Horst D. Deckert

Verirrungen und Brüche überall

Weltweite Proteste (hier in Madrid) – doch die Fehlwahrnehmung betrifft beide Lager (Foto:Imago)

Jahrelang wurde bei uns ein Riesenbohei gemacht um jede ethisch anstößige, indirekte deutsche Waffenlieferung – selbst wenn sie nur „über Bande“, also über Dritt- und Viertstaaten, erfolgt war. Die Bundeswehr wurde vorsätzlich kastriert und verkrüppelt, zu einem Schatten ihrer selbst kaputtgespart, und die Abschaffung der Wehrpflicht tat ein Übriges, um die Entfremdung zwischen „Zivilgesellschaft“ und Militär zu vervollkommnen. In Deutschland gibt es mittlerweile fast zwei komplett „ungediente“ Generationen“, die Kriegshandlungen nur von Netflix oder aus Computerspielen kennen und Disziplin, Uniformen und Drill instinktiv mit „Rechtsextremismus“ assoziieren.

Doch jetzt, da in die linksgrüne Wohlstandsblase jäh die Realität einer konventionellen militärischen Auseinandersetzung im geographischen Nahbereich einbricht: Da kann die plötzliche Rolle rückwärts der Politik gar nicht schnell genug erfolgen. Binnen zwei Tagen sind jetzt Waffenlieferungen in ein Krisengebiet kein Problem mehr, und vor allem werden mal eben so schlagartig 100 Milliarden Euro Sondervermögen für den Verteidigungshaushalt aus dem Hut gezaubert; und das ausgerechnet von Politikern der SPD und der Grünen, die bislang freiwillige Demilitarisierung und humanitäre Realitätsverweigerung zu ihren Grundfesten erklärt hatten. Aktionismus und Hektik sind Trumpf.

Es ist, als würden wir von Kleinkindern regiert. Die deutsche Politik zeigt sich einmal mehr in ihrer ganzen Kopflosigkeit, die seit Angela Merkels Kanzlerschaft das Handeln in diesem Land zunehmend bestimmt. Ihr wesentliches Merkmal: Das Reagieren auf Stimmungen und Emotionen, irrationalen Motivlagen, die aus gutem Grund in der Staatskunst hinter Besonnenheit und Weitblick zurücktreten sollten. Letztere haben in Deutschland ultimativ ausgedient. Entscheidungen fallen bei uns – nicht erst seit gestern – nur noch impulsgetrieben und im Wortsinne populistisch, gefühlsabhängig, unüberlegt, kurzsichtig, erratisch und situationsbezogen-reflexiv, aber immer ohne strategische Linie und Blick auf die Langzeitfolgen.

Als würden wir von Kleinkindern regiert

Als vor 11 Jahren im fernen Japan die absehbare Havarie eines fahrlässigerweise in einem Erdbebengebiet errichteten Kernkraftwerks erfolgte – und zwar nicht etwa durch einen Reaktorunfall, sondern als als Begleiterscheinung eines Tsunamis! -,, wurde von einer hysterischen Bundesregierung sofort der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Vier Jahre später dann folgte die Kanzlerin, unter dem Eindruck der Bilder hoffnungsloser Budapester Bahnhofsflüchtlinge und kindlicher Kulleraugen, ihrem „Herzen“ – und öffnete in einem weiteren verantwortungslosen Kurzschluss die Grenzen. Und jetzt – unter dem Eindruck von Kriegsbildern, pro-ukrainischen Massendemonstrationen (bei denen Corona- und Abstandsregeln, anders als bei Montagsspaziergängen, plötzlich überhaupt keine Rolle mehr spielen!) und der übrigen westlichen Entschlossenheit, folgt die nächste emotionale 180-Grad-Wende – und der bislang edierte Kanzler wird vom Zauderer zum Impresario.

Für die Bundesregierung, speziell für die Grünen, wird Scholz‘ Kurswechsel absehbar zur Zerreißprobe werden. Für die Haken, die der Kanzler nun schlägt, sind sie definitiv nicht der richtige Partner – egal, wie sehr sie sich derzeit ach im Eiltempo verbiegen und den neuen Konfrontationskurs unter Brüskierung ihrer weltfremden, Pace-Regenbogen-affinen Basis mittragen. Denn man kann keine Gesinnungs- und Verantwortungspolitik zugleich betreiben. Man kann nicht mit einem Bein im phantastischen Utopia stehen und mit dem anderen auf dem Boden der Realpolitik. Entweder muss man das eine aufgeben oder das andere.

Und genau darauf lauft es hinaus – sowohl in der deutschen Rüstungs- und Verteidigungspolitik wie auch vor allem in der Energie- und Umweltpolitik. Entweder zurück ins Wolkenkuckucksheim – oder zurück zu Kernkraft, fossiler Energie, Aufrüstung, Rücknahme von Klimabeschlüssen. Ansonsten fliegt ihnen der Kessel um die Ohren. Den harten Max mimen, die Abhängigkeit von russischem Erdgas von einem Tag auf den anderen zur Disposition stellen und die Folgen dieser Entscheidung für Deutschland gänzlich auszublenden, indem man sich auf die maximal für 90 Tage reichende strategische Erdgasreserve verlässt, macht aus Robert Habeck noch keinen seriösen Krisenpolitiker. Und plötzlich mit deutschen Waffen die Integrität der ukrainischen Grenzen schützen zu wollen (wo Deutschland bislang nicht einmal die eigenen zu schützen in der Lage war), ist auch nicht eben glaubwürdig.

Schmetterling im Ventilator

Moralisch ähnelt die deutsche Linke derzeit einem Schmetterling, der in einen Ventilator auf höchster Rotorgeschwindigkeit geraten ist (oder, treffender, einem Rotmilan in einer Windkraftanlage): Sie wird gerade zerfleddert, dass die Fetzen fliegen; wenn sie das überlebt, dann nur unter Verlust jeder Orientierung. Ihr Traum von der postnationalistischen, postmilitaristischen und universaltoleranten Nachhaltigkeit zerstiebt gerade vor ihren Augen; Mit einem Mal muss sie gewahr werden, dass sie und ihr ganzes sophisticated Wokistan nackt, wehr- und schutzlos sind, und das einzige, was ihr jetzt noch den Arsch retten kann, die verhasste Westbindung und die vermaledeite US-Truppenpräsenz sind, in Gestalt lärmbelästigender Tiefflieger oder Raketendepots (und das mehr als je zuvor), gegen die sie seit Jahrzehnten pazifistisch anstänkert.

Auch die Flüchtlingsfreaks wissen nicht mehr, wie ihnen geschieht. Stammelnd empören sie sich über die angebliche Heuchelei und Doppelmoral, den „Rassismus“ von Polen und Ungarn, die nun eine beispiellose Flüchtlingsaufnahmebereitschaft an den Tag legen und ihre Grenzen plötzlich für hunderttausende Ukrainer öffnen – nachdem sie zuvor dieselbe Offenheit gegenüber sogenannten afghanischen, arabischen und afrikanischen „Flüchtlingen“ an der belorussischen Grenzkrise vor drei Monaten missen ließen und überhaupt seit Jahren innerhalb der EU die koordinierte Migrationsaufnahme blockieren.

Na sowas! NICHTS haben deutsche Gutmenschen verstanden: Bis heute begreifen sie nicht den Unterschied zwischen echten Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten, zwischen der humanitär gebotenen temporären Aufnahme von Menschen eines Nachbarlandes (also aus dem regionalen geopolitischen Nahbereich) und kommerziell herumgeschleppten Scheinasylanten.

Auf dem Holzweg – nicht nur Linke

Doch auf dem Holzweg sind dieser Tage viele – und das betrifft nicht nur die abrupt in eine Sinnkrise gestürzten Linken. Auch viele auf der mainstreamkritischen Gegenseite wissen nicht mehr, wie ihnen geschieht, und versuchen, die Ereignisse mit ihrem seit Jahren kultivierten Koordinatensystem in Deckung zu bringen – was fast immer auf die Reproduktion prorussischer Propaganda bei gleichzeitiger Pflege antiamerikanistischer Ressentiments hinausläuft. In ihrer rasenden Wut auf die vermeintlich expansive und aggressive NATO als eigentlicher „Kriegstreiber“ ihrem blinden US-Hass plegen sie eine Dämonisierung in Generalklauseln. Alleine schon ihre Aufrechnung von Angriffskriegen „der USA“ krankt an dem Denkfehler, es handele sich bei „den USA“ um eine epochenübergreifend interessenkonforme, homogene finstere Macht – eine Sichtweise, die man sich gerade als Deutscher zu Recht verbittet. Denn so wie „die Deutschen“ von heute mit den Deutschen vor 50, vor 80 oder 120 Jahren nichts mehr gemein haben (und für deren damalige Verirrungen   nicht verantwortlich sind), haben auch „die USA“ von heute nichts mit denen von vor 40 Jahren (oder auch nur denen vor vier Jahren) zu tun. Regime-Changing-Coups der Nachrkriegszeit, Stellvertreterkriege und geopolitische Machtsicherungaktionen des Kalten Krieges können nicht aufgerechnet werden gegen heutige Verfehlungen Russlands.

Viele hierzulande, denen Russland in dieser Krise als die „ehrlichere“, authentischere, anständigere und legitimer operierende Partei erscheint, sind wie die Maden im Speck einer bald 80-jährigen Friedensordnung im Schutz der USA aufgewachsen. Sie sollten es eigentlich besser wissen. Wenn das „imperialistische US-Fremdherrschaft” war, dann gab es jedenfalls nichts Angenehmeres je auf deutschem Boden. So, wie verwöhnte, pubertierende Kinder ihre Eltern verteufeln, denen sie doch von Freiheit über Wohlstand bis Sicherheit alles verdanken, so projizieren sie ihren Zorn auf das eigene System. Die inflationäre Anprangerung von vermeintlichem „Faschismus“ und „Zensur“, auch der „Diktatur”-Begriff (als Warnung vor gefährlichen Tendenzen zwar in der Corona-Krise durchaus berechtigt) hat sie Leder dafür blind gemacht, dass wir von der Verwirklichung dieser Zustände natürlich Lichtjahre entfernt sind und (noch) in der Frühphase zu wehrender Anfänge stecken.

Tatsächlich erreicht sind solche Verhältnisse hingegen sehr wohl bereits bei ihren Anti-Helden Russland; doch dort werden sie verleugnet oder ignoriert. Manche Vertreter der hiesigen Gegenöffentlichkeit sollten doch einmal so die Regierung in Russland attackieren, wie sie es auf Telegram oder auch auf den freien Medien – jedenfalls noch – nach Belieben tun und tun können: Sie würden es nicht überleben überleben, soviel steht fest. Und wer das für „russlandfeindliche Propaganda“ hält, hat schlicht keine Ahnung von den dortigen Verhältnissen – und hat sich mit dortigen Oppositionellen und Journalisten noch nie ausgetauscht.

Dieselbe alte Einseitigkeit

Überhaupt ist das notorische Quellenmisstrauen, so geboten es in Sachen Corona, EU und Migration auch sein mag, für manche hier zur fixen Idee geworden. Sie misstrauen den Medien – aber gleichzeitig mangelt es ihnen ganz offensichtlich an validen Alternativquellen, insbesondere an persönlichen Kontakten zu Ukrainern, zu Russen, zu Betroffenen BEIDER Seiten also: Menschen im Donbas UND Menschen aus der Westukraine. Es ist dieselbe Einseitigkeit, die viele Deutsche auch schon im Jugoslawienkonflikt an den Tag legten. Ihr gebotenes Misstrauen, ihre Kritik gegenüber Medien endet bei ARD und ZDF – und macht sie zugleich blindgläubig für alle Alternatikanäle – auch die, die geschickt ihre Vorurteile bedienen. So kommt es, dass am Ende die einen meinen, habe im Donbas überhaupt keine Diskriminierung von ethischen Russen durch ukrainische Nationalisten gegeben (die es sehr wohl gab) – während im Gegensatz dazu die anderen allen Ernstes überzeugt sind, es habe dort tatsächlich so etwas wie einen achtjährigen „Völkermord“ gegeben, was nicht minder grotesk ist.

Aufgehört selbständig zu denken haben alle gleichermaßen: Nachdem sie zu Recht so etwas wie „westliche Propaganda” der Globalisten – die unstreitig stattfindet – kennengelernt haben, fallen sie umso unkritischer auf die Gegenpropaganda herein, und meinen allen ernstes, die NATO habe Russland bedroht. Worin diese „Bedrohung” je konkret bestanden haben soll, erklären sie nicht; das rein geographische „Näherrücken” alleine ist dabei allerdings noch keine Bedrohung. Meinen sie ernsthaft, die NATO habe Russland eines Tages angreifen wollen – dieser grenz- und weltoffene, antimilitaristische, grunddefensive, linksverweichlichte, passive Westen, der sich nicht einmal gegen Islamisten, IS oder Taliban behaupten konnte?

Nochmals: Die NATO wurde nicht zwangserweitert. Die Völker der seit 1999 von ihr aufgenommenen osteuropäischen Staaten haben vielmehr alles daran gesetzt, um aus den Erfahrungen einer jahrzehntelangen sowjetischen Unterdrückung heraus in Frieden und Sicherheit fortexistieren zu können – und als sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte über ihre Bündnisse und ihre Orientierung frei entscheiden durften, da zog es sie nicht in Richtung des „friedlichen“ Russland – sondern hin zum „verbrecherischen“ Westen und in die „kriegerische“ NATO. Wer immer hier mit naiven Landkartenbildern ein „Näherrücken“ kritisiert, tritt das Selbstbestimmungsrecht der Einwohner dieser Länder mit Füßen – und sollte sich vielleicht einmal in deren Position hineinversetzen. Hilfreich sind Gespräche mit Zeitzeugen aus dem Baltikum und anderen Staaten des Ex-Ostblocks.

Taktische Geschichtslegenden

Und nochmals zum Mythos des gebrochenen Versprechens: Wer schon irgendwann einmal einen Vertrag mitausgehandelt hat, sollte eigentlich wissen, dass während der Verhandlungen wird viel gesagt und zugesichert wird von beiden Seiten – doch am Ende steht dann eben ein Kompromiss, eine Einigung, und die wird fixiert. Diese war im konkreten Fall der 2+4-Vertrag – und darin fand sich am Ende eben KEIN Passus über ein Verbot der NATO-Osterweiterung. Die Sowjetunion hätte auf diese ja bestehen können; Fakt aber ist: sie tat es nicht. Damit sind dann auch alle früheren angeblichen Verlautbarungen obsolet.

Warum außerdem sollte ausgerechnet der dauermisstrauische, alles andere als naive Kreml auf das „Wort” einzelner Verhandlungsführer mehr vertraut haben als auf die Schriftform – zumal er wusste, dass dieses ohne spätere parlamentarische Ratifizierung nichts gilt – und darauf verzichtet haben, eine derart entscheidende Passage im fertigen Vertrag aufzunehmen? Wie dem auch sei – nochmals, ich wiederhole mich gerne: Dieser Vertrag wurde vor 32 Jahren abgeschlossen mit der UdSSR – nicht mit Russland – und wurde bezeichnenderweise von Moskau nie in Frage gestellt, als dann die entscheidenden, heute so getadelten NATO-Osterweiterungsrunden (vor allem zwischen 1999-2004) tatsächlich stattfanden. Erst viel später, als es Putin zur Begründung revanchistischer Terroritorialansprüche in den Kram passte, wurde dieser Scheinpassus ins Feld geführt.

Wer eine Ursache des Ukraine-Konflikts alleine oder vorrangig in der NATO-Osterweiterung sieht, fällt daher auf eine geniale russische Verschleierungstaktik herein. Irgendwelche „Sicherheitsinteressen” Russlands sind tatsächlich nur ein Vorwand, um eine großrussisch-imperialistische Restitutionspolitik betreiben zu können. Das genau selbe Muster zeigt(e) sich nämlich auch in anderen Grenzregionen Russlands, wo weder die NATO vor den Toren steht noch ihre Erweiterung ein Thema wäre: In Tschetschenien, Inguschetien, Abchasien bzw. Ossetien folgten die Ereignisse inklusive militärischer Souveränitätsverletzungen exakt derselben Regie, derselben Repatriierungs- und Destabilisierungsmasche wie im Falle von Krim und Donbass. Und die russischen Kriegsverbrechen in Syrien waren sicher auch keine erwartbare Reaktion eines fahrlässig, böswillig auf Messer gereizten „russischen Bären“, sondern reiner geostrategischer Geltungsdrang und aggressive Hegemonialpolitik Putins, vorgeblich gegen eine US-Dominanz im Nahen Osten – und in Wahrheit wohl auch eine Art Testlauf, ganz so wie 1936 der Spanische Bürgerkrieg für die deutsche Luftwaffe.

Nützliche Idioten Moskaus

Ich habe bereits wiederholt ausgeführt, dass der Westen mehrfach entsetzlich undiplomatisch agiert und Russland bei verschiedenen Anlässen ein Gefühl der Geringschätzung vermittelt hat; dies steht außer Frage. Aber die, die ihm deshalb eine Schuld an den jetzigen Ereignissen geben oder Putins Feldzug gar als stabilisierende „Korrekturmaßnahme“ euphemisieren, machen sich zu nützlichen Idioten Moskaus. Sie sind die zeitgenössische Entsprechung der Hitler-Apologeten in den Dreißigern, die damals fest glaubten, Hitler gehe es nur um die Sicherstellung deutscher Sicherheitsinteressen im Ausland und letztlich um eine tragfähige Friedensordnung; ein tödlicher Irrtum. Hätten sie „Mein Kampf” gelesen, hätten sie gewarnt sein können. Von Putin existiert zwar keine analoge Schrift – doch in den zahllosen Reden seiner 23-jährigen Regentschaft hat er nie einen Hehl daraus gemacht, dass er a) Russland als Nachfolger des Sowjetimperiums sieht, b) dessen Restitution anstrebt und c) die Sicherung des russischen Volkstums auch im Ausland über die nationale Integrität der jeweiligen Staaten stellt.

Doch selbst wenn die „Putinisten“  mit ihrer Einschätzung im Recht wären und Russland in der Ukraine legitime Interessen verfolgte: Dann wäre die Wahl der Mittel dennoch so inakzeptabel, so fürchterlich inakzeptabel und anachronistisch, dass jede weitere Diskussion darüber entbehrlich würde. Die raunenden Salonlöwen aus der sicheren westlichen Etappe beweisen mit ihrer sesselfurzerischen Altklugheit („jetzt wird da aufgeräumt!„) nur ihre eigene Selbstvergessenheit und infantile Ahnungslosigkeit, was Krieg und Entbehrung eigentlich sind – und eine unerträgliche Empathielosigkeit gegenüber dem ukrainischen Volk. Sie sind damit leider nicht minder realitätsfern wie die Klima-Straßenkleberkids oder die Friedensdemonstranten.

Noch absurder ist übrigens die kritiklose Übernahme einer weiteren russischen Propaganda-Stanze – der Behauptung nämlich, die aktuelle Invasion richte sich in erster Linie gegen ein „Nazi-Regime“ in Kiew. Dass diese Desinformation dieser Tage vor allem von vielen geglaubt wird, die sich selbst als Impfgegner und  Corona-Maßnahmenkritiker bekennen, die sich zu Recht gegen die staatliche Diffamierung aller Spaziergänger und Querdenker als „Nazis” wehren, haut dem Fass den Boden heraus. Wie verblendet kann man sein – und hier nicht die identische Diffamierungsstrategie erkennen, der man im eigenen Land selbst gerade zum Opfer fällt?

Der Kiewer Nazi-Mythos

Tatsache ist: Mit „Neonazis” hat die ukrainische Regierung in Kiew noch weniger gemein als die deutsche Corona-Protestbewegung. Es ist immer eine Frage der Gewichtung: Wer schlaglichtartig nach den Nestbeschmutzern fahndet, wird freilich immer fündig. Fakt aber ist, dass extremistische Milizen und Ultranationalisten von der russischen Propaganda massiv überhöhte Begleiterscheinungen sind und waren, erstmals erhoben zur Delegitimierung der Maidan-Proteste 2014. Die Sammelbewegung Selenskyis, die Partei Sluha Narodu, bedient ein bewusst weitgefasstes Spektrum, und wird sicherlich keine Ausschlussverfahren gegen Ultrarechte durchführen; auch mag die Führung in Kiew korrupt sein. Und dass sie ohne Zweifel untätig geblieben ist, als ukrainische Extremisten im Donbas den Russen über Jahre hinweg den Vorwand für ihre Intervention lieferten, mag ebenfalls dahinstehen (obwohl viele der dortigen „antirussischen“ Scharfschützen wohl in Wahrheit separatistische Agents provocateurs waren, die die letzte eingetretene Eskalaition seit Jahren herbeiführen wollten – so wie auch beim MH17-Flugzeugabschuss vor acht Jahren) . Aber sie ist ganz sicher keine „Nazi-Regierung“ und aufgrund ihres Rückhalts in der Bevölkerung erst recht nicht illegitim.

Wenn nun ausgerechnet in Deutschland Russland-Unterstützer eine imperialistische Sichtweise übernehmen, jahrhundertealte Vertragsnoten oder Verträge zur Bestreitung einer ukrainischen Souveränität anzuführen, um damit einen Angriffskrieg zu rechtfertigen, dann zeugt dies von intellektuellen und historisch-moralischen Untiefen. Wer so argumentiert, der müsste dann konsequenterweise auch applaudieren, wenn morgen Polen oder das Baltikum unter Berufung auf den Frieden von Tilsit oder Schönbrunn von der Landkarte getilgt werden, oder das Elsass und Südtirol „zurückgeholt“ werden. Es ist genau diese geschichtsrevisionistische Idiotie, die sich derzeit 700 Kilometer südöstlich unserer Grenze Bahn bricht.

Man kann sehr vieles kritisieren am freien Westen, und es gibt beileibe viele gute Gründe, einem tendenziell totalitär gedachten Globalismus samt supranationalistischen Herrschaftsbestrebungen gewisser Eliten entschlossen entgegenzutreten, der sich in Corona-Zeiten überall breitmacht und seinen Einfluss auf Medien, Politik und Gesellschaft ausbaut. Doch das bedeutet nicht, dass die Integration im westlichen Bündnis mit einer in der Geschichte Europas beispiellosen Friedensära kein Segen und keine Erfolgsstory war, die es unbedingt zu bewahren gilt. Wer hier Gegenteiliges vertritt, ist geschichtsvergessen, revisionistisch und blind.

Nicht nur auf Kronzeugen der Gegenpropaganda hören

Vielleicht hülfe es manchem ja schon weiter, wenn er keine blasenimmanenten selektiven Testimonials und Verstärkerstatements der eigenen Position konsumiert und stets nur den Kronzeugen der Gegenpropaganda zuhört – sondern sich zur Abwechslung einmal mit stinknormalen Durchschnitts-Polen, -Tschechen oder -Ungarn unterhält, die noch den 1956er Volksaufstand, den Prager Frühling oder die Verhängung des Kriegsrecht in Polen 1981 erlebt haben.

Ihnen können sie ja gerne einmal ihr Leid klagen, wie entsetzlich es doch seit 75 Jahren ist, im faschistischen Westen unter der schlimmen Fuchtel der US-Verteidigung und „Besatzung“ gelitten zu haben! Ist es nicht seltsam, dass alle Welt ebendiese finsteren, US-versklavte Scheinfreiheit den Kleptokratien des Ostens vorzieht, und alle Schutzsuchenden und Glücksritter dieser Welt stets nur „Go West“ im Sinn haben? Wie leicht es doch ist,  aus der Wohlstandsblase heraus Frieden in Aggression umzudeuten und Krieg als Friedenssicherung, als humanitäre Aktion zu verbrämen – und einem Diktator zu huldigen, bloß weil er denen die Stirn bietet, derer man vor der eigene Haustür überdrüssig ist oder nur noch ohnmächtige Verachtung übrig hat! Das Reflexionsvermögen reicht bei vielen offenbar nicht weit genug, um zu verstehen, dass das Regime des hier beklatschen Gegenmodells noch ungleich skrupelloser ist.

Fast ist man geneigt, den Verharmlosern und Apologeten der Verhältnisse in Russland dasselbe zuzurufen, was vor 1989 DDR-Fans und „Detente”-Fetischisten, Kremlfreunden und „Honni”-Verniedlichern an den Kopf geworfen wurde (und das zu Recht): Dann geht doch rüber! Bezogen auf die Gegenwart hieße das: Dann zieht doch nach Russland – oder nach Transnistrien, auf die Krim oder gleich in den Donbas (wo demnächst viele Wohnungen leerstehen) – und erfreut euch dieses Paradieses! Aber kommt dann bloß nicht wieder, wenn euch dort die Augen übergehen und ihr urplötzlich gewisse Unterschiede zum fundamentalverhassten Westen ausmachen sollten… Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis.

The post Verirrungen und Brüche überall first appeared on Ansage.

Ähnliche Nachrichten