Horst D. Deckert

«Die Spitäler sind nicht wegen der Ungeimpften voll»

Früher kämpften linke Parteien für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Heute stehe jedoch oft Identitätspolitik im Vordergrund. Diese Ansicht teilt Die Linke-Politikerin Sarah Wagenknecht. Im NZZ-Standpunkte Gespräch mit Chefredaktor Eric Gujer sprach sie über das Versagen der etablierten linken Parteien.

Diese Parteien hätten zuletzt vermehrt durch Gendersternchen, Migration und Cancel-Culture auf sich aufmerksam gemacht. «Es werden Diskussionen geführt, die völlig an den Lebensnöten der Menschen vorbeigehen», sagt Sahra Wagenknecht. Wer aus einer Arbeiterfamilie komme, habe heute kaum noch Chancen auf einen sozialen Aufstieg.

Stattdessen würden diejenigen moralisch verachtet, die andere Probleme als das Klima hätten. Wagenknecht ist seit Jahrzehnten eine wichtige Stimme in der deutschen Politik mit. Die promovierte Ökonomin, Publizistin sowie Mitglied des Deutschen Bundestags eckt gerade auch in den eigenen Reihen an. Andere linke Politiker werfen ihr vor, sie übernehme wiederholt Argumente von Rechtspopulisten. Anders als viele ihrer Genossinnen und Genossen kritisiert sie auch die Impf-Politik der Bundesregierung scharf.

Es sei unangemessen, die Impfung zu einer moralischen Debatte aufzublasen, sagt Wagenknecht, die selbst nicht geimpft ist. Aus gutem Grund gebe es keine Impfpflicht. Doch wenn man dieses Wahlrecht in Anspruch nehme, werde man nun als «böser Mensch» hingestellt. «Dabei ist es doch so: Wer sich impfen lässt, schützt sich in erster Linie selbst», sagt Wagenknecht. Schliesslich gebe es noch immer keine Impfung, die tatsächlich verhindere, das Virus zu übertragen.

«Die Spitäler sind nicht wegen der Ungeimpften voll», so Wagenknecht. «Die Politik will bloss von ihrem Versagen ablenken.» Die Ursache für die Belastung der Krankenhäuser liege woanders: Seit Jahren herrsche ein Pflegenotstand. «Zuerst wurden Stellen abgebaut, dann die Löhne gedrückt und schliesslich die Intensivbetten massiv reduziert.»

Doch über diese Themen werde kaum gesprochen. Dafür würden nun die Ungeimpften zum Sündenbock gemacht. Das sei eine üble und vergiftete Debatte. «Es ist eine Schande, wenn nun behauptet wird, dass Menschen mit einem Herzinfarkt nicht mehr behandelt werden könnten, weil die Intensivbetten voll mit Covid-Patienten seien.» Probleme gäbe es nur, weil zu wenig Betten vorhanden seien. «Wenn wir kranke Menschen nicht mehr behandeln können, ist das ein Armutszeugnis», sagt die 52-Jährige.

Genauso kritisch sieht Wagenknecht, dass Corona-Tests selbst bezahlt werden müssen, wenn Ungeimpfte in ein Restaurant gehen oder eine Vorlesung der Universität besuchen wollen. «Das kostet viel Geld, gerade für junge Menschen», so Wagenknecht. Im schlimmsten Fall müssten manche Studenten sogar das Studium abbrechen, wenn sie keine Impfung wollten. «Das ist schlicht finanzielle Erpressung.»

Besorgt zeigt sich die Politikerin auch angesichts der derzeitigen gesellschaftlicen Entwicklungen. «Wir erleben eine unglaubliche Spaltung der Gesellschaft», sagt sie. Das liege längst nicht nur an Corona. Die Identitätspolitik der Linken würde ihren Teil dazu beitragen; ebenso die Unfähigkeit vieler Akademiker und Gutverdiener, die Probleme der Arbeiterklasse zu verstehen. Das betreffe oft die neue Generation der Sozialdemokraten, die meist in wohlhabenden Elternhäusern aufgewachsen sei.

«Ihnen geht es nicht um Löhne und Renten, denn für sie ist eine Grundversicherung immer da, wenn sie im Zweifelsfall die Eigentumswohnung der Eltern erben», sagt Wagenknecht.

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