Horst D. Deckert

Ex-NATO-Generalstabschef: Permanent-Krieg in Europa bevorzugtes US-Szenario

Der italienische NATO-Generalstabschef a.D. und Autor Fabio Mini ist eine der konsequentesten und stärksten Stimmen gegen die derzeitige westliche Kriegstreiberei. Er prangert die Risiken an, die mit der europäischen Haltung gegenüber dem Krieg in der Ukraine verbunden sind (wir berichteten).

Mit seinen Beiträgen, zum Beispiel in Limes und il Fatto Quotidiano, hat es Mini geschafft, die vorherrschende Propaganda zu durchbrechen. Jene Propaganda, die, wie der General selbst treffend voraussagte, unseren Kontinent einen Schritt näher an einen immer deutlicher werdenden Abgrund bringt.

Alessandro Bianchi von l’AntiDiplomatico hat nun ein Interview mit Fabio Mini geführt, dass wir hier mit Einwilligung des Portals übersetzt veröffentlichen.

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Alessandro Bianchi: General, bei der Lektüre Ihres neuesten Buches ist mir der Titel aufgefallen: «L’Europa in guerra» [Europa im Krieg]. Sie haben den Mut, es klar und deutlich zu sagen, obwohl die Informationen jeden Tag versuchen, es mit manchmal surrealistischen Phantasieflügen zu verschleiern. Hat sich die Europäische Union (und damit Italien) mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine für einen aktiven Kriegszustand entschieden?

Fabio Mini: Der Status einer europäischen Kriegsbeteiligung liegt nicht nur in der Lieferung von Waffen und beschränkt sich nicht auf die Zeit des aktiven Konflikts. Der ukrainische Krieg begann im Donbass mit der Formel des Krieges gegen den russischsprachigen Terrorismus. In diesem Krieg, der mit den Waffen der internen Unterdrückung, des Bürgerkriegs und der Massaker an unschuldigen Menschen geführt wird, hat sich Europa von Anfang an und sogar schon vor Beginn des Krieges auf die Seite der ukrainischen Regierung gestellt.

Europa dachte, es handele sich ‹nur› um eine interne Angelegenheit und verhängte dennoch Sanktionen, lieferte Waffen, rüstete die 2015 von den Autonomisten zerstörte ukrainische Armee neu aus und strukturierte sie um. Es hat aktiv Gleichgültigkeit gegenüber der betroffenen Bevölkerung geübt und ein ukrainisches Regime unterstützt, das bis vor einem Tag aus denjenigen bestand, die es für gefährliche Neonazis hielt.

Europa hat alle Kanäle der psychologischen Kriegsführung und der Cyberkriegsführung aktiviert. Es hat der europäischen Bevölkerung eine Kriegszensur auferlegt und Milizen aus Söldnern und internationalen «Freiwilligen» angeheuert. Angesichts dieser Kriege ist die Lieferung von Waffen fast unbedeutend, obwohl sie den grössten Teil des westlichen Beitrags ausmacht.

In einer sehr wichtigen Passage Ihres Buches schreiben Sie: «Die modische Vulgata ist immer dieselbe: Der Westen kämpft für das Gute und die Demokratie gegen das Böse und die Autokratie; für Freiheit, Menschenrechte und Wohlstand gegen Diktatur, Missbrauch und Armut. Er kämpft, weil er das Recht dazu hat: Weil es ein offenkundiges Schicksal und ein auserwähltes Volk, einen Hegemon und viele Vasallen gibt. Doch sind Sie nicht der Ansicht, der Konflikt in der Ukraine habe dem Westen die klare Botschaft vermittelt, dass der Rest der Welt diese selbsternannte Dichotomie nicht mehr akzeptiert?

Sehr richtig. Aber dieser Westen scheint es noch nicht verstanden zu haben. Bei der ersten Resolution der UN-Vollversammlung von 2022 zur Verurteilung des Krieges enthielten sich Länder, die drei Viertel der Welt repräsentieren, und es wurde uns als ein Sieg des Guten über das Böse präsentiert. Seitdem haben die USA und die EU den Krieg in der Ukraine angeheizt und versucht, zumindest eines dieser Länder davon zu überzeugen, seine Position zu überdenken. Die zweite Resolution ein Jahr später wurde uns ebenfalls als einhelliger Sieg präsentiert. In Wirklichkeit bestätigte sie nicht nur die erste, sondern stärkte die Enthaltungsfront und zeigte das Scheitern des Drucks, der Versprechungen, des Hofierens und der Drohungen, die der sogenannte Westen auf den Rest der Welt ausübte.

Auf die Ursprünge des Konflikts im Jahr 2014 braucht man nicht zurückzukommen. Sie haben sie in ihren Artikeln mehrfach brillant dargestellt. In Ihrem jüngsten Beitrag skizzieren Sie fünf Grundsätze und 10 Aktionspläne, um «die Hoffnung neu zu entfachen», und zwar unter der Prämisse, dass nur ein erster Schritt zwischen Russland und den USA die Situation entschärfen kann. Glauben Sie, dass die derzeitige US-Regierung diese Hoffnung wirklich entfachen will?

Ehrlich gesagt, nein. Aber es gibt Bedingungen, die selbst den Willen der Herrschenden übersteigen. Ich spreche nicht vom Willen des Volkes, den die sogenannten Verfechter der Demokratie in den Mund nehmen und ihn mit gesteuerten Umfragen und «Wahlabsichten» dorthin lenken, wo sie wollen. Ich beziehe mich in erster Linie auf die Auswirkungen des Krieges auf ihre eigenen Interessen. Die USA konnten ihre Verbündeten und die Europäer leicht davon überzeugen, dass der Krieg nur von kurzer Dauer sein und dass der Wirtschaftskrieg Russland platt machen würde. Dies war nicht der Fall, und Präsident Biden ist nicht mehr zuversichtlich, dass er die Siegeskarte ausspielen und Russland innerhalb eines Jahres schwächen kann.

Bleibt noch die grosse Geschäftsidee des Wiederaufbaus, die der kränkelnden US-amerikanischen und europäischen Wirtschaft tatsächlich helfen kann. Aber auch das deckt sich nicht mit dem Wahlhorizont Bidens und dem euro-atlantischen Wirtschaftskollaps. Paradoxerweise können der Wiederaufbau und die Aufrüstung Europas dazu führen, dass die Operationen in der Ukraine für die Zeit ausgesetzt werden, die für den Wiederaufbau und die Aufrüstung erforderlich ist, um dann zur Zerstörung zurückzukehren. Das ist ein teuflischer Kreislauf, aber wenn wir genau darüber nachdenken, findet er bereits seit Jahrhunderten überall auf der Welt statt. Der gegenwärtige Krieg in Europa hat ihn vielleicht verkürzt, aber nicht unterbrochen.

Von den Prinzipien, die Sie aufgezählt haben, ist meines Erachtens vor allem eines mittel- bis langfristig der eigentliche Kern des Problems: «Die Lösung des Konflikts muss es ermöglichen, eine neue Sicherheitsstruktur in Europa zu schaffen, die sich nicht ausschliesslich auf bewaffnete Bedrohungen stützt und darauf abzielt, alle Ursachen und Vorwände für territoriale Konflikte zu beseitigen.» Ist unser Kontinent ohne ein Sicherheitsprojekt, das die russischen Forderungen in einen Gesamtrahmen einbezieht, zu einer jahrzehntelangen Destabilisierung verdammt?

Sicherlich ist dies das plausibelste und vom Westen bevorzugte Szenario. Für die USA hat ein permanenter Krieg in Europa mit einem oder mehreren Staaten, die sich freiwillig bereit erklären, ihn auf unbestimmte Zeit anzuheizen, einen doppelten Vorteil: Er engagiert die Europäer gegen Russland und lenkt sie von ihrer Achse mit Peking ab. Doch wie ich in meinem Buch geschrieben habe, gehen die «Freiwilligen» für den endlosen Krieg allmählich zur Neige, angefangen bei denen, die an die Front geschickt werden sollen.

Auf dem Schlachtfeld steht derzeit die Stadt Bachmut im Mittelpunkt des Geschehens, welche die Ukraine um den Preis enormer Verluste an Menschenleben zu verteidigen beschlossen hat. Ist sie strategisch so wichtig? Und was würde ihre Eroberung den Russen bringen?

Fast nichts. Bachmut ist ein Symbol für den gesamten Donbass, ebenso wie Mariupol, das von den Russen zerstört und erobert wurde und nun trotz des Konflikts wieder aufgebaut wird. In wirtschaftlicher Hinsicht ist Bachmut eines von mehreren wichtigen Zentren, nicht so sehr und nicht nur für Russland und die Ukraine, sondern vor allem für die Unabhängigkeit und Autonomie der selbsternannten Republiken. Aus diesem Grund wurde es stark zerstört. Die Republiken haben sich an die Russen angelehnt, aber sie wollen nicht unbedingt zu einem Becken der Ausbeutung werden, wie sie es für die Ukraine oder die UdSSR waren.

Hinzu kommt der militärische Aspekt: Die Wagner-Gruppe kämpft in Bachmut mit leichten Waffen, während sich die russische Armee auf den Vormarsch vorbereitet und inzwischen die gesamte Ukraine aus der Ferne unter Beschuss nimmt. General Winter hat sich dieses Mal zurückgezogen. Der klassische Winterfrost, der es den Panzern ermöglicht hätte, über harten Boden vorzurücken, ist ausgeblieben, und der Schlamm der Rasputiza ist bereits am Werk.

Die westlichen Panzer mit ihren 70 Tonnen stecken bereits in der Krise. Eine Absenkung der Gleiskette um etwa 20 Zentimeter reicht aus, damit der Bauch den Boden berührt und eine Bewegung unmöglich wird. Sie müssen sich auf den Strassen bewegen, was sie noch verwundbarer macht. Weniger schwere russische Panzer hätten eine bessere Chance, aber je länger die Ukraine in Bachmut engagiert ist, desto mehr Zeit bleibt für die Vorbereitung einer Offensive. Auf beiden Seiten.

General, wir beobachten auch mit Besorgnis, was an einer weiteren roten Linie für Moskau passiert. Besteht wirklich die Gefahr, dass sich in Georgien eine zweite Front auftut?

Das ist es, was die USA und ihre Verbündeten wollen. Es ist eine Falle, aber auch diesmal könnte Russland hineingelockt werden. Die Möglichkeit, dass der Westen in Georgien und Transnistrien blufft und dass die USA in der Praxis nicht eingreifen würden, wie schon in der Vergangenheit geschehen, ist sehr verlockend. Und sollte es sich nicht um einen Bluff handeln, bliebe Russland immer noch die Möglichkeit eines direkten Konflikts mit der NATO, der sich, anders als von den Strategen angenommen, nicht auf eine «konventionelle» Konfrontation beschränken lässt.

Heute ist der Begriff «neue Weltordnung» wieder in Mode. Können die Blockfreien in den aktuellen Krisen wieder eine Rolle spielen, die mit den Tagen der Konferenz von Bandung 1955 vergleichbar ist? Welche anderen Blöcke sind als alternative Allianzen und als Friedens- und Verhandlungsmächte in Krisen denkbar?

Ich glaube nicht, dass eine blockfreie Bewegung wie in Bandung, die immerhin indirekt zum Ausgleich der gegnerischen Blöcke beigetragen hat, wiederbelebt werden wird. Nicht nur wegen der politischen Differenzen der verschiedenen «bündnisfreien» Staaten, sondern weil es eigentlich keiner Struktur oder gar einer Ideologie bedarf, um sich zu enthalten. Genauso wenig wie es Verträge und Bündnisse und damit verbundene Zwänge braucht, um einen Dissens auszudrücken. Dieser Ansatz wird von den USA, der NATO und der EU immer noch verfolgt. Und er ist «alt».

Die neue Weltordnung wird nicht in New York, Washington oder Brüssel entschieden werden. Russland, China, Indien, Brasilien, Argentinien, Südafrika, die arabischen Länder und die Länder des Nahen Ostens sowie Dutzende anderer Länder, die drei Viertel der Weltbevölkerung und fast 90 Prozent der wirtschaftlichen Ressourcen ausmachen, sind bereits eine Realität, die nicht in die Vorstellung von Blöcken passt. Es ist auch kein Zeichen von Chaos, denn sie bieten Alternativen, die unabhängig vom Diktat der Blockwarte sind. Die so genannte neue Ordnung ist lediglich die Verwirklichung dieser Realität.

Bei der laufenden Befriedung des Nahen Ostens, die auf den Rückzug der USA und die diplomatische Rolle Chinas zurückzuführen ist, wurde mit der Vereinbarung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, ein wichtiger Schritt getan. Welche Auswirkungen wird dies auf den Konflikt in Europa haben?

Ich habe meine Zweifel, ob es sich hier um eine Beschwichtigung, einen Rückzug des einen und eine diplomatische Rolle des anderen handelt. Unabhängig von äusserem Druck zeigt die Vereinbarung, dass die Konfliktparteien die Bedeutungslosigkeit ihrer jeweiligen ideologischen Positionen erkannt und sie angesichts ihrer eigenen Interessen beiseitegeschoben haben. Es ist auch ein Beweis dafür, dass lineare und symmetrische politische Vereinbarungen und Ausrichtungen nicht mehr der Realität entsprechen und niemanden mehr «besiegeln». Es ist der Beweis, dass mit dieser Logik die Möglichkeiten der Zusammenarbeit grösser sind als mit dem Dauerkonflikt, mit dem wir seit einem Jahrhundert gefüttert werden.

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Fabio Mini hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter «Che guerra sarà» (Welcher Krieg es sein wird) im Jahre 2017 und das gerade erschienene «L’Europa in guerra» (Europa im Krieg).

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