Augentropfen für Nachtsicht, KI zur Lippenlesung auf dem Schlachtfeld und sensorische Implantate gehören zu den Technologien, die die israelische Armee und die Forschungsdirektion des Verteidigungsministeriums entwickeln wollen, um das „sensorische Spektrum über die natürlichen menschlichen Grenzen hinaus zu erweitern“.
Die Direktion für Verteidigungsforschung und -entwicklung (DDR&D) – eines der zentralsten Gremien Israels zur Gestaltung der sicherheitspolitischen Gegenwart und Zukunft – steht hinter einigen der fortschrittlichsten Technologien im Arsenal der IDF. Sie spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Luftabwehrsystemen, die Tausende von Raketen und Geschossen abgefangen haben, sowie bei der Produktion hochmoderner Drohnen durch Elbit und Israel Aerospace Industries.
Um ihren technologischen Vorsprung zu halten, veröffentlicht die DDR&D regelmäßig Aufrufe an Unternehmen und Start-ups, um innovative Lösungen für die komplexen Herausforderungen moderner Armeen zu finden. Einer dieser jüngsten Aufrufe klingt eher wie das Drehbuch eines Marvel-Films – oder ein esoterisches Wüsten-Retreat. Sein Titel: „Sensorische Erweiterung“.
Die in dem Dokument dargelegte Begründung wirkt wie Science-Fiction:
„Das menschliche Sensorsystem ist auf einen engen Bereich physikalischer Signale beschränkt“, schreiben die Autoren. „Wellenlängen außerhalb des sichtbaren Spektrums, Schallfrequenzen, die wir nicht hören können, und andere physikalische Phänomene liegen außerhalb unserer sinnlichen Wahrnehmung. Technologische Entwicklungen, die diese Bereiche erweitern oder verbessern – oder neue Formen der Kommunikation ermöglichen, die menschliche Fähigkeiten steigern – könnten die Lagewahrnehmung revolutionieren und neue Einsatzmöglichkeiten oder Überlegenheiten schaffen.“
Das Dokument wurde von Mitgliedern der CTO-Abteilung der DDR&D verfasst.
„Interessant ist, dass dieser Aufruf vom CTO-Team kam“, sagt Dr. Ofek Salama, Doktorand und Laborleiter am Baruch Ivcher Institut für Gehirn, Kognition und Technologie an der Reichman-Universität. Laut ihm befasst sich diese Abteilung normalerweise mit Technologien, die bereits über die Forschungsphase hinaus in die Anwendung überführt wurden. Dies sei das erste Mal, dass sie einen Aufruf im Zusammenhang mit sensorischer Erweiterung herausgeben.
„Die allgemeine Idee ist, wissenschaftliche Machbarkeitsnachweise zu schaffen“, erklärt Salama. Das Ivcher-Institut unter Leitung von Prof. Amir Amedi betreibt seit Jahren entsprechende Forschung in Zusammenarbeit mit der DDR&D, dem US-Verteidigungsministerium und Unternehmen wie Elbit.
„Wir haben gesehen, dass es möglich ist, bestehende menschliche Fähigkeiten zu verbessern – also über das hinauszugehen, was eine Person ohne Hilfe tun kann. Früher konzentrierte man sich vor allem auf die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. In den letzten Jahren aber wächst das Interesse daran, die Funktionen gesunder Menschen auf ein neues Niveau zu bringen“, sagt Salama.
„Das könnte die nächste große Innovation in der Verteidigung sein – weil wir Technologie an extreme Orte mitnehmen. Es geht darum, die Art zu erweitern, wie wir unsere bereits hoch entwickelten Sinne nutzen, um effektiver mit Technologie zu interagieren.“
Was sucht das Verteidigungsministerium konkret?
Unter anderem sucht das Ministerium Technologien, die das sensorische Spektrum über den natürlichen Bereich hinaus erweitern – mithilfe externer Geräte wie Linsen oder Kopfhörer.
„Das können tragbare, implantierbare (minimalinvasive) oder umweltbasierte Lösungen sein, die mit Sinnesorganen oder physiologischen Systemen interagieren, um das menschliche Sehen, Hören, Tasten und mehr zu verbessern“, heißt es im Dokument.
Ein Beispiel: „Nachtsichtlinsen oder Augentropfen“.
Nachtsichtbrillen werden von der IDF und anderen Armeen seit Jahrzehnten verwendet, sind aber teuer, sperrig und beeinträchtigen oft die Lagewahrnehmung. Der Wechsel zu Tropfen oder Speziallinsen wäre ein großer technologischer Sprung.
In den letzten zehn Jahren wurden viele Studien in diesem Bereich durchgeführt – u. a. injizierten Forscher aus den USA und China Nanopartikel in die Augen von Mäusen, um Infrarotlicht in sichtbares Licht umzuwandeln.
2015 verbesserte der Biohacker Gabriel Licina sein Nachtsehen durch das Einträufeln einer Verbindung namens Chlorin e6 in die Augen.
DDR&D interessiert sich auch für Methoden zur Nachrichtenübermittlung ohne Sprache oder Schrift, allein über das Körpersensorsystem – z. B. für den Einsatz in Gefechtszonen oder lauten Fahrzeugen. Dazu gehören intelligente Kopfhörer, die extremen Lärm filtern.
2019 entwickelten Prof. Amedi und Dr. Katarzyna Ciesla ein einfaches Hilfsmittel für Hörgeschädigte oder Menschen, die in lauter Umgebung Sprache isolieren möchten – ein Gerät mit zwei vibrierenden Pads, auf die die Nutzer ihre Finger legen. Wenn die akustische Information gleichzeitig über Vibration und Gehör übermittelt wurde, verbesserte sich die Wahrnehmung deutlich.
Lippenlesen per KI
Eine weitere Idee des Verteidigungsministeriums: ein KI-System, das Lippenbewegungen unter schwierigen Feldbedingungen liest.
2016 entwickelten Forscher in Oxford ein KI-Modell zum Lippenlesen.
Andere Technologien – etwa von Symphonic Labs – analysieren Lippenbewegungen in Videos und wandeln sie in Text um.
„Das KI-Modell könnte es jedem ermöglichen, dreimal schneller als per Tastatur zu kommunizieren – lautlos“, sagte CEO Chris Samra 2023 gegenüber Newsweek.
Die Software des Unternehmens ist zwar noch nicht frei erhältlich, aber man kann Videos auf deren Website readtheirlips.com hochladen, um sie analysieren zu lassen. Ob solche Systeme bereits für Echtzeit-Kommunikation auf dem Schlachtfeld geeignet sind, ist unklar.
Tastsinn, Temperatur, Druck – und ein sechster Sinn
DDR&D sucht außerdem Technologien für weniger beachtete Sinne, etwa:
„Methoden zur Umgebungswahrnehmung von Struktur, Temperatur, Druck und Beschleunigung“, z. B. über Handschuhe oder Tauchanzüge zur Fernsteuerung von Geräten.
Der Aufruf geht über die klassischen fünf Sinne hinaus – bis hin zu einem sogenannten „sechsten Sinn“, z. B. durch intelligente Verarbeitung von Umweltreizen wie Gerüchen oder Luftströmungen, um Gruben oder Hohlräume in der Nähe oder Ferne zu erkennen.
Wenn man eine Raketenwarnung spürt
Dr. Salama beschreibt ein Beispiel für eine Kombination aus Sprach- und Tastschnittstelle, die einem Soldaten auf dem Schlachtfeld präzise Informationen über Bedrohungen oder Ziele übermittelt.
Zwar können viele Technologien Position, Höhe, Richtung und Geschwindigkeit eines Objekts verfolgen – aber:
„Die Herausforderung besteht darin, diese Information effizient an den überlasteten Nutzer weiterzugeben.“
Beispiel: Ein Pilot erhält eine Raketenwarnung – meist ein lauter, penetranter Piepton plus Bildschirm-Alarm. Häufig erscheinen mehrere Bedrohungen gleichzeitig – der Pilot muss dann herausfinden, woher sie kommen.
Salamas Lösung: Multisensorische Substitution:
„Wir können die relative Position einer Bedrohung über den Ton vermitteln – sodass der Pilot intuitiv erkennt, aus welcher Richtung sie kommt. Wenn sie von rechts kommt, wird das Geräusch dies widerspiegeln, genauso für oben oder unten.“
In den letzten Jahren hat das Ivcher-Institut an vibrationsbasierter Informationsübermittlung geforscht.
„Wenn man die Position einer Bedrohung über einen Sinn vermittelt, den wir normalerweise nicht dafür nutzen, erschließt man einen unterverwendeten, aber hochleistungsfähigen Informationskanal.“
Also eine Art taktiles Surround-System?
„Genau. Und wenn man das mit Tastsinn kombiniert, steigen Leistung und Genauigkeit erheblich.“
Das Ziel: Reaktionszeiten verkürzen, Präzision erhöhen.
In einer im Vorjahr veröffentlichten Studie nutzten Forscher eine Kombination aus Ton und Vibration, um Teilnehmern zu helfen, Objekte und ihre Bewegung um sie herum zu erkennen – ohne sie zu sehen.
Solche Werkzeuge könnten Piloten und Astronauten helfen, sich zu orientieren und Desorientierung wie Schwindelgefühle zu bekämpfen.
2023 zeigten Forscher der Brandeis University, dass kleine vibrierende Geräte auf der Haut es Teilnehmern ermöglichten, sich in einer simulierten Raumumgebung zurechtzufinden – mit verbundenen Augen.