Horst D. Deckert

Kabul darf nicht vergessen: „Die Türkei war ein wichtiger Teil der NATO-Mission in Afghanistan“

Noch vor der blitzartigen Übernahme Afghanistans durch die Taliban letzten Monat begann Ankara mit der Annäherung gegenüber der Gruppe, um sicherzustellen, dass die Türkei auch nach deren möglicher Übernahme weiterhin in den Betrieb des internationalen Flughafens von Kabul involviert sein könne. Während der NATO-Besatzung Afghanistans war die Türkei für die Sicherheit auf dem Flughafen von Kabul verantwortlich und verhandelt aktuell mit Katar und den Taliban über eine künftige Teilhabe an der Sicherheit und der Leitung des Flughafens.

In einer Rede am 20. Juli bestand der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan darauf, dass die Taliban es mit der Türkei leichter haben würden als mit den Vereinigten Staaten. „Die Türkei sieht nichts Falsches am Glauben der Taliban. Ich denke, sie werden mit uns darin übereinstimmen, dass wir die fraglichen Themen besser diskutieren können.“

In einem entlarvenden Seitenhieb auf die NATO-Verbündeten der Türkei in Afghanistan – unter deren Oberkommando auch die Türkei seit 2001 aktiv beteiligt war – sagte Erdogan weiter: „Diese imperialen Mächte drangen in Afghanistan ein. Sie sind seit mehr als 20 Jahren dort. Wir standen unseren afghanischen Brüdern im Angesicht all dieser imperialen Mächte stets bei und kämpften mit ihnen um den Schutz des Flughafens von Kabul.“

Der Parlamentsabgeordneter und Sprecher für auswärtige Angelegenheiten der türkischen Oppositionspartei HDP Hisyar Özsoy betonte dagegen: „Die Türkei war ein wichtiger Teil der NATO-Besatzung in Afghanistan.“

„Jetzt aber“, fuhr Özsoy fort, „da der Westen insgesamt und die USA im Besonderen nicht an Orten wie Afghanistan bleiben wollen, wird die Türkei meines Erachtens versuchen, als eine Art Vertretungsmacht aufzutreten, um das politische Vakuum zu füllen und die vorherrschenden Sicherheitsprobleme an solchen Orten zu bekämpfen.“

Die Migrationswaffe soll geladen bleiben

Özsoy sagte gegenüber The Cradle, dass Präsident Erdogans oberste Priorität im unbedingten Machterhalt in der Türkei bestehe: „Mit Blick auf die türkischen Präsidentschaftswahlen 2023 sollte alle Handlungen Erdogans im Ausland in Verbindung mit dem gesehen werden, was er in der Heimat unternimmt. Momentan versucht er sich ein Abkommen mit westlichen Ländern, denen er das Angebot unterbreitet, ihnen im Gegenzug zu deren Unterstützung seiner weiteren politischen Ambitionen nützlich zu sein. Die US-amerikanischen und europäischen Regierungen sind offen für eine derartige Abmachung. Dank der türkischen Mitgliedschaft der NATO gibt es wohl kein Land, das sich besser eignen würde. Effektiv bietet Erdogan dem Westen eine Brücke zu den Taliban an.“

Özsoy sieht in der Flüchtlingsfrage ein wichtiges Instrument für Erdogan bei den Verhandlungen mit dem Westen: „Wir haben schon Millionen syrischer Flüchtlinge in der Türkei. Jetzt werden noch die afghanischen Flüchtlinge hinzukommen. Doch letztlich geht es nicht nur um Syrien und auch nicht nur um Afghanistan. Wir erleben gerade eine Phase der permanenten Positionsverschiebungen. Millionen Flüchtlinge wollen nach Europa gelangen, und viele dieser Menschen werden die Türkei passieren müssen. Erdogan hat seine bisherigen Versprechen wie jene gegenüber Bundeskanzlerin Angela Merkel in Bezug auf die Flüchtlingssituation und die Begrenzung des Flüchtlingsstroms größtenteils eingehalten.“

In einem Interview mit dem türkischen Staatsmediensender A Haber am 16. August sagte Taliban-Sprecher Suhail Shaheen: „Die Türkei ist ein großes islamisches Bruderland. Wir wollen in Zukunft gute Beziehungen zur Türkei haben. Wir wollen Zusammenarbeit und brauchen Hilfe und vieles mehr in Afghanistan.“

Türkeitreue Islamisten auch für Afghanistan

Am 29. August sagte Erdogan, dass die Türkei in Afghanistan eine Vereinbarung treffen könnte, die der Vereinbarung von 2019 mit der in Tripolis ansässigen Regierung des Nationalen Abkommens (GNA) in Libyen ähnlich ist, einer inzwischen aufgelösten Übergangsinstitution. Als Teil dieses Abkommens erklärte sich die Türkei damals bereit, Militär- und Sicherheitshilfe zu leisten, und entsandte Hunderte ihrer eigenen Truppen in Misurata und Tripolis.

Viel umstrittener ist, dass die Türkei Tausende von Militanten der Syrischen Nationalarmee (SNA) – einer Dachorganisation der von der Türkei unterstützten Oppositionsfraktionen in Syrien – in den nordafrikanischen Staat geschickt hat. Verschiedene SNA-Fraktionen haben in den von ihnen derzeit kontrollierten Teilen Syriens zahllose Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen.

Nach der Gründung der SNA meinte Präsident Erdogan Ende 2017, dass die oppositionellen Milizen der Türkei dabei helfen würden, in Syrien eine „sichere Zone“ zu schaffen, um sowohl den Islamischen Staat, als auch die PKK in Schach zu halten. Im Januar 2018 begann die Türkei und ihre SNA-Stellvertreter daraufhin einen Luft- und Bodenangriff auf Afrin, einer überwiegend kurdischen Stadt im Norden Syriens. Die türkische Regierung betitelte den Angriff auf Afrin als Operation Olivenzweig und hatte das Ziel, die Stadt vom IS und der PKK zu säubern.

Tarnen & Täuschen fürs neo-osmanische Großreich

Beweise für die von der Türkei behauptete Anwesenheit von IS-Kämpfern in der Region gab es keine. Ein Kämpfer der SNA Hamza Division, mit dem The Cradle 2019 ein Interview über den Militäreinsatz in Afrin führte, meinte, dass er und viele andere sich sich von den Behauptungen der Türkei getäuscht fühlten. „Uns wurde gesagt, wir würden den IS und die PKK bekämpfen“, sagte er. „In Wirklichkeit aber gab es gar keinen IS, lediglich die YPG gab es dort.“ Die YPG ist eine von den USA unterstützte Kurdenmiliz.

Selbst Erdogans eigene Äußerungen nach Beginn des Angriffs auf Afrin widersprachen dem Narrativ der türkischen Regierung. „Wir bewegen uns auf Kizil Elma zu“, soll Erdogan Tage nach Beginn des Angriffs auf Afrin in einer Rede gesagt haben. Kizil Elma (türkisch für „roter Apfel“) symbolisiert den türkisch-nationalistischen Willen, alle türkischen Völker unter einer Flagge zu vereinen, und dass die Türkei die Kontrolle über all jene Gebiete erlangt, die einstmals vom Osmanischen Reich beherrscht wurden.

„Erdogan hat neo-osmanische Ambitionen“, kommentierte Ahmet Yayla Erdogans Vorgehen und Kommentare, der früher in der türkischen Polizei für die Terrorismusbekämpfung verantwortlich war und heute das Center for Homeland Security an der DeSales University leitet. „Das betrifft nicht nur Syrien. Auch in Libyen wird dies sehr deutlich in der Art und Weise, wie die Türkei Militante [SNA] entsendet, um an der Seite der Nationalen Einheitsregierung in Tripolis zu kämpfen. Erdogan kann sich nur so lange an der Macht halten, wie er expandieren kann.“

Zündeln mit privatem Islamistenmilitär

Am 14. Juni teilte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit, dass die USA und die Türkei sich in Gesprächen über die Verwaltung des Flughafens in Kabul nach Ende der Besatzung befänden. Unmittelbar nach diesen Äußerungen machten Gerüchte über einen Einsatz der zuvor in Syrien kämpfenden SNA in Afghanistan die Runde. Neben Tausenden von SNA-Kämpfern, die von der Türkei seit 2019 nach Libyen entsandt und dort dauerhaft stationiert wurde, schickte die Türkei nur wenige Tage vor dem Kriegsbeginn gegen Armenien um Berg-Karabach auch rund 2.000 SNA-Kämpfer nach Aserbaidschan.

„Es wurden einige Sprachnotizen von SNA-Kommandanten herumgeschickt“, erklärte die Quelle in der Fraktion der SNA Hamza Division. „Darin hieß es, dass jeder seinen Namen und ein Bild des Personalausweises schicken soll, der nach Afghanistan verlegt werden will. Wir dachten nicht, dass es passieren würde, allerdings hatten wir auch nicht erwartet, dass jemand nach Aserbaidschan geschickt würde. Und vor zwei Jahren dachte niemand, dass wir in Libyen eingesetzt würden. Mittlerweile scheint alles möglich. Seitdem die Taliban Afghanistan übernommen haben, kam allerdings nichts mehr neues rein.“

Obwohl unklar ist, ob die Türkei ihre syrischen Söldner auch in ihre Pläne für Afghanistan mit einbeziehen wird, bestand eine der Vorgaben der Türkei gegenüber den Taliban in Bezug auf den Weiterbetrieb des Flughafens in Kabul in der Beteiligung einer privaten türkischen Sicherheitsfirma. SADAT International Defence Consultancy ist ein privates türkisches Sicherheitsunternehmen unter der Leitung des ehemaligen türkischen Generals und Islamisten Adnan Tanriverdi, einem ehemaligen Berater von Erdogan, der auch mit der Entsendung und dem Management von SNA-Kämpfern in Aserbaidschan und Libyen in Verbindung gebracht wird.

Fazit: Könnte klappen

„Ich bin sicher, die Geheimdienste in Großbritannien, Deutschland und den USA wissen, was vor sich geht und wie viele syrische Söldner von einem Ort zum nächsten verlegt werden“, sagte der Abgeordnete Hisyar Özsoy. „Sie wissen auch von den Gräueltaten, die in Syrien und andernorts von Gruppen begangen wurden, hinter denen die Türkei steht. Was wir erleben ist eine schmutzige Politik. Den Regierungen in Europa und in Nordamerika gefällt nicht, was Erdogan in Syrien und in Libyen angerichtet hat, doch sie denken sich auch, dass irgendjemand das Chaos aufräumen muss und sie das nicht machen wollen. Es ist besser, wenn es der Türkei überlassen wird.“

Es gibt stark Gerüchte darüber, dass die Türkei die in ihren Diensten stehenden zentralasiatischen Islamisten mit einer Nähe zu Al-Kaida, die bislang in Idlib stationiert waren, in Afghanistan loszuwerden, da ansonsten droht, dass sie in Europa aktiv werden könnten. Handfeste Beweise gibt es dafür allerdings noch keine. Mit großer Sicherheit lässt sich dagegen feststellen, dass Erdogans Ziele in Afghanistan getrieben werden von seinem umfangreichen Netzwerk aus militanten Islamisten, dem weiterhin sehr starken Drang, den Einfluss der Türkei weit über ihre Grenzen auszudehnen und sich in der vorherrschenden Machtstruktur der NATO, aber auch gegenüber dem Iran, China und Russland eine vorteilhaftere Stellung zu erarbeiten – während alles davon umrahmt wird von den alten und weiteren Machtambitionen des türkischen Präsidenten.

Aktuell sieht es weiterhin nicht so aus, als wären die Taliban offen für ein neuerliches Engagement Ankaras in dem Land. Mit Katar allerdings pflegt ein enger Verbündeter der Türkei beste Kontakte zum neuen afghanischen Regime. Der Schlüssel zu Erdogans Einzug in die neue afghanische Machtstruktur liegt daher sehr wahrscheinlich in Doha.

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