von Dan Steinbock
Vor kurzem erklärte die EU-Außenpolitikchefin Kaja Kallas, dass die Unterstützung der USA für „alles, was die israelische Regierung tut“, den Einfluss der EU einschränke, die Lage im Gazastreifen zu verändern.
Daraufhin schlug EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Sanktionen gegen israelische Minister sowie eine teilweise Aussetzung des Handelsabkommens mit Israel vor. Am Mittwoch stellte die Überprüfung der EU-Kommission fest – nach 21 Monaten massiver Gräueltaten in Gaza und gewaltsamer Pogrome im Westjordanland –, dass die Maßnahmen der israelischen Regierung in den von Palästinensern besetzten Gebieten einen „Verstoß gegen wesentliche Elemente der Achtung der Menschenrechte und demokratischen Grundsätze“ darstellen, was es der EU erlaubt, das Abkommen einseitig auszusetzen.
Am vergangenen Wochenende wurde diese Haltung durch die Anerkennung des Staates Palästina durch US-Verbündete – das Vereinigte Königreich, Kanada und Australien – und bald weitere Länder verstärkt.
Beobachter in Brüssel erklärten, die EU sei hart gegen Völkermord vorgegangen. In Wirklichkeit war es ein letzter Versuch der beiden EU-Führungsfiguren, den wachsenden Unmut über die Gaza-Politik der EU und die Vorwürfe, an Israels Gräueltaten mitschuldig zu sein, zu besänftigen.
Wie Kallas Israel in Gaza stärkte
Bei der jährlichen Konferenz des EU Institute for Security Studies (EUISS) in Brüssel sagte Kallas, dass die Unterstützung der USA für Israel den Einfluss der EU, den „Gazakrieg“ zu beenden, untergrabe. Doch die USA unterstützen Israel seit mehr als einem halben Jahrhundert.
Kallas erklärte: „Wir haben Schwierigkeiten, weil 27 Mitgliedstaaten unterschiedliche Positionen haben. Europa kann nur dann seine volle Kraft entfalten, wenn es geschlossen handelt.“ Damit wurde die Mitverantwortung zunächst nach Washington abgeschoben und dann auf die fehlende europäische Einheit geschoben – die Kallas seit Langem fordert, um Russland entgegenzutreten.
Als sie auf den Vorwurf der „Doppelmoral“ in Bezug auf die Gaza-Politik angesprochen wurde, sagte Kallas, es stimme nicht, dass die EU in Gaza untätig sei. Doch im Juli hatte sie gemeinsam mit den EU-Außenministern entschieden, keine Maßnahmen gegen Israel wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Gaza und Siedlergewalt im Westjordanland zu ergreifen.
Die damals vorgeschlagenen Sanktionen gegen Israel hätten die Aussetzung des Assoziierungsabkommens, die Aufhebung der Visafreiheit und die Blockierung von Importen aus israelischen Siedlungen umfasst. Diese Entscheidung ermutigte das Kabinett Netanyahu, das das Ausbleiben von Sanktionen als diplomatischen Sieg wertete. Zudem kam UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese zu dem Schluss, dass EU-Beamte wie Kallas an israelischen Kriegsverbrechen in Gaza mitschuldig seien.
Die EU ist Israels größter Handelspartner (ein Drittel von Israels Welthandel in 2024), während Israel nur der 31. größte Handelspartner der EU ist. Die EU hätte also leicht bereits nach den ersten genozidalen Gräueltaten Ende 2023 Sanktionen verhängen können – tat es aber nicht.
Wie von der Leyen die Glaubwürdigkeit der EU untergrub
Von der Leyen pflegte schon vor der Gaza-Katastrophe enge Beziehungen zu Israel. Zum 75. Jahrestag der israelischen Unabhängigkeit, ein halbes Jahr vor dem 7. Oktober 2023, bezeichnete sie Israel als „lebendige Demokratie“, die „die Wüste zum Blühen brachte“. Diese Worte wurden von der Palästinensischen Autonomiebehörde als rassistisch verurteilt.
Nach der Hamas-Offensive wurde von der Leyen von EU-Abgeordneten und Diplomaten scharf kritisiert, weil sie Israel unterstützte und keinen Waffenstillstand forderte. Eine Woche nach dem 7. Oktober reiste sie nach Israel, um Solidarität zu bekunden, obwohl das Kabinett Netanyahu offen die Zerstörung Gazas und die ethnische Säuberung der Palästinenser ankündigte.
Dies führte zu Empörung unter 841 EU-Mitarbeitern, die einen Brief an von der Leyen unterzeichneten. Sie warfen ihr vor, dem „Völkermord im Gazastreifen freie Hand“ zu geben und die Glaubwürdigkeit der EU als Vermittler zu zerstören.
Die Glaubwürdigkeit der EU war jedoch schon zuvor erodiert. Bereits Anfang der 2020er-Jahre hatten über 800 europäische Finanzinstitutionen Geschäftsbeziehungen mit über 50 Unternehmen, die aktiv in israelische Siedlungen involviert waren.
Warum die späte Empörung?
Letzte Woche schlug die Kommission härtere Maßnahmen gegen Israel vor, darunter die teilweise Aussetzung des Handelsabkommens und Sanktionen gegen extremistische Minister, einige Siedler im Westjordanland sowie Hamas-Führer.
Doch warum erst jetzt – nach 21 Monaten Gräueltaten, der Vernichtung Gazas und Hunderttausenden Toten und Verletzten?
Die Antwort: Bilder. Während Israels Hungerblockade seit 2006 existierte und schon 2024 erste verhungerte Kinder in Gaza zu sehen waren, reagierte Brüssel nicht. Erst die Bilder abgemagerter Kinder und Babys in 2025 zwangen die EU zum Handeln.
Was Europas Führer nicht taten
Von der Leyens „Maßnahmenpaket“ zielte nicht auf das gesamte Kabinett Netanyahu, sondern nur auf einzelne Minister. Auch sollten nur einige Siedler sanktioniert werden – nicht aber die illegalen Siedlungen, in denen inzwischen 750.000 Menschen leben.
Gleichzeitig haben mehrere europäische Staaten Israel mit Waffen beliefert – Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und sogar Finnland. Seit 1950 erhielt Israel mehr als 120 Milliarden US-Dollar US-Hilfe, vor allem Militärhilfe, nach dem 7. Oktober allein 23 Milliarden.
Diese Waffenexporte zeigen Europas zunehmende Aufrüstung – auf Kosten von Sozialausgaben, trotz demografischem Wandel und Klimakrise.
Genozid-Ermittlungen gegen von der Leyen
Im Mai 2024 forderte das Genfer Friedensforschungsinstitut (GIPRI) eine Untersuchung gegen von der Leyen wegen Beihilfe zu Völkermord und Kriegsverbrechen an palästinensischen Zivilisten.
Laut Professor William Schabas, einem führenden Genozid-Experten, spiegelt von der Leyen lediglich die Haltung vieler EU-Regierungen wider, die Israel „bedingungslos“ unterstützen – trotz öffentlicher Informationen über schwerste Verbrechen.
Auch deutsche Politiker wie Kanzler Friedrich Merz und Rüstungsmanager wurden kürzlich von Juristen beim Europäischen Legal Support Center angezeigt.
Fazit
Die europäischen Führer tragen Mitschuld an der Vernichtung Gazas und am Genozid an seinen Bewohnern. Ihr spätes Handeln ist kein moralischer Durchbruch, sondern ein Eingeständnis, dass die Bilder von hungernden Kindern nicht länger vertuscht werden können.
Damit hat Europa nicht nur seine Glaubwürdigkeit in Gaza verspielt, sondern eine moralische Katastrophe geschaffen, die das 21. Jahrhundert überschatten wird.