Horst D. Deckert

Wunderwaffe Thorium

Eine Diskussion über neue Energiequellen ohne den Hinweis auf Thorium wäre wie eine Diskussion über Gesundheit ohne Hinweis auf Karl Lauterbach. So wie der hat Thorium anscheinend nur gute Eigenschaften: Es kommt relativ häufig vor, hinterläßt wenig Radioaktivität und man kann keine Bomben daraus bauen. Und der Nachteil? Thorium ist kein spaltbares Material und kann nicht zur Erzeugung von Energie verwendet werden.

von Hans Hoffmann-Reinecke

Der richtige Proporz

Zur Erklärung ein kurzer Blick in die Physik. Der winzige Atomkern besteht aus noch winzigeren Legosteinen. Die einen sind rot, genannt Protonen, die anderen grau, genannt Neutronen. Alle Protonen haben positive elektrische Ladung und stoßen sich gegenseitig sehr vehement ab. Die Neutronen dagegen wirken wie Klebstoff.

Die Zahl der Protonen in einem Atomkern bestimmt, was für einen Stoff man vor sich hat: Sechs Protonen beispielsweise ergibt Kohlenstoff. Nur ein Proton mehr, und wir haben ein ganz anderes Element vor uns: Stickstoff. Die Zahl der Neutronen andererseits bestimmt, ob das Ganze zusammen hält.

Varianten mit gleich viel roten, aber verschieden vielen grauen Legosteinen heißen Isotope. In leichten Kernen, wie etwa Kohlen- oder Sauerstoff, sind graue und rote Legosteine ungefähr gleich häufig; bei schwereren Kernen wie Blei oder Uran überwiegen dann die grauen. Auf den Proporz von Grau und Rot kommt es an, damit der Kern stabil ist.

Radioaktivität

Bei Überschuß von grauen Legos kommt es zu einer spontanen Umwandlung im Atomkern: Das Neutron fühlt sich irgendwie unwohl mit seiner Identität, es trennt sich von einem Körperteil, einem Elektron, und wird zum Proton. Jetzt haben wir einen grauen Lego weniger und einen roten mehr im Kern, und das bedeutet, dass wir ein anderes Element erzeugt haben. Bei dieser Umwandlung wird übrigens meist noch ein Gammastrahl in die Gegend geschleudert, man spricht deshalb auch von Radioaktivität.

Gewisse instabile Isotope wurden versehentlich bei der Schöpfung des Universums erzeugt und sind heute noch damit beschäftigt, zu zerfallen. So etwa die Atomkerne von „Kalium 40“, mit 19 roten und 21 grauen Legosteinen (19 + 21 = 40). Vor Äonen geschaffen, sind sie heute noch vorhanden und finden sich mit ihrer Radioaktivität in kaliumhaltigen Lebensmitteln. So etwas würde Sie nie essen? Viele Grüße von der Banane, die Sie heute zum Frühstück verzehrt, haben die war radioaktiv.

Zur Sache Kernenergie

Was würde passieren, wenn Sie mit einem Legostein nach einem Atomkern werfen? Mit einem roten würden Sie nicht weit kommen, weil der die elektrische Abstoßung durch die anderen, im Kern residierenden Protonen nicht überwinden könnte. Und ein grauer Lego? Der hätte eine Chance! Er wird im Kern sogar willkommen geheißen. Aber dann stellt sich vielleicht heraus, dass es schon genug von diesen grauen Legos gibt und man überredet ihn, sich in einen roten zu verwandeln.

In Kernreaktoren, die mit ein paar Prozent Uran-235 und ansonsten mit Uran-238 bestückt sind, fliegen Neutronen scharenweise herum. Die Kerne von Uran-238 fangen sich so ein Neutron gerne ein, und ups! Jetzt ist ein Uran-239 Kern entstanden, mit 92 roten und 147 grauen Legos. Der hat aber zu viele graue Legos an Bord uns wandelt sich schrittweise in ein Element mit 94 Protonen um, genannt Plutonium, genauer gesagt Plutonium-239. Das ist der Stoff, aus dem Atombomben gebaut werden, und genau dafür wurden auch einstmals Reaktoren gebaut.

So weit, so gut

Wir aber wollen ja Energie erzeugen. Die bekommen wir, weil es ein paar ganz spezielle Kerne gibt, die ein einfallendes Neutron nicht bei sich aufnehmen, sondern die den Besuch zum Anlaß nehmen, um sich total zu spalten, in zwei leichtere Kerne! Dabei bleiben ein paar Neutronen übrig, weil leichtere Kerne ja prozentual weniger Neutronen beherbergen. Und diese freien Neutronen verursachen nun weitere Spaltungen – Voilà, wir haben eine Kettenreaktion. Dabei entsteht jede Menge an Energie, die in Wärme, Dampf und Strom umgewandelt wird.

Im typischen Atomreaktor laufen also zwei parallele Prozesse ab: Einfang und Spaltung. Manche Kerne fangen Neutronen ein und verwandeln sich in andere Elemente, andere Kerne spalten sich und erzeugen sehr viel Energie. Vom ersteren Typ ist Uran-238, vom letzteren ist Uran-235. Spaltung ist erwünscht, weil sie Energie liefert. Einfang ist unerwünscht, weil dabei sehr langlebige radioaktive Stoffe entstehen, für die man dann ein sicheres Endlager suchen muß.

Thorium

Was wir bis jetzt beschrieben haben, geschieht in herkömmlichen Kernreaktoren, so wie sie in Deutschland abgeschaltet und im Rest der Welt gebaut werden. Doch nun ist plötzlich die Rede von Thorium, benannt nach dem mächtigen, aber nicht unumstrittenen Gott Thor aus der nordischen Sagenwelt.

Diese Substanz, genauer gesagt Thorium 232, hat einen Atomkern aus 90 roten Legosteinen und 142 grauen (90+ 142 = 232). Was würde passieren, wenn wir unsere Reaktoren mit Thorium füllen würden? Nichts – tote Hose. Thorium-232 ist kein spaltbares Material. Könnten wir aber in einen Uranreaktor etwas Thorium einschmuggeln, dann würde es interessant, denn das Thorium 232 fängt jetzt Neutronen ein wie Schwalben die Mücken am Sommerabend.

Und was dann passiert, das ahnen Sie schon: das entstandene Th233 hat einen grauen Legostein zu viel, und der wird jetzt rot. Wir bekommen also einen Kern mit 91 roten und 142 grauen Legos, genannt Pa-233. Den Namen brauchen Sie sich nicht zu merken, denn auch der hat ein Neutron zu viel, und verwandelt sich weiter in einen Kern mit 92 roten und 141 grauen Legos. Die 92 kommt uns aber bekannt vor, denn es handelt sich um Uran, und jetzt um das Isotop Uran 233 (92 + 141 = 233).

Ein Ofen, der seinen eigenen Brennstoff erzeugt

Das in den Uran-betriebenen Reaktor eingeschmuggelte Thorium wird also selbst zu Uran! Genauer gesagt verwandeln die beim Betrieb des Reaktors entstehenden Neutronen letztlich das Thorium-232 in das Isotop Uran-233. Und dieses Uran-233 ist nun ein interessanter Kern, denn der lässt sich seinerseits durch Neutronen spalten und erzeugt die gewünschte Energie!

Wenn wir das Ganze geschickt aufbauen und Geduld haben, dann kommt vielleicht der Moment, in dem wir das ursprünglich zum Betrieb des Reaktors notwendige Uran-235 gar nicht mehr benötigen. Bei der Spaltung von Uran-233 entstehen dann genug Neutronen, um einerseits die Kettenreaktion anzutreiben und andererseits auch noch Thorium in Uran-233 zu verwandeln. Ist das nicht wunderbar? Ein Ofen, der seinen eigenen Brennstoff erzeugt.

Man kann die Idee noch weiter spinnen und einen Reaktor designen, der mehr Uran-233 aus Thorium erzeugt, als er verbraucht, er „brütet“ gewissermaßen neuen Brennstoff.

Worauf warten wir noch?

Fangen Sie jetzt aber bitte nicht an, in Ihrem Garten neben der Fotovoltaik und der Wärmepumpe einen kleinen Thorium-Reaktor zu bauen. Es könnte sein, dass Ihr Projekt ebenso wenig Erfolg hätte, wie all die hier aufgelisteten. Auch wenn die Theorie absolut logisch ist, so müssen bei ihrer Verwirklichung doch noch extrem anspruchsvolle technische Aufgaben gelöst werden.

Thorium ist also keineswegs eine neue Idee. Vielleicht haben Sie schon einmal vom deutschen Reaktor THTR-300 in Hamm-Uentrop gehört, dem nur ein kurzes und tragisches Leben beschieden war. Das war bereits vor 50 Jahren.

China hat sich jetzt des Themas angenommen und hat kürzlich in der Wüste Gobi einen Zwei-Megawatt-Thorium Liquid-Fuelled Molten Salt Reactor (MSR) in Betrieb genommen. Man hat abgeschätzt, daß die Thorium Reserven Cinas reichen würden, um das Land für die kommenden 20.000 Jahre mit Energie zu versorgen. Für die Zeit danach muss sich die Regierung dann noch etwas einfallen lassen.

Dieser Artikel erschien zuerst im Blog des Autors ThinkAgain. Sein Bestseller „Grün und Dumm“ ist bei Amazon erhältlich.

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