Dieser Text ist zuerst auf Apolut erschienen. Transition News durfte den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Autors übernehmen.
Mit der Proklamation der Zeitenwende vor über einem Jahr schmeisst Bundeskanzler Scholz fünfhundert Jahre europäischen Fortschritt auf den Müllhaufen. Die Opfer dieser famosen Zeitenwende liegen buchstäblich auf der Strasse. Doch es gibt eine Zeitenwende – zugunsten einer neuen friedlichen Weltordnung.
Der allseits geliebte Ampel-Kanzler Olaf Scholz hat vor über einem Jahr, drei Tage nach der militärischen Spezialoperation der russischen Streitkräfte in der Ukraine, eine Zeitenwende ausgerufen. Bei seiner Regierungserklärung am 27. Februar letzten Jahres sagte Scholz wörtlich:
«Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Grossmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus (…) Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung.» (1)
Und es überkam die deutschen Eliten ein wahres Pfingstwunder. Besonders Grüne, FDP-Liberale («lieber Aal als liberal»), aber auch die Konservativen von CDU und CSU wandeln seitdem mit fiebrigem Blick durch die Lobby-Korridore der Parlamente und murmeln das Mantra von der phänomenalen Zeitenwende. Die selbsternannte Gesellschaft für Deutsche Sprache kürte dann zum Jahresende «Zeitenwende» zum Wort des Jahres 2022 (2).
Anstatt dass diese Gesellschaft für Deutsche Sprache alle Kräfte einsetzt, um eben diese deutsche Sprache vor ihrer Abschaffung durch die Flutung von idiotischen Anglizismen zu retten, betätigt sich eben diese Sprach-Gesellschaft als verlängerter Arm der Öffentlichkeitsabteilung der Rüstungsindustrie. Und die ARD trommelt für den grossen Waffengang und macht schon mit dem Titel ihrer Sendung klar, was genau unter «Zeitenwende» zu verstehen ist.
Der Titel der Abendsendung lautet nämlich: «Können wir Krieg? – Bundeswehr in der Zeitenwende» (3). Ich will hier gar nicht als Mensch ohne jede Macht fruchtlos den Mond anbellen. Aber es ist natürlich schon einmal ein ungeheuer dreister Tabubruch. In diesem saloppen Neusprech der Werbeindustrie mal eben nach siebzig Jahren den Frieden als politisches Ziel über Bord zu schmeissen und da wieder anzusetzen, wo Adolf Hitler aufhören musste – das ist nicht mehr in angemessene Wort zu fassen.
Bevor wir uns den praktischen Folgen dieser Zeitenwende zuwenden, schauen wir uns doch einmal an, welches Geschichtsverständnis (oder besser: Geschichtsunkenntnis) der Rede von Scholz am Tag drei der russischen Militäroperation in der Ukraine zugrunde liegt. Und davor noch einmal: selbstverständlich hat diese «Zeitenwende»-Rede nicht Olaf Scholz selber geschrieben.
Sie ist ihm zum Aufsprechen von Geisterschreibern aus Denkfabriken, Unternehmensberatungsfirmen und geopolitischen Abteilungen der grossen Banken auf den Tisch gelegt worden. Diese Alpha-Politiker haben gar nichts zu bestimmen. Sie sind die Kellner. Gekocht und garniert wird die Politik ganz woanders. Ob Scholz überhaupt Zeit und Musse besass, die Rede einmal vorher zu lesen und deren Sinn oder Unsinn zu verstehen, ist eher unwahrscheinlich. Schauen wir uns noch einmal folgende Sätze aus der legendären Regierungserklärung genauer an. Scholz sagt:
«Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Grossmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreiber wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.»
Wer sich ein bisschen auskennt in der Geschichte des 19. Jahrhunderts, wird doch an dieser Stelle schon stutzig. Was war denn so schlimm an der «Zeit der Grossmächte» im 19. Jahrhundert?! Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde der entsetzliche Dreissigjährige Krieg beendet, weil alle Kriegsteilnehmer völlig ausgelaugt waren. Dieser Friedensschluss führte zum Westfälischen System, an dem sich bis zur Zeitenwende von Herrn Scholz alle Politiker orientiert haben.
Das heisst: es besteht für alle verpflichtend ein Gleichgewichtssystem der Grossmächte, die darauf achten, dass keiner ausschert und die anderen unterjocht und etwa jemand auf die Idee kommt, eine unipolare Weltordnung zu etablieren. Dass also nicht eine Grossmacht nach eigenem Gutdünken gesetz- und rücksichtslos die ganze Welt terrorisiert. Das hatte auch eine ganze Zeit lang wunderbar funktioniert. Bis dann Napoleon mit seiner überlegenen Kriegsführung ausscherte und genau diese unipolare Weltordnung anstrebte, die alle vermeiden wollten.
Doch Napoleon hatte sich übernommen. Sein Feldzug gegen Russland scheiterte erbärmlich. Dieser unipolare Ausbruch hatte eine furchtbare Blutspur der Verwüstung erbracht. Die anderen Grossmächte tüteten dann Napoleon in der Schlacht von Waterloo endgültig ein. Es folgte das im Grossen und Ganzen friedliche 19. Jahrhundert, sieht man mal vom Krim-Krieg und vom Preussisch-Französischen Krieg von 1870 ab.
Das Gleichgewicht der Mächte, die unipolare Ordnung, wurde beim Wiener Kongress 1815 wieder hergestellt. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit der zunehmenden Freiheit und der fortwährenden Besserung der Lebensbedingungen.
Die Stadtmauern wurden endgültig geschleift und der Mensch konnte eine befriedete Natur zum ersten Mal geniessen. Offenbar sind diese Verhältnisse für unseren Bundeskanzler Scholz etwas ganz Schreckliches, und Herr Putin führt uns nach seinen Aussagen in diese schreckliche Zeit zurück. In diese schrecklichen Zeiten des Mächtegleichgewichts und des Ausgleichs (4).
Spinnen wir den Faden noch ein bisschen weiter. Mit dem Ersten Weltkrieg war das Westfälische System gewaltsam beendet worden. Die ehemaligen Grossmächte Europas waren nur noch klägliche zusammengefaltete Trümmer. Die Politik bestimmten von jetzt ab US-amerikanische Grossbanken.
Diese sorgten durch die Gründung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich auch gleich dafür, dass der Zweite Weltkrieg wirklich nicht durch Zahlungsunfähigkeit vorzeitig beendet werden musste, wie das im Ersten Weltkrieg beinahe für Grossbritannien und Frankreich zutraf.
Während des ganzen Zweiten Weltkriegs sassen die Chefs der Zentralbanken aller kriegführenden Parteien – Freund und Feind – einträchtig zusammen und beratschlagten, welchem womöglich notleidenden Kriegsstaat mit Geldinfusionen unter die Arme gegriffen werden musste. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es dann nur noch eine Grossmacht, die ihre Regeln dem Rest der Welt aufzwingen konnte: die Vereinigten Staaten von Amerika nämlich (5).
Die USA zettelten einen Krieg nach dem anderen an. Die Sowjetunion war eigentlich nur der Juniorpartner in einem unipolaren Weltspiel und die wurde dann ja auch mit einem «Schnipp!» der Finger in den 1980er Jahren mal eben so von der Bühne geblasen.
Danach gab es bekanntlich nur noch eine Weltmacht, begleitet vom proklamierten «Ende der Geschichte». Die ganze Welt musste mit geballten Fäusten in der Jackentasche den Prügelorgien des Cowboys aus dem Wilden Westen zuschauen. So viele illegale Kriege mit unbeschreiblichem Leid und Leichenbergen und verwüsteten Städten. So. Und jetzt schauen wir uns noch einen anderen Satz aus Olaf Scholz seiner «Zeitenwende»-Rede an. Scholz sagt:
«Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung.»
Exakt auf den Punkt gebracht, Herr Scholz! «Unsere gesamte Nachkriegsordnung». Das ist die unipolare Weltordnung, in der einer ungestraft alles machen kann, was ihm in den Kopf schiesst. Wenn Herr Putin diese schreckliche Ordnung bedroht, dann hat er sich verdient gemacht um die Wiederherstellung des Westfälischen Systems.
Und tatsächlich zeichnet sich gerade eine Wiederherstellung der Westfälischen Ordnung auf weltweiter Bühne vor unseren Augen ab. Während die USA gerade von schrecklichen Bandenkriegen zwischen Bidenisten und Trumpisten zerrissen werden, kümmern sich andere Mächte um den friedlichen (Wieder)Aufbau der Welt.
Es entsteht eine Weltordnung mit China, Russland, Indien, Brasilien, Saudi-Arabien, den südostasiatischen Staaten und Südafrika, die sich gerade in ein neues wirklich regelbasiertes Weltsystem eingliedern.
Für den Kontinent Europa, der das Westfälische System dereinst erschaffen und erfolgreich praktiziert hat, sieht es derweil schlimm aus. Im festen Würgegriff proamerikanischer Netzwerke haben wir Politiker, die sich nicht ihrem Heimatland verpflichtet fühlen, sondern einzig und allein den irrsinnigen Vorgaben aus Washington. Verstrickt in Korruption, Dummheit und Perversität, taumeln diese Existenzen von einem Irrtum zum nächsten.
Erneuerungsbewegungen werden von der Aufstandsbekämpfung der USA, der Counterinsurgency, rechtzeitig erkannt und von innen her zerlegt. Die Vasallenpolitiker der USA betreiben unbeirrt ihr Werk der Zerrüttung der Nationalstaaten.
Unser Finanzminister lenkt das Raumschiff BRD konsequent in den Abgrund. (…) 100 Milliarden «Sondervermögen» hier, dort 200 Milliarden «Doppel-Wumms». Währenddessen sieht man immer mehr Obdachlose auf der Strasse. Behörden und Ämter kollabieren. Krankenhäuser sind am Ende. Wir bekommen eine Zeitenwende. Dafür sorgt die Weltgemeinschaft.
Die Zeitenwende führt uns zurück zum Westfälischen Friedenssystem. Zum Schluss noch einige Worte des Historikers Ludwig Dehio, der in der Nazi-Ära sein Buch über Machtgleichgewicht oder Hegemonie heimlich im Archiv geschrieben hat, weil die Nazis genauso wie die USA keine Sympathie für ein Machtgleichgewicht hatten. Nach dem Ende des Krieges schickte er seinem Buch folgende Sätze voraus:
«Es ist unsere Pflicht, die Möglichkeiten des Augenblickes, ob gross oder klein, zu nutzen. Es gilt die Bewahrung vor einem Fellachendasein, das ohne Vergangenheit und ohne Zukunft allein im täglichen Kampfe ums Dasein aufginge. Es gilt die Rettung unserer geistigen Persönlichkeit, die seit einem halben Menschenalter tödlich bedroht ist.» (6)
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Hermann Ploppa ist Politologe und Publizist. Er hat zahlreiche Artikel über die Eliten der USA veröffentlicht, unter anderem über den einflussreichen Council on Foreign Relations. Er schreibt unter anderem für Rubikon und Apolut.
Quellen und Anmerkungen
(1) Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022:
(2) https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/zeitenwende-wort-des-jahres-101.html
(4) Unter vielen anderen Studien zum Kräftegleichgewicht des Westfälischen Systems: Ludwig Dehio Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Zürich 1996.
(5) Ausführlich dargelegt in: Hermann Ploppa Der Griff nach Eurasien – Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland“ Marburg 2019.
(6) Ludwig Dehio s.o. S.7.