Horst D. Deckert

«Long-Covid»: Infektion kann nicht die Ursache sein

Kaum ein Medium hat die Meldung ausgelassen, alle wissen es: Corona kann einen langen Nachhall haben. Unerklärbare Erschöpfungszustände unter denen auch junge Patienten leiden, selbst bei einem milden Verlauf. Jeder Vierte soll darunter leiden – eine Spurensuche.

Eine Sensation macht schnell die Runde, weil es jeder weitersagen will und eigentlich will jeder der Erste sein, der die Sensation berichtet. Unter dem Druck, den Lesern eine Schlagzeile zu liefern, kann die Qualität der Recherche leiden.

Bei vielen Krankheiten ist die spontane Remission, also die Genesung ohne Therapie, der Normalfall. Es kann aber auch immer zu einer Abweichung vom typischen Verlauf kommen und eine therapeutische Unterstützung ist angezeigt. Bei solchen abweichenden Genesungsverläufen kommt es auch vor, dass eine vollständige Remission erst verzögert eintritt oder vollkommen ausbleibt. Bei vielen Krankheiten ist das die seltene Ausnahme. Was nun aber, wenn eine für viele scheinbar unbedeutende Krankheit viele Patienten nach der vermeintlichen Genesung in Fesseln legt?

Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2 Infektion

Die ersten Untersuchungen zu Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2 Infektion stammten aus Untersuchungen zu Personen, die hospitalisiert werden mussten. Dies entspricht einer speziellen Selektion, da in diesen Untersuchungen nur die schweren Verläufe enthalten sind.

Eine Verallgemeinerung dieser Ergebnisse an Hospitalisierten ist daher nicht möglich. Vor diesem Hintergrund ist die Studie der Forschungsgruppe von Professor Milo Puhan, Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich, als Gewinn zu werten.

Sie untersucht als erste die Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2 Infektion an einer Gemeinde-Stichprobe, zu der alle positiv Getesteten zugelassen waren. Das Ergebnis schreckt auf. Mit 25% gibt ein sehr grosser Anteil der Befragten an, an den für Long-Covid typischen Erschöpfungssymptomen zu leiden. Wie die Meldung in die Presse kam und wer die Meldung als erstes publiziert hat, ist schwer zu ermitteln.

Nicht für Medien geeignet

Die Ergebnisse der Studie sind auf einem Preprint Server erschienen und mit einer expliziten Warnung versehen, dass diese Ergebnisse nicht für die Publikation in Medien geeignet sind und nicht als etablierte Information dargestellt werden dürfen.

Die Studie weist auf eine Reihe von Einschränkungen hin, die bei der Interpretation der Ergebnisse beachtet werden müssten. So wie die Aussagen in der Presse wiedergegeben werden, ist die Studie falsch zitiert. Die Studie weist explizit auf zwei Stichprobeneffekte hin, womit die Aussage, dass jeder Vierte ein «Long-Covid» entwickelt, nicht einfach so in den Raum gestellt werden kann.

Andere Praxisstichproben haben über 0% «Long-Covid» berichtet. Trotzdem hält sich der Mythos von 25%: «Wer eine SARS-CoV-2 Infektion durchgemacht hat, wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 25% ein Long-Covid entwickeln».

Die Aussage beinhaltet neben der Häufigkeit auch die Behauptung einer Kausalbeziehung, die von der Studie nicht belegt wird. Die Studie führt explizit aus, dass die Belastungssituation vor der Infektion nicht erhoben wurde und darum kein Wirkeffekt nachgewiesen werden kann (fehlende Baseline).

Zusätzlich warnt die Studie explizit, dass die Interpretation der Symptome im Bereich von Depression und Angst durch die allgemeine psychologische Belastung aufgrund der Lockdownmassnahmen und der Pandemie begrenzt ist. Alle diese Hinweise werden in der Berichterstattung der Presse ausgelassen.

Verwechslung der Ursachen

In den Berichten über Long-Covid fehlt regelmässig ein Bezug zur allgemeinen Belastungssituation. An der Universität Basel läuft eine Begleitstudie, welche die Belastung in der Bevölkerung misst. Die dritte Erhebungswelle im November 2020 legt es offen. Die Folgen der Massnahmen sind schwerwiegender als befürchtet.

Der Anteil der Personen mit maximalen Stresswerten hat sich von April 2020 bis November 2020 verdoppelt. Bei den Personen mit mittleren bis schweren depressiven Symptomen sind die Veränderungen noch extremer.

Vor der Pandemie gaben 3% der Befragten diese depressiven Symptome an. Im April während dem Lockdown lag der Wert bei 9%, nach dem Lockdown im Mai stieg der Wert auf 12%, im November gar auf 18%. Das ist ein sehr grosser Anstieg.

Die Basler Studie führt diese enorme Zunahme bei den Stresswerten und bei den depressiven Symptomen auf Veränderungen durch die Lockdownmassnahmen zurück. Auf der Website zur Studie heisst es:

«Zu den Faktoren, welche mit psychischem Stress und depressiven Symptomen zusammenhängen, zählen die Belastung durch eine Covid-19-bedingte veränderte Situation bei der Arbeit, an der Schule oder in der Ausbildung. Weitere Faktoren sind die Belastung durch Covid-19-bedingte finanzielle Einbussen, die Belastung durch die Zunahme von Konflikten zuhause und Zukunftsängste.»

Wenige waren «infiziert», aber alle vom Lockdown betroffen

Am 31.12.2019 betrug die ständige Wohnbevölkerung ab 14 Jahren in der Schweiz 7.4 Mio. Einwohner (Quelle BFS). Wenn gemäss der Basler Studie davon auszugehen ist, dass 15% von 7.4 Mio. Einwohnern neu von mittleren bis schweren depressiven Symptomen betroffen sind, umfasst diese Gruppe 1.1 Mio. Personen. Im Wochenbericht des BAG zur Woche 53 vom 6.1.2021 werden 470’789 Fälle mit einem positiven PCR-Test ausgewiesen. Das sind alle Fälle, die im Jahr 2020 mit dem PCR-Test als SARS-CoV-2 positiv ausgewiesen wurden.

Wenn ein Viertel dieser Personen aufgrund der Infektion ein «Long-Covid» entwickelt hätte, dann dürfte die Anzahl der Personen mit Erschöpfungssymptomen lediglich bei rund 116’000 Personen liegen.

Der weitaus grösste Teil der Personen, die Symptome von Long-Covid haben, waren nur den Massnahmen, nicht aber dem Virus ausgesetzt.

Knapp 90% der Personen, die neue mittlere bis schwere depressive Symptome entwickelt haben, hatten keinen Kontakt mit SARS-CoV-2, waren aber von den Lockdownmassnahmen betroffen und Opfer einer ständigen medialen Berieselung mit Fallzahlen. Korrekterweise müsste die Aussage lauten: Die Massnahmen führen bei einem grossen Teil der Bevölkerung zu «Long-Covid», auch wenn man keine Infektion hatte.

Pathogene Wirkung der Berichterstattung

Der Einfluss unserer Erwartungshaltung auf unsere Gesundheit ist gross. Dieser Effekt ist bekannt und muss bei Studien zu Medikamenten als sog. «Placeboeffekt» berücksichtigt werden. Der umgekehrte Effekt – «Noceboeffekt» – ist ebenfalls sehr gut untersucht.

Wenn Patienten über die Nebenwirkung eines Medikamentes informiert werden, dann aber ein Präparat ohne Wirkstoff erhalten, entwickeln sehr viele Menschen trotzdem die angekündigten Nebenwirkungen. Je nach Studie und Erkrankungsbild können bis zu 80% der Personen aus der Placebogruppe Nebenwirkungen entwickeln, ohne den Wirkstoff erhalten zu haben.

Die Berichterstattung, welche die kausale Beziehung zwischen SARS-CoV-2 und «Long-Covid» herstellt und dann auch noch behauptet, dass jeder Vierte in der Folge ein «Long-Covid» entwickelt verfügt über eine stark pathogene Wirkung.

Viele Leser glauben diesen Zusammenhang und an die Gefahr und haben aufgrund dieser Ankündigung ein höheres Risiko ein «Long-Covid» Syndrom zu entwickeln.

Trotz allem Verständnis für den Druck, eine Schlagzeile liefern zu müssen – beim Vorliegen so schwerwiegender pathogener Effekte muss die fehlende Sorgfalt in der Recherche und in der Berichterstattung aufs schärfste verurteilt werden.

Quellen:

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Dr. Kai von Massenbach (*1967) studierte Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen (HSG) und Psychologie an der University of Athens (USA) und an der Universität Zürich. Von 1994 bis 1997 arbeitete er am Institut für Suchtforschung und erlangte im Jahr 2000 seinen Doktorgrad (PhD) an der Universität St. Gallen. In seiner Dissertation hat er sich eingehend mit Fragen der Stressverarbeitung im Arbeitskontext befasst. Nach verschiedenen Aufgaben in der Unternehmensberatung war er von 2004 bis 2009 in der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich als Bereichsleiter Psychiatrie für die Planung und Vereinbarung der Leistungsaufträge im Bereich Psychiatrie verantwortlich. Seit kurzem führt er einen eigenen Blog.

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