Im Rahmen der Friedenskundgebung vom 25. Februar 2023 in Berlin machte das Flugblatt «Zeitenwende totalitär» die Runde. Die Magazinredaktion.tk, die unter anderem auch den französischen Klassiker «Le Manifeste conspirationniste» (Éditions du Seuil) ins Deutsche übersetzt hat, hat den Inhalt des Flugblatts dokumentiert. Wir publizieren ihn an dieser Stelle, da der Text auf jeden Fall lesenswert ist. Wer dahinter steckt, ist nicht bekannt.
Politik ist schön. Schön deshalb, weil in ihrem Schein selbst die grössten Haifische gemeinsam lächelnd vor die Presse treten können, ohne ihre Zähne im Gesicht zu zeigen. Nicht umsonst wurde noch vor gut einem Jahr, am 7. Februar 2022, mit eiserner Disziplin die schwarze FFP2-Maske getragen, als Präsident Biden unseren Bundeskanzler Scholz in Washington mit den Worten empfing: «To state the obvious, Germany is one of America’s closest Allies».
Wo man seit Jahren den schwelenden Bürgerkrieg in der Ukraine mit allen verfügbaren Mitteln im Hintergrund eskalierte und auch die in den vorangegangenen Monaten immer verzweifelter werdenden Verhandlungsangebote der Gegenseite selbstgefällig ausschlägt, tut man im selben Atemzug alles dafür, nach aussen Diplomatiebestrebungen zu simulieren.
So geht es zu bei den Guten, die gegen das Böse kämpfen. Der senile alte Mann aus dem Weissen Haus prophezeit ganz harmlos: «If Russia invades, there will no longer be a Nord Stream 2. We will bring an end to it.»
Ein halbes Jahr später dann wurde gleich beiden Nord-Stream-Gasröhren und damit den deutsch-russischen Energiegeschäften auf dem kurzen Dienstweg, nämlich durch ihre Sprengung, «ein Ende gesetzt».
Seymour Hersh, Urgestein eines heute überkommenen journalistischen Idealismus, konnte kürzlich die Urheberschaft dieses Anschlages überzeugend schildern und damit bestätigen, was jeder denkende Mensch bereits wusste.
Im Interview mit der Berliner Zeitung erinnerte er sich, dass zu seinen Zeiten der Angriff auf die Infrastruktur eines fremden Landes noch als Act of War aufgefasst worden sei, und fragte sich darüber hinaus, ob Biden dem Kanzler damals unter vier Augen bereits einen dezenten Hinweis auf die Potenzen seiner Special Forces gegeben hat.
Sich erst einen Konkurrenzvorteil von einem Fressfeind wegbomben lassen und dazu noch die in aller Öffentlichkeit vollzogene Demütigung mit all der Gleichmütigkeit hinnehmen, zu der nur deutsch-sozialdemokratische Führungsfiguren fähig sind: Den sprichwörtlich geworden «Doppelwumms» hatte man sich kaum so handfest vorgestellt.
Der einseitig geschaffene «Point of no Return» wurde dann freilich auch von ukrainischen Nationalisten und anderen Gewaltfanatikern in aller Welt mit mehr oder weniger offen zur Schau gestellter Genugtuung quittiert. Soviel zur viel beschworenen «Einheit» der abendländischen Kriegskoalition.
Verschwörungstheoretiker aus dem Mainstream hatten bereits unmittelbar danach Russland selbst in Verdacht, seine eigene, einstmals lukrative Gasverbindung in die Luft gejagt zu haben. An der Tatsache, dass solche offenkundig komplett weltfremden, jedenfalls keiner irdischen Logik mehr gehorchenden Phantasien keine Ausnahmeerscheinung mehr sind, sondern zum Standardrepertoire der Ukraine-Propaganda gehören, lässt sich schon der hysterische Zustand der hiesigen Diskussion ablesen.
So demagogisch die bürgerliche Öffentlichkeit stets war, hatte sie doch selbst in der Nachkriegszeit noch die Funktion einer Prüfungsinstanz für Konsistenz und Realitätstauglichkeit. Ohne sich noch darum scheren zu müssen, wenigstens glaubhafte Lügen anzubieten, kann man heute den eigenen Hang zur Selbst- und Fremdzerstörung unversehens dem Feind unterjubeln.
Es braucht dafür nicht einmal die Gewissheit, dass die Leute es in ihrer Dummheit schon schlucken werden. In einer Welt, in der bloss verschiedene Narrative nebeneinanderstehen, ist es einfach egal geworden, was gesagt wird, weil der Bezug auf die Realität als etwas Festes, den subjektiven Standpunkt Übersteigendes an sich fraglich geworden ist.
So scheint im Bewusstsein der Kriegsapologeten die Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht zu existieren. Die katastrophalen Zustände im Russland der 90er-Jahre, NATO-Osterweiterung, Putins Bitten um Kooperation etwas später und der vom Westen orchestrierte Maidan 2014: Alles wird ganz ordinär geleugnet, d.h. so geredet, als hätte es diese geschichtlichen Ereignisse nicht gegeben.
Natürlich ist der westliche Staatenverbund seit Jahren expansiver Akteur im Osten. Und genauso natürlich wird er gerade nicht zu einer aktiven Kriegspartei in der Ukraine, wenn er seine Waffenlieferungen, Kredite, Ausbildungsprogramme, Einflussnahmen und Staatsauftritte vervielfacht. Logisch. «Stalin und seine Untergebenen lügen immer, zu jeder Zeit, unter allen Umständen; und weil sie immer lügen, wissen sie nicht einmal mehr, dass sie lügen. Und wenn alle lügen, lügt keiner mehr.»
Auf der sogenannten Münchener Sicherheitskonferenz (…) wurde von der Ukraine die Lieferung von Streumunition und Phosphor-Brandwaffen gefordert. Auch das ist selbstredend nicht zu verstehen als direkte Willensbekundung zum Kriegsverbrechen, das in der «Berichterstattung» exklusiv für den Feind reserviert ist, selbst ohne stichhaltigen Beweise.
Hofreiter und andere sahen sich dann aber doch zu einem sanften Tadel ihres Rotzlöffels genötigt: Es sei nicht einfach nur «falsch», (weil barbarisch,) sondern auch (taktisch) «unklug» sowie «ein Bärendienst für die Unterstützer im Westen» und würde zudem «am Ende nur dem Wagenknecht-Lager nützen».
Wo es hier nicht darum gehen sollte, die Enthemmung weiter voranzutreiben und durch die eigentlich selbstverständliche Ächtung jener Waffengattungen sie auf die Tagesordnung zu setzen und also ihren baldigen Gebrauch vorzubereiten, deuten doch solche ambivalenten Distanzierungen schon an, was an die vakante Stelle des Realitätsbezugs getreten ist: Ein frei drehender Moralismus, der sich für eine willkürliche Verurteilung irgendeines Missstandes nie zu schade ist.
Wer a priori keine realen Tatsachen der Aussenwelt mehr an sich heranlässt, für den ist es keine Kontradiktion, sich dem diskursiven Exzess immer weiterer und tödlichere Waffenlieferungen fröhlich hinzugeben und selbstverständlich Streumunition abzulehnen. Die Guten wollen den Krieg und rationalisieren ihren Aggressionsdrang, indem sie die friedliebende Ukraine sich als völlig grundloses Opfer des absolut Bösen, also Putins und seiner gleichgeschalteten Russen-Orks herbei halluzinieren.
Dieser Fetisch zwingt dann entsprechend auch zu einem totalen Volks- und Verteidigungskrieg, egal, wie dreckig er wird. Als reine Seele mit moralischem Überlegenheitsdünkel identifiziert man sich mit dem Opferstatus, will aber natürlich selbst keines bringen.
Die Dahingeschlachteten eines blutigen Kriegs nimmt man gerne in Kauf und hierzulande weiss man die Entbehrungen den dummen Prolls aufzubürden, die man nach Laune massregeln will, weil sie nicht aufhören wollen, zu rauchen, Auto zu fahren, warm zu duschen, oder keinen Bock haben, Maske zu tragen oder zu gendern.
Womit wir es zu tun haben, ist nicht mehr nur eine zweckrationale, auf Planung und Sicherheit der Verwertungsbedingungen bedachte bürgerliche Ideologie. Der neue Weltzustand geht in einer bisher schwer fassbaren Weise über das uns Bekannte hinaus.
Man kommt ihm deshalb auch viel eher mit der Treue zu eigenen Beobachtungen und Erfahrungen bei, als dass er sich bruchlos mit dem ganzen Brimborium eines meist abgegriffenen marxistischen, wertkritischen, postmodernen, antideutschen oder antiimperialistischen Vokabulars verstehen liesse, insofern dieses überhaupt noch ein zusammenhängendes Weltbild in den einzelnen Köpfen zu stiften vermag.
Gradmesser dessen wäre eben, ob sinnlich erlebte Wirklichkeit noch zusammenhängend erklärt werden kann. Dass dieser sehr grundsätzliche Vorgang allenthalben scheitert, muss man sich wie vieles andere als Symptom des gerade stattfindenen Epochenwechsels vergegenwärtigen.
Neben der offensichtlich härteren ökonomischen und militärischen Gangart ist er vor allem gekennzeichnet durch eine neue Form der allgemeinen Derealisierung und Verwirrung des Bewusstseins, das sich ebenso im debilen Gestammel der Regierungstruppen spiegelt.
Man muss nur mal einer Baerbock beim Sprechen zuhören. Der drohende Verlust der globalen Hegemonie zieht auch innerhalb der westlichen Staaten nicht zu übersehendende Verfallserscheinungen nach sich. Ausgeprägte Projektionsbereitschaft, hemmungsloser Moralismus und umfassender Wirklichkeitsverlust in Kombination mit dem monströsen Repressions- und Militärapparat machen die im Untergang begriffene freie Welt heute so gefährlich – diese toxische Gemengelage ist die neue Normalität.
A propos. Der propagandistisch ausgeschlachtete Verweis auf die quasi diktatorische Regierungsform in Russland erfuhr während des Ausnahmezustandes eine ganz besondere Konjunktur. Je unfreier nämlich die Verhältnisse hier, desto eifriger wird mit dem Finger auf andere gezeigt. Ausserhalb der eigenen Hemisphäre herrscht die Tyrannei, hierzulande unterwerfen sich die Menschen bloss drakonischen (Gesundheits-)Massnahmen, aus freiem Entschluss und zu ihrem eigenen Wohl.
In der Covid-Zeit, nicht erst mit dem Krieg, haben die von Orwell in 1984 beschriebenen Herrschaftsmechanismen «Doublethink» bzw. «Newspeak» zum ersten Mal richtig die Oberhand gewonnen. Der Gesinnungswesten im Ukraine-Taumel: Diese Geschichte lässt sich nicht erzählen, ohne auf ihre Abkunft von der Wahnidee der Pandemie zu verweisen.
«Solidarisch» zu sein, hiess damals, möglichst vereinzelt zu leben; «krank» sein konnte man, ohne davon etwas zu spüren; als «Geimpfter» war man trotzdem ansteckend usw. usf. Heutiges Äquivalent dieser Antilogik ist, dass selbst der Begriff des Friedens nicht mehr unschuldig in den Mund genommen werden kann, weil noch die kriegslüsterne Ukraine-Solidarität als Friedensbewegung verkauft wird.
«Frieden schaffen mit Waffen», wahlweise für die Freiheit der Menschen innerhalb der Landesgrenzen, die bis vor einem Jahr schon kaum existent war und sich unter dem jetztigen brutalen Regime Selenskis vollkommen erledigt hat.
Oder gar, um «unsere» Freiheit «zu verteidigen»: Erst recht ein Hirngespinst, weil mit dem Ausnahmezustand in Deutschland die kümmerlichen Reste der bürgerliche Freiheit gründlich und auf geraume Zeit abgeräumt worden sind und dieser Alptraum solange nicht vorbei ist, wie man sich in Verdrängung des Geschehenden übt.
Wesentlich war auch hier der Totalausfall jeglicher Realitätsprüfung als Grundlage der Durchsetzung von nie dagewesenen Einschnitten. Ganzen Bevölkerungen wurde eingetrichtert, sie stünden vor einer pandemischen Bedrohung, die es niemals gegeben hat.
Wo Wörter innerhalb kürzester Zeit ihre Bedeutung verlieren und die genau umgekehrte annehmen; wo die Dinge über Nacht einen anderen Namen bekommen und ihnen nichts Sinnliches mehr in der Erfahrung korreliert, da ist die unweigerliche Folge die Zerstörung von Denken und Sprache.
Naiv, dabei zu glauben, Logik würde sich einfach von selbst abschaffen und niemand von diesem Zustand profitieren. Es ist forciertes Interesse der Herrschenden, Widerspruch schon von seinen Bedingungen her zu verunmöglichen und so das «Selbstgespräch der Ordnung» (Debord) durchzusetzen.
Manch ein «Friedensfreund» erlebt jetzt folgerichtig sein Covid: Indem er sich auf einmal auch auf der schmutzigen Rückseite der auf das Gute vereidigten Mehrheitsmeinung wiederfindet, die vorher nur für den Protest gegen die Coronamassnahmen vorgesehen war.
Faktenchecker sind auch im Fall Ukraine schnell mit ihren abgeschmackten Denunziationen zur Hand und Abweichler werden als rechtslastige Querdenker abgestempelt. Widerspruch zum Kriegsspektakel ist mit derselben Heuchelei der herrschenden Cancel Culture unterworfen wie das Blau-Gelbe in der Regenbogenfahne hervorgehoben wird.
Immerhin Oskar Lafontaine verweigert sich dem Gesinnungsterror der Staatsantifa und erklärt, man werde nicht aufs Parteibuch schauen. – Dennoch bleibt die Frage, was einen denn am fernen Ukraine-Krieg so bewegt, wo man die zwei vorherigen Jahre, die ja für das Alltagsleben erstmal viel entscheidender waren, so widerspruchslos bis begeistert über sich hat ergehen lassen?
Wer nicht genauso unlogisch sein möchte wie die herrschende Zeit, der muss beantworten, warum er gestern noch einem sehr konkreten, kolossalen Unrecht als Zuschauer beiwohnte, während er dem nächsten, abstrakteren kolossalem Unrecht die Gefolgschaft verweigert. Die innere Konsolidierung der Regierungsgewalt im Ausnahmezustand und die äussere, geopolitische Feindbestimmung ergänzen sich.
Sollte der latente Weltkriegszustand, in dem wir uns längst befinden, weiter eskalieren, und dafür spricht derzeit alles, wird der Staat mit allen verfügbaren Mitteln die eigenen Bevölkerungen mobilisieren und ruhig halten müssen. Umso angenehmer für ihn, wenn dafür ein handlicher Werkzeugkasten biodigitaler Repressionen bereit liegt, der im Zuge der fingierten Pandemie erfolgreich erprobt wurde. Die neue, totalitäre Zeitrechnung hat schon im März 2020, nicht erst im Februar 2022 begonnen.
In diesem Sinn sind auch die Initiatoren der heutigen Kundgebung zu befragen, wo und wofür sie eigentlich stehen. Ja, die Entstehung einer «neuen Friedensbewegung» wäre in der Tat zu begrüssen, insofern sie eine Manifestation des gesellschaftlichen Widerspruches wäre und nicht, wie die alte, sich allzuschnell erst in verdecktem und dann ganz offenem Einverständnis mit Bevölkerungsmajorität und herrschender Politik befindet.
Aber: Sind Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer wirklich bereit zum Bruch mit einem System, welches die eigene Bevölkerung zwei unendliche Jahre lang wegen der erfundenen Bedrohung durch ein durchschnittliches Grippe-Virus schikaniert, eingesperrt und buchstäblich am freien Atmen gehindert hat?
Ein System, welches sich jetzt zynisch, kalt lächelnd anschickt, Millionen Menschen einer wirklichen Kriegs- und Todesgefahr auszusetzen. Am Ende hat der Versuch der Spaltung des bürgerlichen Lagers überhaupt nur einen Sinn, wenn sie nicht die baldige Wiedereingliederung in den Politbetrieb vorbereitet und gleichzeitig andere Fragen mit gefühlsduseligem Friedenskitsch zukleistert.
Die demonstrative Störung des öffentlichen Konsens in der Kriegsfrage muss inhaltlich wie formal die gesamte ideologische Geschäftsgrundlage der links-grün-woke dominierten BRD in Frage stellen oder sie wird eine leicht zu verkraftende Übergangserscheinung bleiben. Wer Nein zum äusseren Krieg sagt, muss auch den inneren Krieg des Staates und seiner zivilgesellschaftlichen Agenten im Namen von Corona, Klima und Gender ablehnen und nicht zuletzt aufs Politikmachen grundsätzlich verzichten.
Ein Wort zum Völkerrecht
Völkerrecht, das klingt wie ein hohes, wenn nicht gar höchstes Mass an Recht und Gerechtigkeit überhaupt. Nicht mehr Einzelne sollen diesem Recht durch die Gewalt des Staates unterworfen sein und sich glücklich schätzen, auf diese Weise ihre Abhängigkeit von der Durchsetzungsfähigkeit stärkerer Konkurrenten durch die Deckelung eines Gewaltmonopolisten ersetzt zu bekommen.
Nein, nicht einsame Einzelne erfreuen sich dieses Zustandes, vielmehr sind es fröhlich vor sich hin wimmelnde Kollektivkörper, Völker eben, denen – folgt man dem Geplapper von Politik und Massenmedien – durch Stiftung und Durchsetzung des Völkerrechts ein Zustand weitgehender Zufriedenheit, zumindest aber von Kriegsabwesenheit verheissen wird.
Ist Völkerrecht dann also das Recht der Bevölkerungen, ihre staatliche Beherrschung nach Gutdünken einzurichten und die Beziehungen zu anderen Bevölkerungen in gegenseitigem Übereinkommen zu definieren? Nein, ist es nicht. Völkerrecht ist ein Rechtsanspruch, also sehr viel und sehr wenig zugleich. Sehr viel, weil dieser Anspruch von den mächtigsten und gefährlichsten Lebewesen dieses Planeten, den Nationalstaaten und ihren jeweiligen Bündnisformationen, formuliert und durchgesetzt wird.
Sehr wenig, weil in der Konkurrenz der Staaten, anders als innerhalb derselben, kein gewaltmonopolistisches Regime existiert, das die Ansprüche der Konkurrenten, ihre Anmeldung und Durchsetzung einem verbindlichen, weil exekutiv abgesicherten Reglement unterwerfen könnte. Den Staat als Bademeister über das Haifischbecken seiner konkurrierenden Bürger können wir überall antreffen.
Die Unmöglichkeit eines Souveräns oberhalb der Nationalstaaten nötigt Politiker aber stets mit Verweis auf die Verstocktheit der Konkurrenten, mit jenem universellen Mittel zumindest zu drohen, das jede staatliche Existenz begründet: die Fähigkeit und Bereitschaft zur unmittelbaren physischen Gewalt gegen und über Menschen.
Ach ja, die Menschen. Die bedauernswerten Menschen in ihrem Status als Bevölkerungen oder Völker. Würden deren formulierte Interessen im Völkerrecht irgendeine Rolle spielen, wäre es vielleicht gar nicht erst zu dem gegenwärtigen Ukraine-Krieg gekommen.
Bekanntlich hat sich schon seit längerem eine Bevölkerungsmehrheit in den östlichen Ukraine-Regionen für einen Anschluss an Russland ausgesprochen, seit Kriegsbeginn haben es mehr als zwei Millionen Ostukrainer vorgezogen auf russisches Territorium zu wechseln, anstatt in den Westen zu gehen.
In den Augen des demokratischen Westens verfügten diese Leute jedoch über keinerlei völkerrechtliche Legitimation, sich für die Beherrschung durch einen anderen Souverän zu entscheiden als den westlicherseits zertifizierten. Die zivilisatorische Weisheit «Reisende soll man nicht aufhalten» wurde in ihrer direkten Umkehrung zum Anlass für den mit allen völkerrechtlichen Wassern gewaschenen Casus Belli.
Keinesfalls sollte man auch der Illusion erliegen, das Völkerrecht pazifiziere seine Anhänger, etwa durch Verzicht auf unmittelbare Gewaltausübung unter den staatlichen Mitgliedern einer internationalen Völkerrechts-Koalition. Die Sprengung der North-Stream-Pipelines durch einen US-Geheimdienst zeigte, was unter solchen Koalitionären alles möglich ist.
Beim düpierten deutschen Juniorpartner darf man dennoch sicher sein, dass eine Gelegenheit zur Revanche gesucht und gefunden wird. Und nur wenige Wochen ist es her, als einem Helikopter mit der gesamten Führung des ukrainischen Innenministeriums mittels beherzten Abfeuerns einer Boden-Luft-Rakete die redensartliche Fahrkarte ins Jenseits zugestellt wurde.
Niemand machte sich die Mühe, dies den Russen oder dem Putin in die Schuhe zu schieben. Allzu deutlich war, dass es innerhalb der Guten ebenso viele Gründe des sich gegenseitig Bekriegens gibt wie zwischen den Guten und den Bösen.
Mag sein, es kommt nach einem Kriegsende oder möglicherweise schon im Verlauf des Krieges zu blutigen Abrechnungen unter verschiedenen, sich allesamt auf das Völkerrecht berufenden, ukrainischen Parteien, wahrscheinlich ist hingegen: Wie immer der Krieg gegen Russland ausgehen mag, sein Ende wird wie stets ein vorübergehendes sein, die Völkerrechts-Koalition wird weiter gen Osten mobilisieren und vielleicht erst durch ein harsches Stoj mit chinesischem Akzent aufgehalten werden.
Wie auch immer, der Streit um die Beute ist bereits voll entbrannt, auch im Lager der Völkerrechtler wird es nicht nur Gewinner geben. Wenn die Karten dann neu gemischt und verteilt werden und Gut wie Böse in neuer Pracht erstehen, schlägt selbstverständlich auch wieder die Stunde des Völkerrechts.