Horst D. Deckert

Bundestagswahl 2021: Der Demokrat will wählen gehen

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Am 26. September ist es wieder so weit: Die „Demokrat:innen“ sind aufgefordert, ihre Stimmen abzugeben. Es ist Bundestagswahl. Wofür steht das Wort überhaupt noch? Eine dystopische Polemik.

von Max Erdinger

Es ist der 26. September. Schon gleich nach dem Aufstehen fühlt der Bürger die Würde des Tages. Er ist schließlich Demokrat. Mit seinem ganzen Gefühl. Souverän wird er im Laufe des Nachmittags zum Wahllokal schreiten, um hoch erhobenen Hauptes seine Stimme abzugeben. Der 26. September ist ein erhebender Tag. Seinen besten Anzug wird er tragen zu diesem besonderen Anlaß. Wegen der Würde des Souveräns. Kurz kommt er ins Grübeln. Wieso sagt man eigentlich „Stimme abgeben“? – Hat man überhaupt noch eine, wenn man sie erst einmal abgegeben hat? – Na egal, heute gibt es jedenfalls zwei statt nur einem weichgekochten Frühstücksei zur Feier der Demokratie.

„Schön ist es, Demokrat zu sein“, trällert er, während er die Eier anpiekst. Sechs Minuten dauert es, bis die Eier weich sind. Das sind sechs Minuten, in denen er schon wieder ins Grübeln kommt. Stimme abgeben und Eier weichkochen – irgendwie weckt die Demokratie ausgerechnet heute ein seltsam ungutes Gefühl in ihm. Er wischt es beiseite. Heute ist auf jeden Fall sein Tag. Er wird seine Stimme erheben, auch wenn es heißt, daß er sie abgibt. Das mit dem Doppelpunkt in „Demokrat:innen“ fand er ja schon ganz gut. Wenn es eine Partei gäbe, die sich dafür einsetzt, daß das Wort „Stimmabgabe“ ersetzt wird durch „Stimmenerhebung“, dann würde er die wählen. Es heißt ja auch nicht „eine Abgabe durchführen“, sondern „eine Erhebung durchführen“. Na ja, denkt er sich, vielleicht ist ja die Bundestagswahl eine Erhebung zur Zahl der abgegebenen Stimmen. Insofern …

Wie er so dasitzt beim Frühstück, der Souverän, geht er hart mit sich ins Gericht. Auf keinen Fall will er am Nachmittag seine Stimme bei den Falschen abgeben. Schließlich geht es auch um einen neuen Kanzler. Schade, daß Merkel nicht Königin ist. Dann könnte sie Kanzlerin bleiben bis sie so alt ist wie die Queen von England, und so eine demokratische Stimmabgabe würde länger halten. So viel ist nämlich klar: Einen Kanzler zu wählen, der noch besser ist als Frau Merkel – das wird eine verdammt schwierige Aufgabe für den Demokraten. Das will alles wohl überlegt sein. Demokratie ist nicht so einfach. Auf jeden Fall ist sie nichts für die simplen Gemüter. Am besten wird wohl sein, er räumt jetzt den Frühstückstisch ab und läßt die vergangenen Monate und Jahre noch einmal in aller Ruhe Revue passieren. Vielleicht wird ihm dann klar, bei welcher Partei er am Nachmittag seine Stimme abgeben … für welche Partei er seine Stimme erheben soll. Damit es da nicht zu einem falschen Kanzler kommt. Heute ist schließlich Tag der Entscheidung.

Die Revue

Wie war das eigentlich mit den Steuern? Was ist da in der Herzkammer der Demokratie beschlossen worden in den vergangenen Jahren? Immerhin flossen wieder 630 Millionen an Steuergeld als Entwicklungshilfe an China, was schön menschlich gewesen ist, aber leider auch teuer. Jedes Jahr ist dieses entwicklungsbedürftige China so teuer. Daß die sich aber auch ums Verrecken nicht entwickeln können, ohne daß ihnen der deutsche Steuerzahler unter die Arme greift. Diese teuren Chinesen immer. Und dann die Gelder für die EU, mit denen nach dem Brexit Großbritanniens Ausfall als Beitragszahler kompensiert werden sollte. Auch nicht ganz billig. Bankenrettung war sogar sauteuer. Und 600 Millionen für die Impfallianz der Pharmaindustrie? Milliardenfonds für Afrika. Anderhalb Milliarden für die Impfungen der armen Minderdemokraten in den nicht so demokratischen Ländern der Welt. Ob sie es in der Herzkammer der Demokratie wohl hinbekommen haben, trotz alledem die Steuerquote zu senken? – Wie jetzt, nicht? Wenn das schon Merkel nicht hinbekommen hat, obwohl sie das ganz bestimmt gewollt hätte, wer könnte es denn dann? Es ist schon ein Kreuz mit diesem Wahltag. Da überlegt man und überlegt.

Na ja, Steuern sind ja nicht alles. Für lau wird man in der Welt nicht beliebt als deutscher Demokrat. Richtig ärgerlich ist bloß, daß man trotz der teuren Beliebtheit immer noch viel für die Sicherheit obendrauf bezahlen muß, sowohl für die äußere als auch für die innere. Das kann schon mal ein paar Euro Steuergeld kosten. Aber man bekommt ja auch etwas dafür. Wäre es anders, würde ja niemand von Bereicherung sprechen. Bereicherung kostet eben. Irgendwen kostet sie etwas. Aber merkwürdig ist das schon, daß von der Bereicherung die Rede ist, obwohl hinterher nie dazugesagt wird, wer tatsächlich bereichert wurde. Es wird sich doch wohl nicht um die Minister und die Abgeordneten handeln? Die müssten doch gar niemandem eine Bereicherung versprechen, wenn es nur um ihre eigene ginge. Über die können sie schließlich selber bestimmen, weswegen sie das mit der Bereicherung auch gar nicht an die große Glocke zu hängen bräuchten. Eine Tasse Kaffee vielleicht noch?

Daß das mit der Sicherheit nicht so optimal gelaufen ist, muß man verstehen. Ist ja auch nicht so einfach. Wegen der Menschlichkeit. Die ist ja ebenfalls wichtig für die Menschen. Sie steht der Sicherheit halt dauernd im Weg herum. Das ist einfach ein Dilemma. Menschlichkeit, Sicherheit und Bereicherung unter einen Hut zu bringen, ist schon teuer, wahrscheinlich. Aber bei so einer Steuerquote kann man die Steuern auch nicht weiter erhöhen, ohne die Demokratie endgültig in ein kommunistisches Zahlsklavensystem zu verwandeln. Man wird eine Bepreisung brauchen. Der Demokrat schlürft erst einmal würdevoll seine zweite Tasse Kaffee an diesem besonderen Tag. Eine Sicherheitsbepreisung würde wahrscheinlich helfen, ohne daß man dafür die Steuern erhöhen müsste. Hat das irgendeine Partei im Angebot, so daß man seine Stimme bei ihr abgeben könnte? – Sicherheitsbepreisung, das wär´s. Geht doch beim CO2 auch? Wenn „Steuern“ nicht mehr geht, dann muß man eben mit der „Bepreisung“ weitermachen. Wozu wählt man sich denn einen tadellosen Kanzler? Damit er nicht von selber draufkommt?

Reichhaltig: Das vielfältige Kanzlerangebot

Es geht auf den Mittag zu. Nach hunderterlei Erwägungen zu diesem und jenem brutzelt zur Feier des würdevollen Tages endlich das Fleischersatzschnitzel aus ökologischer Sojabohnen-Bodenhaltung in der Pfanne, und während es so vor sich hinbrutzelt, die schwierigste aller Fragen: Welcher Kanzler? Wonach soll man ihn auswählen? Danach, welcher der Kandidaten im Katastrophengebiet die beste Figur abgegeben hat? Lauterkeit? Aufrichtigkeit? Unbescholtenheit? Sinn für Humor? Und wie soll man da Qualitätsunterschiede feststellen? Demokratie ist schon ein hartes Geschäft. Da wird die Würde des Demokraten zur Bürde des Demokraten, gar kein Zweifel.

Scholz von der SPD? – Wirecard und andere Ungereimtheiten. Laschet? – Humor hätte er wenigstens. Aber sonst? Seit Jahren in alle möglichen Skandale und Skandälchen verwickelt. Baerbock? – Die würde ohne einen Stadtplan in „leichter Zeichnung“ nicht mal das Bundeskanzleramt finden. Und ein Navi würde sie nicht verwenden, wenn es nicht garantiert Kobolde sind, die ihr den Weg weisen. Man wählt doch niemanden, den man auch durch Pumuckl ersetzen könnte, ohne daß es jemand merkt? Bei der Frisur schlägt sie trotzdem beide, den Pumuckl und den Scholz. Oder doch den Laschet? Der wüsste wenigstens, was von ihm erwartet wird. Wüsste er es nicht, hätte er sich bei Maybrit Illner nicht in einer Regenjacke filmen lassen, deren rechte Schulter naß gewesen ist, obwohl das nächtlich verregnete Katastrophengebiet im Hintergrund nur auf einer Green-Screen im Studio eingeblendet worden war. Also theoretisch wäre der Laschet noch derjenige, der am besten wüsste, was sich gehört. Trotzdem würde er keinem der drei Kandidaten einen Gebrauchtwagen abkaufen, überlegt der Demokrat am Tag seiner eminenten Wichtigkeit, während er nachdenklich auf seinem trockenen Sojaschnitzel herumkaut.

Der Traum

Bald ist es so weit. Dann wird er in seinen besten Anzug schlüpfen und mit der stolzgeschwellten Brust des Demokraten am Tag seiner Wichtigkeit zum Wahllokal schreiten. Aber vorher noch ein Mittagsschläfchen. Soja macht müde. Wie er sich so auf seinem Sofa lümmelt, werden auch die Augenlider schwer, allmählich dämmert er hinüber in Morpheus´ Reich und ein wirrer Traum schleicht sich an. Zuerst undeutlich noch, dann immer klarer läuft eine Menschenmenge mit Plakaten vor seinem Haus auf und ab. Sie skandiert: „Aus und vorbei mit Demokratie, ihr Deppen! Erwachet!“. Andere brüllen: „Nieder mit den Gehilfen der globalen Unterdrücker! Sie verwalten nur noch eure Illusion von Demokratie! Ihr seid in Geiselhaft genommen worden für die Aufrechterhaltung der Illusion!“ Und dann noch: „Nachrichtensprecher in die Produktion!“

Doch Morpheus hält den Demokraten am frühen Nachmittag des Wahltages fest in seinen Armen. So unruhig er sich auch fühlt bei seinem Mittagsnickerchen, es gelingt ihm nicht, aufzuwachen. Der Traum geht weiter. Unzusammenhängendes Zeug. Lange Kolonnen von Technischem Hilfswerk, Feuerwehr, Polizei und Bundeswehr fahren in einem Meer aus Blaulichtern aus einem verwüsteten Tal hinaus in die Ebene. Querdenker und Rechtspopulisten winken ihnen mit Schaufeln hinterher. Sogar die Bagger winken mit ihren Schaufeln. Wo fahren die Kolonnen hin?

Der erste Schnarcher ist zu hören, gefolgt von einem Schnapper nach Luft. Der Traum wird immer merkwürdiger. Die Kolonnen tauchen plötzlich in einer Großstadt auf. Sie sieht aus wie Berlin. Ganz eindeutig: Hier die Parteizentrale der CDU, dort die von der SPD. Das ist doch das Bundeskanzleramt? Und das der Reichstag? Überall diese vielen Blaulichter. Aufgeregtheit überall. Und wo kommen die Schreihälse auf einmal her, die gerade noch vor seinem Haus auf und ab gezogen sind? Warum klopfen die den Feuerwehrleuten, denen vom THW und denen von der Bundeswehr und der Polizei auf die Schultern? Sind das Verbrüderungsszenen? Warum brennen überall Haufen aus Gesichtsmasken? Was für ein Mittagsschläfchen!

Die Feuerwehren pumpen mit vereinten Kräften aus hunderten von Schläuchen das Wasser aus der Spree ins Kanzleramt, in die Parteizentralen und in den Reichstag hinein. Hoffentlich ist niemand drinnen! Hat der Demokrat am Wahltag gerade einen Albtraum? Wenn ja, warum will er dann nicht aufwachen? Warum würde er am liebsten gar nicht mehr aufwachen? Warum ist es auf der Couch so unheimlich schön? Und was ist das? Die Fenster brechen und von innen heraus spült das ganze Wasser pudelnasse Minister, Abgeordnete, Parteiapparatschiks und Kanzlerkandidaten den Massen vor die Füße. Alle haben Gummistiefel an. Sie ziehen Injektionsspritzen aus ihren Taschen und werfen sie wie Dartpfeile nach den Herausgespülten, die ihre Arme hochreißen, um sich vor den Wurfgeschossen zu schützen. Sie jammern und flehen. Der Demokrat träumt, daß sich aus dem Fernseher neben seiner Couch eine Flutwelle ins Wohnzimmer ergießt, er wirft seinen Kopf hin und her – und wacht endlich auf.

Die Stille

Stille. Niemand vor dem Haus. Der Fernseher steht stumm und trocken da. Der Demokrat fühlt sich erleichtert und dennoch wie gerädert. Erholsam war sein Schläfchen nicht. Da öffnet sich mit einem Schnarren das Türchen seiner Kuckucksuhr, der Plastikvogel kommt heraus und macht drei Mal „Kuckuck“. Mit einem Seufzer erhebt er sich und schlurft ins Schlafzimmer hinüber, um sich seinen besten Anzug anzuziehen. Es ist Zeit geworden für den aufrechten Gang zum Wahllokal. Aus dem Spiegel des Kleiderschranks im Schlafzimmer heraus schaut ihn ein würdevoller Demokrat an. Die blankpolierten Halbschuhe noch …

Es ist halb vier. Frühherbstlicher Nieselregen setzt ein. Wenn der Demokrat jetzt geht, wird er naß auf seinem Weg zum Wahllokal. Das sind 500 Meter. Der schöne Anzug. Es ist vier. Draußen gießt es in Strömen. Der Demokrat kann auch um fünf Uhr noch seiner eminenten Wichtigkeit Rechnung tragen. Es ist halb fünf – und allmählich wird es viel mit dem Wasser vor seiner Haustür. Die Wahllokale schließen um sechs. Wie sähe er denn aus am Tag seiner Wichtigkeit, wenn er jetzt die Halbschuhe gegen Gummistiefel tauschen würde? In seinem besten Anzug. Es ist fünf. Es wird halb sechs. Es regnet unaufhörlich. Als habe der Demokratenhimmel alle Schleusen geöffnet. Es ist sechs. Die Wahllokale schließen. Auf einmal steht er in seinem besten Anzug und in Socken nutzlos in einer Pfütze, die schnell größer wird.

Das Ende der Demokratie

Halb sieben: Mit ungeheurer Wucht bricht eine Wasser- und Schlammlawine durch die Fenster im Erdgeschoß, drückt ihn unerbittlich im Schlafzimmer an die Wand. Das Wasser steht ihm schnell bis zum Halse und steigt weiter. Während er wasserschluckend ins Jenseits hinübergleitet, fluten Glückshormone sein Gehirn und er hat den nächsten, seinen letzten Traum.

Der Demokrat sieht sein ganzes Demokratenleben an sich vorbeiziehen. Die toten Hunde seines Lebens schwimmen an ihm vorbei, das Fahrradhelmchen, welches ihm einst gestohlen worden war, die Kanzlerkandidaten, die Nachrichtensprecher, die Moderatoren und die Pressesprecher. Es ist ein flüchtiges und in seiner Wichtigkeit doch so eindringlich durch den Raum flutendes Gewirr von Geräuschen, Fratzen und Figuren, die mit ausgestreckten Zeigefingern über Klimawandel, Viren, Masken, Impfung, Gesundheiten und Gerechtigkeiten aller Art, seinen Rassismus, das richtige Hundefutter, unterdrückte Frauen, die Vielzahl der Geschlechter, die bessere Zukunft, die beste Zahnpasta und den Papst ducheinander reden. Merkel taucht mit weit aufgerissenen Augen blasenblubbernd an ihm vorbei und dem Demokraten schwinden zum letzten Mal die Sinne.

Mit dem Gesicht nach unten dümpelt er kalkweiß und mausetot unter der Zimmerdecke, die Deckenlampe spratzelt noch ein bißchen elektrisch vor sich hin und schickt zuckende Blitze in die Schlafzimmerflut. Dann wieder Stille. Es ist der 26. September. Um halb acht ist es dunkel. Der Demokrat ist im Jenseits und mit ihm „seine Demokratie“.

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