Horst D. Deckert

Spahn deckelt mit Brasilien das Schlimmstfallszenario für Deutschland

Bei der letzten Bundespressekonferenz mit Jens Spahn fiel mir wieder eine kleine Nebenbemerkung auf, die unterstreicht, wie wenig die Bundesregierung und der Gesundheitsminister auf der Höhe sind. Bei Minute 29:20 stellt ihm Boris Reitschuster die moralische Frage, mit der die Regierung keine Beschränkungen bei der Grippe begründet, obwohl auch bei dieser Krankheit jedes Jahr tausende Menschen sterben. Spahn verweis bei seiner Antwort auf die Unterschiede in der Schwere zwischen Corona und der Grippe und verwies unter anderem auf Brasilien als dem Schlimmstfall für ein Land, das überhaupt keine Maßnahmen gegen Corona traf. Damit zog Spahn ungewollt eine Obergrenze ein für das Schlimmstfallszenario auch für Deutschland.

 

Die Unterschiede zwischen Brasilien und Deutschland

 

Für eine Abschätzung der Dimensionen eines brasilienartigen Schlimmstfalls in Deutschland, muss man zunächst die beiden strukturell doch recht unterschiedlichen Länder vergleichen. Brasilien hat knapp 213 Millionen Einwohner, von denen 14,1% 60 Jahre oder älter sind. In Deutschland wiederum leben knapp 84 Millionen Menschen mit einem Anteil über 60-jähriger von 28,4%. Damit stehen sich in der Risikogruppe 23,9 Millionen Deutsche 30 Millionen Brasilianern gegenüber.

Der zweite relevanten Faktor ist die Bevölkerungsdichte, wobei Deutschland mit 250 Personen pro km² brutto eine zehn Mal so große Bevölkerungsdichte als Brasilien aufweist. Dieser Faktor relativiert sich, wenn man das fast unbewohnte Amazonasbecken abzieht. In dieser Karte mit der brasilianischen Dichteverteilung lässt sich ablesen, dass zwei Drittel des Landes quasi unbewohnt sind. Im Bereich ab 500km hinter der Altantikküste lebt kaum jemand mit der Folge, dass mit circa 110 Millionen Menschen mehr als die Hälfte aller Brasilianer in den bevölkerungsreichsten fünf Bundesstaaten leben.

Auch jenseits der Küste gibt es einige Ballungszentren wie etwa Manaus oder die Hauptstadt Brasilia, wo weitere Millionen Brasilianer eng beieinander liegen. Trotzdem bleibt die Bevölkerungsdichte Brasiliens auch netto um etwa ein Drittel hinter der deutschen zurück. Effektiv läuft dies auf einen Verrechnungsfaktor von 2,7 heraus, um die mit der Coronakrise im Zusammenhang stehenden Werte proportional übertragen zu können.

 

Schlimmstfallzustände in Brasilien und Deutschland

 

Laut Wordometers gab es in Deutschland bisher knapp 3,3 Millionen Coroanfälle und es kam dabei zu 82.000 Todesfällen an Corona. Ohne jegliche Maßnahmen hätten sich damit im Schlimmstfall 8,9 Millionen Coronafälle ereignet und es wären 224.000 Menschen daran gestorben. Analog lassen sich auch die brasilianischen Zahlen übertragen mit dem Ergebnis von 5,3 Millionen Fällen und 143.000 Toten.

Fraglos wären das erheblich größere Zahlen gewesen, als wir derzeit erleben. Doch sie stellt gleichzeitig die Hypothese in Frage, ob es “hunderttausende” geworden wären, die das Virus dahingerafft hätte. Insbesondere die von Herrn Drosten vor einem Dreiviertel Jahr bemühten 3,1 Millionen Toten lägen mindestens um den Faktor 16 über dem Mittelwert von 184.000 Toten als dem Mittelwert der beiden analog übertragenen Werte.

Auch hinter die drohende Überlastung der Intensivstationen des Landes muss mit dem Spahn’schen Schlimmstfallszenario ein dickes Fragezeichen gesetzt werden. Laut dieser Grafik werden derzeit 5.054 Personen wegen Corona intensivmedizinisch betreut. Legt man den Verrechnungsfaktor an, dann lägen bis zu 13.646 Personen wegen Corona auf der Intensivstation. Dies wären 8.592 mehr Belegungen, während es aktuell 3.714 freie Intensivbetten gibt.

Damit wären die Kapazitäten in Deutschland klar überlastet, wobei zum Höchststand der coronabedingten Intensivbehandlungen Anfang Januar lediglich circa 500 Patienten mehr angefallen sind. Das deutsche Gesundheitssystem hätte im brasilianischen Schlimmstfall circa 5.500 Patienten nicht behandeln können.

Relativiert wird diese Überlastung von der seltsamen Begebenheit, wonach die Kapazitäten an Intensivbetten in den letzten Monaten sukzessive abgebaut wurden. Nicht einmal George Soros Correctiv kann das in Gänze bestreiten, auch wenn sie sich alle Mühe geben. Ohne die Reduktion der Kapazitäten und ohne die Schließung von Krankenhäusern mitten in der Pandemie ist die Spekulation nicht weit hergeholt, dass es selbst dann zu keiner Überlastung gekommen wäre, wenn Deutschland den brasilianischen Weg gegangen wäre.

 

Schlimmstfall, Bestfall & Erwartungsfall

 

Die Politik muss natürlich stets den Schlimmstfall im Auge behalten, zumal die Krisenvorsorge zu den Grundpflichten gehört. Was bei Missachtung dieser Aufgabe geschieht, können wir derzeit erleben, nachdem die Politik acht Jahre lang ein Pandemieszenario ignoriert hat, das die aktuelle Krise sehr akkurat nachgezeichnet hat. Anstelle von Vorsorge werden wir daher nun mit Aktivismus überzogen.

Würde die Politik kompetent und vorausschauend handeln, sie würde das Schlimmstfallszenario zwar im Auge behalten, gleichzeitig aber auch den möglichen Bestfall berücksichtigen, um aus beidem ein mittleres Szenario abzuleiten. Mit dem von Jens Spahn bestätigten Schlimmstfall Brasilien am einen Ende des Spektrums und von mir hier im Blog oftmals bemühte Texas am anderen Ende, würde eine kompetente Regierung heute versuchen, die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten hoch zu halten – oder gar zu steigern – gleichzeitig aber eine weitgehende Öffnung vornehmen, während die medizinisch kritischen Bereiche wie Praxen, Apotheken, Pflegeheime und Krankenhäuser weiterhin einen besonderen Schutz genießen.

Denn nicht nur zeigt Texas, dass es auch ganz anders laufen kann, sondern es könnte gut sein, dass der wahre Verrechnungsfaktor zum Schlimmstfall Brasilien deutlich unter den von mir angenommenen 2,7 liegt. Denn Brasilien hat ein generell schlechteres Gesundheitssystem, das sich in einer um 6,5 Jahre geringeren Lebenserwartung widerspiegelt. Ganz besonders sticht dabei der sieben Jahre betragende Abstand zwischen deutschen und brasilianischen Männern hervor, was auf eine sehr schlechte Gesundheit bei den Männern Brasiliens hindeutet.

Da Corona deutlich häufiger Männer betrifft und dahinrafft, könnte es sehr gut sein, dass es sich bei der Situation in Brasilien um einen auf länderspezifischen Faktoren beruhenden Ausreißer handelt. Darüber hat sich der gute Jens aber vermutlich genauso wenig Gedanken gemacht wie über die Gründe, weshalb Texas so gut dasteht – oder gar darüber, dass er mit der Bezeichnung Brasiliens als Schlimmstfall seinem gesamten politischen Ansatz die Legitimation entzogen hat.

Quelle Titelbild 1, 2

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