Im Namen der sogenannten Wettbewerbsfähigkeit wollen Lobbyist:innen Subventionen abgreifen und erreichen, dass Unternehmen vor Gesetzen verschont bleiben, die gut für das Gemeinwohl sind. Über eine problematische Agenda, die die nächsten fünf Jahre der EU prägen könnte.
Der Ruf nach mehr Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft ist in aller Munde. Was harmlos klingt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als problematische Forderung. Denn die Befürworter:innen meinen damit niedrigere Steuern, mehr staatliche Beihilfen und weniger gesetzliche Regeln für Unternehmen in Europa. Das bedeutet damit auch weniger Regeln zum Schutz der Umwelt, der Beschäftigten und der Verbraucher:innen. Diese Agenda könnte zu einer Stärkung der Monopolmacht der Konzerne statt zu mehr Wettbewerb führen.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ist es den Lobbyverbänden in den vergangenen Jahren gelungen, der Forderung nach Wettbewerbsfähigkeit in Brüssel immer mehr Gehör zu verschaffen und damit die Weichen für einen immer größeren Einfluss der Konzerne auf die EU zu stellen.
Ein deutliches Zeichen dafür: In der zu Ende gehenden Legislaturperiode war der Green Deal mit seinen zahlreichen Regelungsvorschlägen zum Klima- und Umweltschutz das „Man-on-the-Moon-Projekt“ von Ursula von der Leyen. Bei ihrer erneuten Kandidatur als Kommissionspräsidentin musste sie sich allerdings in der Union dazu bekennen, die Unternehmen nicht mit neuen Umweltauflagen zu „belasten“.
Heute und morgen (17./18.4.) diskutieren die Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel die strategische Ausrichtung der EU für die nächsten fünf Jahre. Zeit für einen kritischen Blick auf die problematische Agenda der Wettbewerbsfähigkeit und den Lobbyeinfluss dahinter.
Lobbyarbeit der Unternehmensverbände
Im November 2022 veröffentlichte der mächtige europäische Arbeitgeberverband Businesseurope die „Stockholm Declaration“. Mit dieser wollte der Lobbyverband der europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände Einfluss auf die anstehende schwedische Ratspräsidentschaft nehmen.
Als zentrales Anliegen nannte das Lobbypapier den Erhalt der „Wettbewerbsfähigkeit von KMU und größeren Unternehmen“. Damit war eine „regulatorische Atempause“ gemeint, also weniger Regeln und Vorschriften für Unternehmen.
Nur wenige Monate später veröffentlichte die EU-Kommission im März 2023 eine umfassende Agenda zur langfristigen Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der EU. Diese wurde im Auftrag der Ratspräsidentschaft von Tschechien erarbeitetet. Auch hier wurde Wettbewerbsfähigkeit mit Deregulierung, also weniger Regeln für Unternehmen, gleichgesetzt. In dem Papier schlägt die Kommission vor, einen neuen Wettbewerbsfähigkeits-Check einzuführen, um zusätzliche „Belastungen“ für Unternehmen zu vermeiden.
Der deutsche Industrieverband BDI freute sich über die Vorschläge. Businsseurope wiederholte in einem Brief an Ursula von der Leyen die Forderung nach einer „regulatorischen Atempause“, um den „Wettbewerbsvorteil der europäischen Unternehmen wiederherzustellen.“ In Deutschland spricht der BDI immer wieder von einem sogenannten Belastungsmoratorium, was letztlich gleichzusetzen ist mit der regulatorischen Atempause.
Die Lobbyarbeit der Industrie trug Früchte in der Politik: Besonders offen für die Lobbyargumente zeigten sich die konservativen Parteien. So schlug die CDU/CSU schon 2022 im Europäischen Parlament ein „europäisches Bürokratie-Moratorium“ vor: Zahlreiche Projekte im Rahmen des Green Deal sollten, aufgrund der gestiegenen Belastungen durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, verschoben oder auf Eis gelegt werden.
Im November 2023 wurde in Brüssel die Initiative Europe Unlocked ins Leben gerufen. Finanziert wird die Initiative von Svenskt näringsliv, dem schwedischen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband. Organisiert wird sie von Dentons Global Advisors, das ist eine der größten Lobbyagenturen in Brüssel. Ziel der Initiative ist es, neue Regelungen, die z.B. im Rahmen des Green Deal eingeführt werden sollen, als problematisch zu framen. Zentrales Stichwort ist auch hier die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.
Ein weiterer Erfolg der Kampagne der Wirtschaftsverbände ist die „Antwerp Declaration for a European Industrial Deal“. Diese wurde im Februar 2024 bei einem Treffen der europäischen Chemieindustrie mit hochrangigen Politiker:innen verabschiedet. Sie fand ausgerechnet auf dem Gelände der BASF statt. Der Konzern hat in dieser Wahlperiode neue Regeln zum besseren Schutz vor giftigen Chemikalien verhindert, LobbyControl berichtete. In der Erklärung wird gefordert, die Wettbewerbsfähigkeit zur strategischen Priorität zu machen. Als erste Initiative solle die neue EU-Kommission „Korrekturen“ an allen bestehenden relevanten EU-Gesetzen gleichzeitig beschließen.
An dem Chemiegipfel nahm auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teil. Dieser Gipfel symbolisiert in besonders eindrücklicher Weise die Problematik des privilegierten und unausgewogenen Zugangs von Konzernen zur Politik: Hochrangige Politiker:innen treffen sich mit Führungskräften aus der Chemiebranche, die kritische Öffentlichkeit muss dagegen draußen bleiben. Gemeinsam mit 72 anderen Organisationen haben wir dagegen protestiert.
Wettbewerbsfähigkeit, auch bekannt als Deregulierung
Mit dem Narrativ, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stehe auf dem Spiel, verfolgen die Wirtschaftsverbände das zentrale Ziel, strengere Regeln für Unternehmen zu verhindern. Zum Beispiel beim Klimaschutz, bei Arbeitsbedingungen oder bei strengeren Regeln für große Tech-Konzerne.
Solche Narrative (Erzählungen) verstärken als Hintergrundrauschen den Einfluss auf konkrete Gesetze. Erfolgreich erzählte Narrative sind sehr wirkungsvoll und werden deshalb nicht dem Zufall überlassen. Bei dieser Kommunikationsstrategie geht es darum, die Botschaft so oft wie möglich zu wiederholen. So werden immer wieder die gleichen Argumente vorgebracht, egal um welches Thema oder Gesetz es sich handelt und welche Punkte genau kritisiert werden. Es geht schlicht darum, den Ton der Debatte zu bestimmen.
Die Interpretation von Regulierung als Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit offenbart ein problematisches Politikverständnis. Politisches Handeln im Sinne des Gemeinwohls wird als Problem wahrgenommen und Unternehmensinteressen als entscheidend für das Wohl der Gesellschaft dargestellt. Damit wird einseitiger Lobbyeinfluss der Wirtschaft legitimiert und Regulierungsvorhaben unter hohen Rechtfertigungsdruck gesetzt. Der Ruf nach mehr Deregulierung im Namen der Wettbewerbsfähigkeit führt so zu immer höheren Hürden für dringend notwendige ökologische und soziale Anliegen.
Dabei lässt sich Wettbewerbsfähigkeit durchaus anders interpretieren: Als Verstärkung des Wettbewerbs um die besten Lösungen für eine zukunftsfähige Wirtschaft durch mehr Innovation. Politische Vorgaben und Anreize sind dann durchaus wichtig, um den Unternehmen die Richtung ihrer Wirtschaftstätigkeit zu weisen. Die deutsche Automobilindustrie beispielsweise hat den Moment für den Wandel hin zur Elektromobilität beinahe verpasst. Schuld daran ist auch die deutsche Politik, die über Jahrzehnte die Blockaden der Autoindustrie gegen härtere Grenzen für CO2-Emissionen unterstützt hat, statt einen Aufbruch mit politischen Maßnahmen zu unterstützen.
Das Ziel sollte also nicht sein europäische Champions zu züchten und mit Subventionen zu füttern und dafür wichtige Regeln im Sinne des Gemeinwohls zu opfern, sondern mit beherztem Vorgehen gegen Marktkonzentration für mehr Innovation zu sorgen.
„Ein neuer europäischer Deal zur Wettbewerbsfähigkeit“
Auch für Ursula von der Leyen hat das Thema Wettbewerbsfähigkeit eine hohe Priorität. Laut Handelsblatt bereitet sich die Kommissionschefin darauf vor, „die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zum zentralen Thema einer möglichen zweiten Amtszeit zu machen“. Bereits in ihrer Rede zur Lage der Union im September 2023 hatte sie angekündigt, Europa werde alles tun (whatever it takes), um seinen Wettbewerbsvorteil zu erhalten.
Um dies zu erreichen, kündigte sie in ihrer Rede einen Bericht an, der vom ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und Ex-Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, zur Wettbewerbsfähigkeit erarbeitet werden soll. Zusammen mit dem Bericht des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta über den europäischen Binnenmarkt soll er die Arbeitsgrundlage der EU-Kommission nach den Wahlen bilden. Heute und morgen (17./18.4.2024) diskutiert der Europäische Rat, also das Gremium der Regierungschef:innen, die strategische Ausrichtung für die nächsten fünf Jahre. Auf der Tagesordnung steht „Ein neuer europäischer Deal zur Wettbewerbsfähigkeit“.
Konzernfreundliche Ausrichtung der EU
Schon jetzt ist die EU zu konzernfreundlich ausgerichtet. Grundlage dafür ist die sogenannte „bessere Rechtsetzung“ (better regulation agenda). Was zunächst positiv klingt, verbirgt ein zutiefst problematisches Konzept. Es hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass in der EU-Gesetzgebung wirtschaftspolitische Aspekte wesentlich stärker berücksichtigt werden, als beispielsweise beschäftigungs- und umweltpolitische Belange.
Ziel der „besseren Rechtsetzung“ ist es, die Kosten von Regulierung für Unternehmen zu senken. Regulierung wird demnach vor allem als Belastung und Kostenfaktor für Unternehmen gesehen. Gleichzeitig wird sichergestellt, dass neue Vorschriften so eng wie möglich sind und die Wettbewerbsfähigkeit, d.h. die Gewinne der Unternehmen, nicht beeinträchtigt werden.
Durch diese „neuen europäische Deal zur Wettbewerbsfähigkeit“ droht die einseitige Ausrichtung auf Deregulierung in der EU noch größer zu werden.
Regulatory Scrutiny Board
Die EU-Gesetzgebung ist für viele Bürger:innen schwer nachvollziehbar. Das liegt auch daran, dass wichtige Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Besonders problematisch – aber weitgehend unbekannt – ist die Rolle des Regulatory Scrutiny Board (RSB, Ausschusses für Regulierungskontrolle). Immer wenn die EU-Kommission ein wichtiges Gesetz plant, prüft dieses Gremium, welche Auswirkungen die Kommission von dem Gesetz erwartet. Damit sorgt es dafür, dass die konzernfreundliche „better regulation agenda“ in der Gesetzgebung beachtet wird.
Problematisch sind vor allem die Kriterien, die das RSB für seine Bewertung nutzt. Das Hauptaugenmerk des RSB liegt auf wirtschaftlichen Auswirkungen. Sind diese aus RSB-Sicht zu negativ, muss die Kommission ihre Bewertung überarbeiten. Reicht auch die Überarbeitung nicht aus, kann das RSB sogar ein Veto einlegen.
Damit hat das RSB zu einem frühen Zeitpunkt großen Einfluss auf die EU-Gesetzgebung und trägt dazu bei, dass die kurzfristigen Kosten für Unternehmen stärker berücksichtigt werden, als der langfristige Nutzen für die Gesellschaft. Ausführliche Informationen hier.
Deregulierungs-Befürworter sollte Mittelstandsbeauftragter werden
Einen weiteren Baustein in der Debatte um Bürokratie und angebliche Regulierungswut in Brüssel stellt das neu geschaffene Amt des/der Mittelstandsbeauftragten dar: Die Stelle ist hochrangig und soll direkt an die Kommissionspräsidentin von der Leyen berichten. Sie hat damit eine einflussreiche Rolle innerhalb der EU-Kommission.
Es ist zwar korrekt, dass kleinere Unternehmen bei der Umsetzung neuer Gesetze und Vorschriften gegenüber den großen Konzernen mit ihren personellen Ressourcen nicht benachteiligt werden dürfen. Dennoch steht zu befürchten, dass das Amt missbraucht wird. Der für den Job vorgesehene CDU-Abgeordnete Markus Pieper gab dieser Befürchtung weiteres Futter. Er hat sich u.a. in der Vergangenheit wiederholt für Deregulierung ausgesprochen und eine Stärkung des Regulatory Scrutiny Boards gefordert. Im März 2023 schlug er eine „Regulierungsbremse“ vor und warnte vor „ökologischer Überregulierung“.
Seit Wochen wurde in Brüssel kontrovers über die Ernennung von Markus Pieper (CDU) zum Mittelstandsbeauftragten der EU diskutiert. Zahlreiche Medienberichte ließen ernsthafte Zweifel an der Integrität der Ernennung aufkommen. Es stellte sich u.a. die Frage, ob Ursula von der Leyen Pieper durchgedrückt hat, um sich die Unterstützung in der CDU für eine zweite Amtszeit zu sichern. Kurz vor Antritt des neuen Postens erkläre Markus Pieper überraschend, dass er auf das Amt verzichtet. Das neu geschaffenen Amt und und dessen Bedeutung bleiben jedoch potentiell problematisch.
Europa nach der Wahl
Die Gefahr ist groß, dass die neue EU-Kommission nach der Wahl die Weichen für einen immer größeren Einfluss der Konzerne auf die EU stellen wird. Die Berichte von Mario Draghi und Enrico Letta sind dabei mit Sorge zu sehen.
Verstärkt wird ihr Einfluss durch die weltpolitische Lage: Die Weltbühne hat sich in den letzten Jahren von Partnerschaft und Freihandel zu einem Wettstreit verschiedener Machtblöcke gewandelt. Um unabhängig zu sein, müssen Konzerne strategische Versorgungslücken schließen, etwa bei Energieträgern oder Medikamenten. Einzelne Unternehmen und strategisch relevante Industrien werden besonders gefördert und haben lange Hebel, wenn sie ihre Interessen in die Politik tragen.
Umso problematischer ist es, dass es den Wirtschaftsverbänden gelungen ist, den Begriff der Wettbewerbsfähigkeit mit niedrigeren Steuern, mehr staatlichen Beihilfen und weniger gesetzlichen Regeln für Unternehmen in Europa gleichzusetzen – und damit mit weniger Regeln zum Schutz der Umwelt, der Beschäftigten und der Verbraucher:innen.
Wir fordern die EU auf, dies problematische Agenda zu stoppen. Sie muss verhindern, dass der Regulierungsspielraum auf EU- und nationaler Ebene weiter schrumpft, denn Europa braucht einen sozial gerechten ökologischen Wandel.
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