Nach einer langen Karriere im Bundesfinanzministerium wurde Thilo Sarrazin, der an der Universität Bonn Wirtschaftswissenschaften studiert und in Rechts- und Politikwissenschaften promoviert hatte, zum Staatssekretär im rheinland-pfälzischen Finanzministerium ernannt.
Von Januar 2002 bis April 2009 wurde er zum Senator für Finanzen in Berlin gewählt. Seit Anfang der 1970er Jahre war er Mitglied der SPD und wurde 2020 aus der Partei ausgeschlossen.
Der heute 76-jährige Thilo Sarrazin hat einen scharfen Blick auf die Herausforderungen der deutschen und französischen Gesellschaft, die mit einer in ihrer Geschichte noch nie dagewesenen Migrationswelle konfrontiert sind.
In diesem Interview beleuchtet er mit seinen Erfahrungen und Analysen eine der größten Herausforderungen der Zukunft: die Frage der Einwanderung. Er ist Autor von etwa zehn Büchern, vor allem Wirtschaftsbüchern, aber dieser große Staatsdiener warf eine Bombe in die deutsche Verwaltungslandschaft, als er 2010 das Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlichte.
Das Buch wurde bis heute über zwei Millionen Mal verkauft und hat in Deutschland und anderswo zahllose Debatten ausgelöst. Die Wirkung des Buches ist in hohem Maße auf die Persönlichkeit seines Autors zurückzuführen.
Breizh-info.com: Herr Sarrazin, das Buch „Deutschland schafft sich ab“ war von Anfang an in den Schlagzeilen. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich zu dem Buch und erklärte, sie habe es nicht gelesen und werde es auch nicht tun. Regierungssprecher Steffen Seibert bezeichnete das Buch als „uninteressant“. Warum stieß Ihr Werk bei Politikern und Medien auf so große Ablehnung?
Sarrazin: Als Mitglied des politischen Establishments hatte ich in den Augen meiner „Peer Group“ die unverzeihliche Sünde begangen, gegen die herrschende Orthodoxie zu verstoßen, die besagte, dass der Islam zu Deutschland gehöre und dass jede Einwanderung in jedem Fall vorteilhaft sei. Dennoch und weil die Fakten stimmten, wurde die Rassismuskeule wieder hervorgeholt. So vermeidet man es, sich den Tatsachen zu stellen. Der absurde Vorwurf des Rassismus spielt immer noch eine zentrale Rolle. Er zielte darauf ab, mich als Person und Autor zu delegitimieren, meinen Aussagen die faktische Substanz und Glaubwürdigkeit zu nehmen und mich in einem moralisch fragwürdigen Licht erscheinen zu lassen. Bis heute lese ich in den Medien immer wieder, dass ich in „Deutschland schafft sich ab“ behauptet habe, Muslime seien genetisch dümmer. Dabei handelt es sich um eine grobe Lüge, die von diesen Medien und politischen Gegnern in verleumderischer Absicht verbreitet wurde. Ich habe so etwas in dem Buch nie behauptet, sondern vielmehr wiederholt auf die Auswirkungen kultureller Faktoren auf kognitive Fähigkeiten und schulische Leistungen hingewiesen. Meine differenzierten Aussagen zur Erblichkeit von Intelligenz wurden von zwei renommierten Intelligenzforschern, Detlev Rost und Heiner Rindermann, in einem langen Artikel in der FAZ nur wenige Tage nach Erscheinen des Buches eingehend geprüft und vollständig bestätigt.
Breizh-info.com: Und doch zeigen Sie in Ihrem Buch große Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen auf, was die Bildung und sogar die Kriminalität betrifft.
Sarrazin: Es gibt die vorherrschende Ideologie, dass wenn Menschen geboren werden, durch Bildung und Gesellschaft, und dass sie nach Belieben geformt werden können, vergleichbar mit einem leeren Blatt Papier. Das ist nicht richtig. Die genetischen, kulturellen und religiösen Merkmale der Menschen beeinflussen ihr Verhalten auch noch nach mehreren Generationen. Die Herkunft des Menschen, der Einfluss seiner vererbten Eigenschaften und seine kulturelle und religiöse Sozialisation sind alles andere als gleichgültig für die Natur und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Und das untermauere ich in meinem Buch nur mit Fakten, die der Öffentlichkeit zugänglich sind. Es geht nicht um Rassismus. Rassismus beginnt dort, wo bestimmte Unterschiede bewertet und bestimmten Gruppen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft zugeschrieben werden. Das ist eine klare Trennlinie, die ich in all meinen schriftlichen Veröffentlichungen und öffentlichen Erklärungen stets beachtet und mit tiefer Überzeugung betont habe.
Breizh-info.com: Dennoch sind Sie inzwischen aus der SPD ausgeschlossen worden…
Sarrazin: Der Grund für meinen Ausschluss aus der SPD im Jahr 2020 hängt mit der Veröffentlichung meines Buches „Feindliche Übernahme“ im Jahr 2018 zusammen, ein Buch, in dem ich eine Generalkritik am Islam geübt habe: Die SPD hat sich nicht die Mühe gemacht, mir eventuelle Unwahrheiten oder irgendwelche beleidigenden Äußerungen vorzuwerfen. Es genügte ihr, dass das Thema des Buches und seine Denkweise als politisch unkorrekt angesehen wurden, um meinen Ausschluss aus der Partei zu rechtfertigen. Was die Migrationsfrage betrifft, so ist festzustellen, dass die Geburtenrate in Deutschland zunehmend durch die große Zahl von Kindern bestimmt wird, die von Einwanderern geboren werden. Was die in Deutschland geborenen Kinder betrifft, so haben mehr als 40 % von ihnen einen Migrationshintergrund.
Die Medien (insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen) und alle politischen Parteien (mit Ausnahme der AfD) haben während des gesamten Wahlkampfs für die Wahlen im September letzten Jahres Fragen der Migrationspolitik völlig ausgeblendet und sich stattdessen auf den Klimawandel konzentriert, der für sie die größte Bedrohung für unsere Zukunft darzustellen scheint. Da die deutsche Bevölkerung, wenn sich der von mir beschriebene Trend fortsetzt, in den nächsten 100 Jahren jedoch ohnehin aussterben wird, stellt der Klimawandel, wie auch immer man ihn bewerten mag, heute keine Bedrohung für die Zukunft mehr dar, zumindest nicht für die Deutschen.“
Ich war 47 Jahre lang Mitglied der SPD. Wir werden sehen, ob mein Ausschluss der SPD hilft, wieder die Volkspartei zu werden, die sie so gerne wäre. Im Moment sieht es nicht danach aus. Als mein Buch „Deutschland zerstört sich selbst“ im August 2010 veröffentlicht wurde, lag die SPD noch bei 30 Prozent. Wenn meine Warnungen und Vorschläge damals ernst genommen worden wären, dann könnte die SPD heute in einer viel besseren Position sein, und die AfD wäre nie über fünf Prozent hinausgekommen.
Breizh-info.com: In Köln, einer der größten Städte Deutschlands, haben die städtischen Behörden beschlossen, die Übertragung des muslimischen Gebetsrufs zuzulassen. Hat Sie diese Maßnahme überrascht?
Sarrazin: Im letzten Kapitel von „Deutschland zerstört sich selbst“ habe ich skizziert, wie sich die Situation in den nächsten 100 Jahren entwickeln wird: Ich habe die opportunistische Anpassung der Politiker an diese Situation, die wir derzeit erleben, klar beschrieben. Das Beispiel der Genehmigung des Rufs zum Freitagsgebet in Köln veranschaulicht dies sehr gut. In dieser Hinsicht überrascht mich die Entscheidung der Kölner Stadtverwaltung keineswegs. Sie entspricht dem Bild, das ich mir von der künftigen Entwicklung in dieser Frage mache. In Frankreich finde ich, dass Michel Houellebecq in seinem Buch „Unterwerfung“ die gleiche Botschaft aussendet.
Breizh-info.com: Man kann davon ausgehen, dass die 20. Auflage Ihres Buches die Debatte über Einwanderung und Islam neu entfachen wird.
Sarrazin: Es ist sicher, dass die Debatte erneut entfacht wird, da das Buch einer zentralen Grundannahme der zeitgenössischen Kultur widerspricht. Dieser Theorie zufolge dürfen Biologie, Herkunft, intellektuelle Begabung, Kultur, Religion und Geschlecht für das Individuum und die Gesellschaft keine Rolle spielen. Ich bin stattdessen der Meinung, dass wir in der Gesellschaft Fairness und Chancengleichheit brauchen. Auf dieser Grundlage muss jeder die Möglichkeit haben, seine Fähigkeiten und Talente bestmöglich zu entwickeln und sie nach seinen Vorstellungen einzusetzen. Eine auf das Individuum ausgerichtete Politik muss immer das Individuum betrachten. Aber für die Regulierung der Gesellschaft als Ganzes, z. B. in der Einwanderungs‑, Bildungs- oder Gesundheitspolitik, ist es sehr wichtig, gruppenbezogene Unterschiede zu berücksichtigen und die öffentliche Politik vorausschauend darauf auszurichten.
Breizh-info.com: In Frankreich werden Sie manchmal als der „deutsche Zemmour“ bezeichnet. Kennen Sie ihn?
Sarrazin: Solche Parallelen sind immer schwierig zu ziehen. Eric Zemmour und ich sind uns in einem Punkt ähnlich: Wir haben beide die Fähigkeit, die Gesetze der Mathematik (z. B. durch Statistik) auf Fragen des praktischen Lebens anzuwenden: Wenn die Franzosen wie auch die Deutschen aufgrund ihrer niedrigen Geburtenrate einen Bevölkerungsrückgang verzeichnen und die Einwanderer, die hauptsächlich aus dem islamischen Kulturkreis stammen, weiterhin zuwandern und deutlich höhere Geburtenraten aufweisen, dann hat der „große Austausch“ tatsächlich begonnen. In Frankreich wie auch in Deutschland schreitet sie jedes Jahr mit großen Schritten voran: Objektiv betrachtet kann man das anhand der Statistiken über Todesfälle, Geburten und Neuankünfte von Migranten nur feststellen. Diejenigen, die diese offensichtlichen Tatsachen nicht leugnen können, sie aber auch nicht wahrhaben wollen, greifen oft zu Beleidigungen und Diffamierungen gegenüber denjenigen, die vor den Konsequenzen warnen, die sich aus diesen Tatsachen ergeben. Aus diesem Grund wird Zemmour in Frankreich und ich in Deutschland kritisiert“.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei BREIZH-INFO, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.