Wir schreiben den März 2020. Es ist der Beginn der «Pandemie» und in der Schweiz gilt für über 65-Jährige die Empfehlung des Bundes, das eigene Heim möglichst nicht zu verlassen. Im Kanton Tessin ist dies sogar verboten, ausser wegen medizinischen oder «unvermeidbaren beruflichen Gründen» oder um motorische Aktivitäten auszuüben. Das Einkaufen gehört nicht zu den Ausnahmen.
Ein 78-jähriger Mann aus Locarno missachtet diese Massnahme und betritt einen Supermarkt in Locarno. Als ihn zwei Polizisten abfangen, fragen sie ihn nach seinen Personalien, woraufhin er dem jüngeren der beiden ins Gesicht spuckt.
Nicht gerade die feine Art, wobei die Frustration des Mannes nachvollziehbar ist. Jedenfalls war auch die Reaktion der Polizisten unangemessen. Das entschied die Richterin Verda Chiocchetti, Präsidentin des Strafgerichtshofs, wie der Corriere del Ticino berichtet: Die beiden Polizisten wurden wegen Amtsmissbrauchs zu bedingten Geldstrafen verurteilt. Der Jüngere wurde auch des Vergehens der einfachen Körperverletzung für schuldig befunden. Ciocchetti machte klar:
«Die Mittel, die zur Durchführung dieser Verhaftung eingesetzt wurden, waren völlig unverhältnismässig.»
Die von Staatsanwältin Chiara Borelli unterzeichnete Anklageschrift wurde jedoch nur teilweise bestätigt. Der jüngere der beiden Polizisten, ein 41-jähriger Beamte, wurde nämlich auch der einfachen Körperverletzung für schuldig befunden. Der 54-jährige Gruppenleiter wurde von dieser Anklage hingegen freigesprochen.
Das Hämatom, das der 78-jährige Mann erlitt, sei dadurch entstanden, dass der 41-Jährige ihn gewaltsam gegen die Wand gestossen habe, erklärte die Richterin. Der Polizist brach dem Opfer eine Rippe, als der 78-Jährige mit Handschellen gefesselt am Boden lag.
Deshalb wurde der Beamte zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe von 140 Tagessätzen zu je 90 Franken verurteilt. Die Strafe des Gruppenleiters wurde hingegen auf 90 Tagessätzen zu 150 Franken angesetzt, ebenfalls auf Bewährung.
Verteidigung: Reaktion nicht unverhältnismässig
Den Verteidigern zufolge war die Reaktion der Polizisten keineswegs unverhältnismässig, sondern mehr als gerechtfertigt, «angesichts der totalen Verachtung, die der ältere Mann ihnen und den kantonalen Behörden (…) entgegenbrachte». Sie hätten entschlossen reagiert, aber auf eine Art und Weise, «die dem Angriff, den sie erlitten hatten, völlig angemessen war». Der 41-jährige Sicherheitsbeamte erinnerte sich:
«Mit einem kräftigen, aber kontrollierten Stoss habe ich ihn mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt, um ihn an der Flucht zu hindern.»
Nachdem der ältere Mann fixiert war, wurde er vom Gruppenleiter zu Boden gebracht und später in Handschellen gelegt. Vor Gericht bekräftigten die beiden Polizisten:
«Alles, was wir getan haben, war, die in der Polizeischule erlernten und in Fortbildungskursen geübten Verfahren und Techniken in die Praxis umzusetzen. Es war nicht unsere Absicht, ihm Verletzungen zuzufügen, und dafür entschuldigen wir uns. Wir wollten ihn nach seinen Personalien fragen, aber dann wurde er aggressiv und wir waren gezwungen, ihn zu fixieren.»
Staatsanwältin Borelli argumentierte, die Angelegenheit hätte «anders gelöst werden können»:
«Es hätte einen anderen Ansatz geben müssen, der den Rippenbruch des älteren Mannes vermieden hätte. Bei diesem Eingriff gab es keine Verhältnismässigkeit, es handelte sich um einen Machtmissbrauch und es gab einfache Verletzungen.»
Der jüngere der beiden Polizisten ist inzwischen aus dem städtischen Korps ausgeschieden und arbeitet nun als Ordnungshüter im Kanton Wallis.