Sergej Lawrow: Man werde nicht warten, bis Westliche Staaten zur Besinnung kämen
Frage: In Minsk findet eine hochrangige internationale Konferenz zum Thema «Eurasische Sicherheit» statt: «Realität und Aussichten in einer sich wandelnden Welt». Dieses Thema ist wichtig, aber wie realistisch ist das? Minsk und Moskau reden viel und laden andere ein, an ihren Gesprächen teilzunehmen, aber das scheint im Westen keine Begeisterung auszulösen.
Sergej Lawrow: Wir gehen von der Prämisse aus, dass Eurasien einer „Naturtatsache“ entspricht. Es existiert.
Es ist ein großer Kontinent, der reich an natürlichen Ressourcen und vielen Aussichten ist. Strategische‑, Transport- und andere Versorgungskorridore durchziehen ihn oder sind noch möglich. Es gibt viele davon, wie die Nord-Süd- und Ost-West-Routen, aber um die Vorteile Eurasiens voll auszuschöpfen, müssen neue Verkehrskorridore geschaffen werden. All dies macht es zum Gebot, dass alle normalen Länder ihre Anstrengungen vereinen.
Wenn unsere westlichen Kollegen, die ein Viertel Eurasiens bevölkern, meinen, dass dies nicht in ihrem Interesse läge, doch vielmehr andere Interessen präferieren, wie Geld für Waffenlieferungen an das Kiewer Regime auszugeben, enorme wirtschaftliche Verluste einzufahren, mit Deindustrialisierung konfrontiert zu werden, den Vereinigten Staaten die absolute Führungsrolle zu überlassen sowie am meisten durch den Krieg in der Ukraine (den sie angezettelt haben) zu verlieren, so können wir dagegen einfach nichts machen.
Das soll aber nicht heissen, dass alle anderen auf sie zu warten hätten, bis sie zur Besinnung kämen. Aus diesem Grund verfolgen wir seit langem die eurasische Zusammenarbeit in verschiedenen Formaten, wie über die OVKS [Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit], GUS [Gemeinschaft unabhängiger Staaten], SOZ [Shanghaier Kooperation für Zusammenarbeit] und ASEAN [Vereinigung Südostasiatischer Länder]. Zu diesen Organisationen wurden Kontakte etabliert, was auch die Verabschiedung von Memoranden auf Ministerebene beinhaltet.
Wir gehen davon aus, unseren westlichen Kollegen und Nachbarn auf dem Kontinent nicht die Tür vor der Nase zuschlagen, falls sie wieder zurückfänden, um
- ihren gesunden Menschenverstand zu bemühen.
- ihre ideologiegetriebenen und konfrontativen Intrigen aufzugeben, die ihnen von Amerikanern und anderen aggressiven Nachbarn aufgezwungen wurden.
- ihre Unterwürfigkeit in allem gegenüber Washington aufzugeben.
- anzufangen, wie unabhängige Staaten gemäß ihren nationalen Interessen zu handeln.
Die Bedingungen unserer Beziehungen würden jedoch vom gegenseitigen Nutzen bestimmt, doch nicht von ihren Wünschen.
Ich meine, dass die Konferenz zum richtigen Zeitpunkt stattfindet. Sie wird der Diskussion zu diesen Fragen neue Impulse verleihen und dabei alle bestehenden Organisationen dieses Bereiches erfassen, sowohl die des Unionsstaates, der GUS, OVKS, SOZ, ASEAN wie auch unserer Nachbarn, die diesen Organisationen noch nicht angehören. Ich betrachte dies als einen nützlichen Prozess des Erfahrungsaustauschs zwischen all diesen Assoziationen zur Koordinierung von Projekten in gegenseitiger Ergänzung. Das ist Arbeitsteilung im besten Sinne des Wortes.
Frage: NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat erklärt, dass das Bündnis große Produktionskapazitäten und viele Waffen brauche, um Frieden und Freiheit zu sichern. Was lautet ihre Reaktion?
Sergej Lawrow: Es gibt einen Telegram-Kanal namens «Krokodil». Dort werden Karikaturen aus der Sowjetzeit und aus der des Kalten Krieges gepostet.
Als ich ein Kind war, haben sie mir gefallen. Manchmal habe ich mich gefragt, warum Imperialisten auf so wenig schmeichelhafte Weise darstellt würden. Als ob sie blutrünstig wären, schlimmer als der Wolf mit Rotkäppchen. Aber wenn ich jetzt die Erklärungen einiger führender Vertreter der NATO und anderer westlicher Organisationen höre, erinnert mich das an diese Karikaturen.
Besagtes Bündnis hat sich anfänglich für die globale Sicherheit verantwortlich erklärt, doch später innerhalb von wenigen Minuten neu erfunden: Zunächst betonten sie, dass es sich um ein Verteidigungsbündnis handle, dessen einziges Ziel darin bestehe, die Territorien seiner Mitgliedstaaten zu schützen. Auf den letzten beiden Gipfeltreffen in Madrid und Vilnius wurde jedoch ausdrücklich NATOs globale Verantwortung für weltweite Sicherheit proklamiert, einschließlich den asiatisch-pazifischen Raum, den sie als «Indo-Pazifik-Region» bezeichnen.
Sie machen keinen Hehl aus der Notwendigkeit, für die Sicherheit in Asien verantwortlich zu sein, um China einzudämmen und Russland zu isolieren. Solche blutrünstigen Pläne haben noch nie zu etwas Gutem geführt.
Es gab Napoleon und Hitler. Auch in der Antike gab es Leute, die danach trachteten, die ganze Welt zu unterjochen. Doch alle ereilte das gleiche Schicksal.
Frage: Was wäre die wichtigste Voraussetzung, um das Konfrontationsniveau in der Region zu senken?
Sergej Lawrow: Im Moment ist es am wichtigsten, nicht in der Wachsamkeit nachzulassen. Wir haben es mit einem Krieg zu tun, der uns erklärt wurde und wir dürfen nicht zulassen, besiegt zu werden. Ihr Ziel ist es, Russland eine «strategische Niederlage auf dem Schlachtfeld» zu bereiten. Dessen ungeachtet werfen sie uns inzwischen vor, das wir Verhandlungen aus dem Wege gingen. Doch, wie weichen diesen nicht aus.
Kürzlich gab der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder ein langes Interview. Er erläuterte, wie im März/April 2022 ein Dokument ausgearbeitet worden wäre, was eine Lösung der militärischen Konfrontation auf Grundlage von Sicherheitsgarantien für Russland und die Ukraine ermöglicht hätte. Diese Garantien beinhalteten nicht den Beitritt der Ukraine zur NATO. Das Kiewer Regime, welches die Aussichten in Bezug auf die Weiterführung der Feindseligkeiten realistisch einschätzte, war bereit, das Dokument zu unterzeichnen, wurde aber von Washington und London daran gehindert. Man wirft uns vor, wir seien gegen Verhandlungen, aber das ist eine Lüge.
Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass der Westen das Kiewer Regime weiterhin zur Fortsetzung des Krieges antreibt. Falls es um Gespräche ginge, sollte Präsident Selenskyj das Dekret zurücknehmen, das er vor einem Jahr unterzeichnet hatte und ukrainischen Offiziellen inklusive ihm selbst verbietet, mit der Regierung von Wladimir Putin in Verhandlungen einzutreten.
Es entspricht reiner Heuchelei mit leeren Worten auf Gespräche zu verweisen, denen Russland vermeintlich ausweiche. Wir haben uns nie ernsthaften Angeboten verschlossen. Doch, solche Angebote haben uns nicht erreicht. Im April 2022 haben die Angelsachsen solche Gespräche durchkreuzt. Zumal es um «das Schlachtfeld» geht, sollten wir es belassen. So wird es weitergehen. Die Wahrheit ist auf unserer Seite.
Nach dem Putsch von 2014 und der Unterzeichnung der Minsker Vereinbarungen, die von der ukrainischen Führung sowie von Frankreich und Deutschland, die als Garantiegeber für die unterzeichneten Vereinbarungen standen, sabotiert wurden, war alles Russische in der Ukraine über viele Jahre hinweg der Zerstörung und Austilgung preisgegeben:
Die russische Sprache, Kultur, Bildung und kulturelle Kontakte wurden zerstört.
In Nazideutschland wurden Bücher verbrannt und in der Ukraine wurden Millionen von Büchern in russischer Sprache (unabhängig vom Autor) aus den Bibliotheken entfernt, vernichtet oder dem Recycling zugeführt. Bildung, Medien und kultureller Austausch wurden ausradiert.
Neurussland, welches im Jahr 1764 vom Russischen Kaiserreich gegründet wurde |
Quelle: DiscoverWithDima, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Alles, was die Menschen an unsere gemeinsame Geschichte erinnert, an die historische Periode, in der Neurussland von Russen unter dem Russischen Reich mit Katharina der Großen und Grigori Potemkin, aufgebaut wurde, wurde zerstört. Denkmäler für sie [Ukrainer] und diejenigen, die dieses Land von den Nazis befreiten, wurden abgerissen.
Im September 2021 erklärte Selenskyj in einem Interview, dass Menschen, die in der Ukraine lebten und sich mit der russischen Kultur verbunden fühlten, ihren Kindern und Enkeln zuliebe einfach abhauen und nach Russland gehen sollten. Auf diese Weise behandelte und behandelt der Präsident der Ukraine, der vom Westen als oberster Demokrat und Hoffnungsträger ganz Europas angepriesen wird, seine Bürger und die Mehrsprachigkeit seines Landes sowie alle, die entweder ethnische Russen sind oder bevorzugen, die russische Sprache in voller Übereinstimmung mit der ukrainischen Verfassung anzuwenden.
Wir können eine solche Beleidigung des russischen Volkes nicht hinnehmen. Wir werden uns nicht damit abfinden, dass weiterhin Möglichkeiten für solche Beleidigungen existieren werden.
Frage: Gestern sagte der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow, dass wir schriftliche Vorschläge von den Vereinigten Staaten erhalten hätten, um den Dialog über das strategische Gleichgewicht wieder aufzunehmen. Glaubt man unter den gegenwärtigen Umständen, dass der Rüstungskontrolldialog in absehbarer Zeit wieder aufgenommen werden könnte?
Sergej Lawrow: Wir haben die Situation bereits mehrfach kommentiert. Strategische Stabilität setzt voraus, dass Bedingungen existierten, unter denen Vereinbarungen getroffen würden, welche die Interessen der Teilnehmer solcher Verhandlungen gleichermaßen widerspiegeln und deren Anliegen berücksichtigen. Genau so war der «Neue START-Vertrag», der immer noch in Kraft ist, ausgelegt. Alle seine Obergrenzen bleiben in Kraft.
Wir haben den Inspektionsprozess ausgesetzt, halten uns aber weiterhin an alle Verpflichtungen, die wir bei der Unterzeichnung dieses Vertrags eingegangen sind. Inspektionen sind eine Maßnahme des gegenseitigen Vertrauens.
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Es gibt kein Vertrauen mehr zwischen uns und den Vereinigten Staaten. Sie haben es zerstört, indem sie alle in der Präambel festgelegten Grundsätze, wie Unteilbarkeit der Sicherheit, Achtung der Sicherheitsinteressen des anderen, gegenseitiges Vertrauen usw. untergraben haben. Alle Grundsätze, auf die sich der Vertrag stützte, wurden von den Amerikanern eklatant verletzt.
Darüber hinaus gibt es praktische Erwägungen. Inspektionen werden in Einrichtungen durchgeführt, in denen Atomwaffen gelagert werden. Nachdem das Kiewer Regime westliche Waffen einsetzt, um die Basen unserer strategischen Bomber auf russischem Territorium anzugreifen (was vor nicht allzu langer Zeit geschehen ist), stellt sich die Frage, warum die Amerikaner gerade jetzt auf eine Inspektion unserer Einrichtungen drängen. Vielleicht, um dem Naziregime die Möglichkeit zu geben, unsere Stützpunkte genauer ins Visier zu nehmen? Deshalb haben wir die Inspektionen ausgesetzt. Solange der Vertrag in Kraft ist, fühlen wir uns an die Parameter, die wir unterzeichnet hatten, gebunden.
Frage: Wurden die Informationen überprüft, dass die jüngsten US-Tests in Nevada mit dem CTBT-Vertrag [Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty], dem Vertrag über das «Umfassende Verbot von Nuklearversuchen» übereinstimmen?
Sergej Lawrow: Sie [die USA] sagten, dass es sich um eine chemische Explosion handelte, was durch den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen nicht verboten wäre und erklärten, dass sie ihr System zur Überwachung der Einhaltung des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen verbessern müssten. Wir werden die Fakten weiter prüfen. Bisher haben wir nichts gefunden, was auf einen Verstoß gegen diesen Vertrag hindeutet.
Frage: Die Konferenz, die heute in Minsk begonnen hat, vermittelt den Eindruck, dass Belarus versuche, Brücken zwischen Europa und Asien zu bauen. Was hat Weißrussland Ihrer Meinung nach dazu bewogen, dies gerade jetzt zu tun, wo doch nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine ähnliche Versuche, auch die von Minsk, – ich würde nicht sagen aufgegeben, sondern für einige Zeit auf Eis gelegt worden waren?
Sergej Lawrow: Ich würde nicht sagen, dass die Konferenz auf den Teil Eurasiens, der sich Europa nennt, auf die eine oder andere Weise eine Rückschau halten sollte. Es gibt Brücken nach Europa, aber man hat sie – bildlich gesprochen – entweder gesprengt, wie die Nord-Stream-Pipelines oder den Weg dorthin mit Straßensperren und Mauern aus Beton blockiert. Dazu errichten sie einen Zaun als Art Netz entlang der Grenze zwischen den baltischen Staaten und Weißrussland und Finnland plant auch etwas an unserer Grenze.
Es besteht keine Notwendigkeit für «Brücken» nach Europa. Wenn die Zeit reif ist – und dafür gibt es bisher keine Anzeichen – dann müssen wir die Mauern sprengen, statt Brücken zu bauen. Bisher haben sich diese Menschen selbst suggeriert, dass das, was jetzt geschieht, für sie nützlich wäre: Ich meine damit, dass sie über die Ukraine in den Krieg gegen Russland hineingezogen wurden, wobei Geld, Waffen und viele andere Dinge aus ihnen herausgepumpt werden, um das Nazi-Regime in Kiew zu stützen.
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Währenddessen ist der Rest Eurasiens nicht gewillt, auf das Ende dieser Selbsttäuschungskampagne, welche die Vereinigten Staaten entfesselt haben und anstacheln, zu warten.
Nur die Vereinigten Staaten profitieren davon, dass Europa vor ihren Augen immer ärmer wird und von der Deindustrialisierung, die dort stattfindet. Während all dies geschieht, würden normale Länder, die nicht nach Hegemonie durch Kriege gegen andere Länder streben, lieber kooperieren, wie wir es jetzt tun.
Der asiatische Teil Eurasiens, der das Gebiet des Unionsstaates Weißrussland und Russlands umfasst, sieht im Zusammenhang mit den Entwicklungsperspektiven für die SOZ, GUS und EAWU [Eurasische Wirtschaftsunion], die mit Chinas Belt & Road-Initiative [BRI] verbunden sind, viele erfolgversprechende und für beide Seiten vorteilhafte Gebiete, in die wir unsere natürlichen, menschlichen und technologischen Ressourcen investieren können. Es kann sich so entwickeln, dass er nicht von den Launen einer Minderheit – links auf der Seite unseres gemeinsamen Kontinentes – abhängt, ganz zu schweigen von denen aus Übersee, die versuchen, die Spannungen anzuheizen und sich als die Herren des Universums aufzuspielen. Die Vereinigten Staaten liefern täglich den Beweis für ihr Streben nach Hegemonie und ihre Unverträglichkeit gegenüber einer Zusammenarbeit, bei sich die Partner gleichberechtigt gegenübertreten. Die Vereinigten Staaten sagen ohne Umschweife, dass diejenigen, die nicht von ihrer US-Großartigkeit geblendet wären, versuchten, die Beziehungen auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt, der Suche nach einem Interessenausgleich und Projekten zum gegenseitigen Nutzen aufzubauen.
Genau darum geht es bei der Konferenz, die heute in Minsk auf Initiative des Präsidenten der Republik Belarus stattfindet. Sie wird einige Tage dauern.
Genau darüber haben die Teilnehmer der Konferenz heute gesprochen: Wir müssen eine Architektur der Sicherheit und wirtschaftlichen Zusammenarbeit schaffen, die nicht von den Launen und neokolonialen Instinkten unserer Nachbarn im Westen unseres riesigen Kontinents abhängt. Wenn sich diese selbst der natürlichen Wettbewerbsvorteile berauben, die eine Bündelung der Kräfte im eurasischen Raum anbieten würde, dann bleibt das ihre Entscheidung.
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