffen mit dem zyprischen Präsidenten in New York im September 2022. Später entschuldigte sich jedoch jemand bei uns und sagte, die EU habe ihm nicht zu einem Treffen mit mir geraten. Es gab zwei weitere Anfragen von europäischen Ministern (ich möchte sie nicht nennen). Auch sie verschwanden von der Bildfläche. Ich glaube, es gibt dort eine Art Verbot: ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts…

Doch ja, ich hatte mehrere Treffen und Telefongespräche mit dem ungarischen Außenminister.

Frage: Derjenige, der kürzlich am Forum in St. Petersburg teilgenommen hat?

Sergej Lawrow: Er kam schon vorher zu Gesprächen mit mir als Ko-Vorsitzender der russisch-ungarischen Regierungskommission für wirtschaftliche Zusammenarbeit nach Russland. Aber das war eine Ausnahme.

Frage: Sie sagten „ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach links“ im Zusammenhang mit dem Druck, der auf unabhängige Länder, einschließlich Indien, Brasilien und China, hinsichtlich einer friedlichen Lösung in der Ukraine ausgeübt würde. Mir scheint jedoch, dass es noch eine weitere Front des politischen Kampfes gibt, bei der diese und andere Länder, einschließlich Türkei, unter Druck gesetzt werden. Sie drängen auf eine stärkere Unterstützung einseitiger US-Sanktionen und wollen, dass andere Länder die Lieferung von Gütern mit beidseitig zivilem – und militärischem Verwendungszweck an Russland einstellten, ganz zu schweigen von militärischer Ausrüstung. Was kann in dieser Welt nicht als doppelverwendungsfähig angesehen werden?

Sergej Lawrow: Wir haben es mit den „Regeln“ zu tun, die der Westen erfindet, doch für jedermann unerklärt lässt.

Es gab viel Lärm, als der russische Präsident Wladimir Putin und der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko eine Vereinbarung über die Einlagerung einer bestimmten Menge taktischer Atomwaffen in Weißrussland bekannt gaben und dort nuklearfähige Flugzeuge stationierten. Unsere Gegner behaupteten, dies sei unverantwortlich und unsere „aggressiven“ Schritte trügen nicht zur Normalisierung der Lage bei. Dies ist eine solche „Regel“ von ihnen.

Aber wir verstoßen nicht gegen internationale Verpflichtungen, auch nicht gegen den Atomwaffensperrvertrag, während die Amerikaner und ihre NATO-Partner seit Jahrzehnten Atomwaffen und taktische Luftbomben in fünf NATO-Ländern aufbewahren. Darüber hinaus gibt es in der Allianz ein Projekt, das als Joint Nuclear Operations bekannt ist und in dessen Rahmen Piloten aus nicht-nuklearen Ländern für den Flug von nuklearfähigen Flugzeugen und den Umgang mit Atombomben ausgebildet werden. Dies steht im krassen Widerspruch zum Atomwaffensperrvertrag. Der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, telefonierte mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen, der wie üblich erklärte, er sei besorgt über die „Einmischung“ Russlands in die Angelegenheiten Afrikas, Lateinamerikas und so weiter. Herr Patruschew erwiderte, dass wir absolut transparente Beziehungen zu diesen Ländern unterhielten. Natürlich haben wir eine militärisch-technische Zusammenarbeit aufrechterhalten, die aber nicht gegen internationale Verpflichtungen verstößt.

Aber die Amerikaner selbst sagen fast offen, dass sie anderen Ländern diktierten, was sie zu tun hätten, doch machen keinen Hehl daraus. Der amerikanische Beamte entgegnete, sie brächten die Demokratie, während Russland in Gegenreaktion Totalitarismus bewirke. So viel zu ihrer Philosophie.

Das Gleiche gilt auch hier. Der Westen „darf“ nicht nur Waffen an die Ukraine liefern, er muss sie sogar bis an die Zähne bewaffnen, auch mit immer tödlicheren und effektiveren Waffen wie Panzern, HIMARS-Raketen und Storm Shadow-Raketen. Jetzt wird über die Lieferung von nuklear bewaffneten F‑16-Flugzeugen diskutiert. Die Briten haben bereits Artilleriegranaten mit angereichertem Uran geliefert. Offenbar dürfen sie das, im Gegensatz zu allen anderen Ländern. Niemand habe das Recht, zivil – und militärisch beidseitig verwendbare Güter an Russland zu liefern. Sie haben Recht, als Sie sagten, dass es heute schwer feststellbar wäre, was nicht unter die Kategorie der doppelten Verwendungszwecke falle. Ein Krieg ist im Gange, die Menschen brauchen Kleidung, Lebensmittel und medizinische Versorgung. Aber so sind die Dinge nun einmal. Das ist der Standpunkt unserer westlichen Kollegen.

Durch die Lieferung von Waffen in das Konfliktgebiet verstoßen die EU-Länder jedoch gegen eine Reihe internationaler Vereinbarungen, darunter das OSZE-Dokument über leichte und kleine Waffen, in dem alle aufgefordert sind, keine Waffen in Konfliktgebiete zu liefern.

Innerhalb der EU gibt es ein einschlägiges Rechtsdokument, das ihre Mitglieder auffordert, von solchen Aktionen abzusehen. All dies wird nicht beachtet.

Frage: Wir wissen, welche Art von Druck auf die Länder ausgeübt wird, die mit Russland Handel treiben und sich als seine Partner betrachten. Wie erfolgreich ist diese Druckpolitik? In welcher Weise wirkt sie sich auf China, Indien, Brasilien und die Türkei aus? Kann man sagen, dass Washington mit seiner Politik des Sanktionsdrucks außerhalb des eigenen Blocks erfolgreich ist?

Sergej Lawrow: Washington ist es zusammen mit der EU und den anderen Verbündeten des kollektiven Westens (ich meine die asiatischen Verbündeten der USA), die ihnen auf den Fersen folgen, gelungen, die Prinzipien der Weltwirtschaft, die sie jahrzehntelang gepriesen und gefördert und manchmal sogar allen anderen aufgezwungen haben, bis zu einem absolut unvorstellbaren Ausmass zu opfern (und es wird noch mehr folgen). Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie am Ende ihren eigenen Ruf unterminieren.

Die Länder [des kollektiven Westens] haben bei vielen Gelegenheiten ihre Unfähigkeit zu verhandeln bewiesen. Ich bin überzeugt, dass alle, auch diejenigen, die sich weiterhin der Illusion hingeben, man könne mit ihnen verhandeln und darauf zählen, dass sie ihren Verpflichtungen nachkämen, irgendwann erkennen werden, dass dies nicht der Fall ist. Alles wird an einem bestimmten Punkt einzig und allein von den egoistischen Zielen der Vereinigten Staaten in ihren Beziehungen zu einem bestimmten Land abhängen.

Wie wirksam ist das? Sicherlich hat das Auswirkungen auf die Position einzelner Länder. Es gilt zu bedenken: China zum Beispiel ist stark in die Weltwirtschaft eingebunden, die auf amerikanische Standards zugeschnitten ist. Es hat die amerikanischen Regeln übernommen und Amerika auf seinem eigenen Feld geschlagen. China hat sich zu einer Wirtschaftsmacht entwickelt, die viel stärker und effektiver ist als die der Vereinigten Staaten, die daraufhin begannen, über Einschränkungen gegen China zu sprechen.

Heute lese ich von neuen Sanktionen bezüglich Lieferungen von Computerchips an die Volksrepublik China. Eine ganze Reihe von Sanktionen wurde früher nur deshalb verhängt, weil China wettbewerbsfähiger als seine westlichen Partner geworden war.

Was die Auswirkungen dieser Sanktionen auf unsere Beziehungen zu unseren Partnern aus den Ländern der globalen Mehrheit betrifft, wie die von Ihnen genannten Länder, China, Indien, die Türkei, unsere Partner aus den arabischen Ländern und viele andere, so gehen wir und unsere Partner von unseren nationalen Interessen und von einer Interessenabwägung aus. Wenn sich Länder in ihren Beziehungen zueinander von einem Interessenausgleich leiten lassen, können sie immer Methoden und Mechanismen finden, um einen solchen Ansatz zu realisieren.

Frage: Das letzte Mal war ich im November 2022 in Washington. Aber ich halte mich über die amerikanische Presse auf dem Laufenden und spreche mit Leuten aus der Verwaltung des Weißen Hauses, dem Kongress und anderen Leuten. Die meisten von ihnen sind berechenbar. Sie haben Fragen zum Standpunkt der Regierung. Hätten sie keine Fragen, würden sie wahrscheinlich nicht mit mir sprechen. Es ist eine natürliche Auswahl. Fast alle sagen, die Administration mag einige Dinge überziehen, gelegentlich die Dinge übertreiben oder religiöse Dogmen mit bestimmten Politiken vermischen. Nichts davon sei wirklich wichtig – das Wichtigste sei:

l Präsident Biden stelle klar, dass die Vereinigten Staaten nicht in den Konflikt in der Ukraine verwickelt wären – erstens;

l dass der Präsident keinen nuklearen Dritten Weltkrieg wolle – zwei;

l und dass die Vereinigten Staaten das mächtigste Land der Welt wären – drei.

Wenn die Vereinigten Staaten keinen Krieg wollen, würde es auch keinen geben. Dies ist eine wichtige Aussage im Vorfeld der Wahlen. Wie Sie vielleicht wissen, wird der Wahlkampf in den Vereinigten Staaten im September beginnen. Den Wählern wird gesagt, dass sie in der Ukraine-Frage nicht unbedingt ihrer US-Administration folgen müssten, aber dass es keinen Grund zur Sorge gäbe. Was auch immer die Behörden tun, es bedrohe nicht den Wohlstand der einfachen Amerikaner. Es gefährde nicht ihre Sicherheit. Es wäre kein Krieg. Sie führten ihn voll, doch nur über die ukrainische Seite. Aber warum sollte sich Amerika über eine Menge ukrainischer Särge Sorgen machen, zumal Präsident Selenskyj darüber keinen Schlaf verlöre? Das, was Amerika tue, hätte ein gewaltiges Ausmaß. Es ist nicht immer von so viel Erfolg gekrönt, wie sie es gerne hätten, aber es bedrohe das Land in keiner Weise. Was meinen Sie dazu?

Sergej Lawrow: Das sind vielleicht ziemlich überzeugende Argumente für die Propaganda und die Gehirnwäsche der Basis, vor allem im Hinblick auf „uns sind die ukrainischen Särge egal, solange Selenskyj damit einverstanden scheint“ . Ich denke, das ist ein „gutes“ Argument.

Was ihre Argumentation angeht, dass sie die mächtigste Nation der Welt wären und wenn sie keinen Krieg wollten, es auch keinen geben würde: Welche Erfolge des amerikanischen Interventionismus und der interventionistischen Politik bis zurück nach Vietnam gibt es in den letzten Jahrzehnten? Es hat keine Erfolge gegeben. Die angeblichen Ziele sind nie erreicht worden. Eine Reihe von Staaten ist zerbrochen. Libyen ist ein überzeugendes Beispiel. Auch die Bemühungen, den Irak wieder zusammenzufügen, blieben bisher ohne Erfolg. In Syrien arbeiten die Amerikaner kaum an einer edlen Sache, zumal sie versuchen, eine physische Infrastruktur für den kurdischen Separatismus zu schaffen und dabei die Türkei, den Iran und andere Länder, in denen eine kurdische Minderheit lebt, verärgern.

Ich habe vorhin Afghanistan erwähnt. Okay, vergessen Sie Afghanistan und Irak und alle anderen Länder des Nahen Ostens. Nehmen Sie Haiti. Die Amerikaner haben dieses Land nun schon seit hundert Jahren unter ihren Fittichen. Lange bevor die Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurden, haben sie Haiti dabei geholfen, einen Staat und ein mehr oder weniger gut funktionierendes Regierungssystem aufzubauen. Bisher haben sie nichts erreichen können. Aber sie agieren weiterhin unter dem Banner, dass sie eine Großmacht wären und die Dinge sich immer so entwickeln würden, wie sie es bestimmten. Offensichtlich haben sie es bisher nicht so sehr gewollt. Ich bin nicht schadenfroh, sondern stelle nur die Fakten fest.

Die Tatsache, dass sie behaupten, im Alleingang einen Atomkrieg verhindern zu können, ist lobenswert. Niemand will das. Aber trotz des Wunsches, einen Atomkrieg zu vermeiden, wurde das System der gegenseitigen Kontrolle in Form der Verträge, über die wir gerade gesprochen haben – den ABM-Vertrag, den INF-Vertrag und den START-Vertrag – aus einem bestimmten Grund geschaffen.

Ich wusste nicht, dass es zur amerikanischen Tradition gehört, sich auf pures Glück zu verlassen. Ich dachte, das sei eher eine russische Tradition. Es stellt sich heraus, dass die Amerikaner uns in dieser Hinsicht sogar noch übertroffen haben.

Frage: Sie glauben also, dass die Regierung Biden der amerikanischen Öffentlichkeit im Vorfeld der Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den Vereinigten Staaten vorschlägt, sich in Fragen des Atomkriegs auf gutes Glück nur zu verlassen? Mit anderen Worten, spielen sie mit dem Schicksal des amerikanischen Volkes und sagen ihnen nicht die Wahrheit über das, was am wichtigsten ist?

Sergej Lawrow: Sie haben das internationale Rechtssystem der Abschreckung und der strategischen Stabilität zerstört, das ist eine Tatsache. Ich habe die Aussagen, die Sie gerade erwähnt haben, nicht gehört. Aber wenn sie dem amerikanischen Volk sagen, dass sie keine Angst haben müssten und dass es keinen Atomkrieg geben werde…

Frage: Sie sagen es immer wieder.

Sergej Lawrow: Es ist gut, dass sie keinen Atomkrieg wollen. Keiner will ihn. Das System der Abkommen, das von den Vereinigten Staaten zerstört wurde, war dazu da, die Risiken eines Atomkriegs zu minimieren und vernachlässigbar zu machen.

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Übersetzung aus dem Russischem – UNSER MITTELEUROPA

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