Horst D. Deckert

Schliessung prorussischer Fernsehsender in der Ukraine: Putins «letzter Strohhalm»

In einem kürzlich erschienenen Artikel für Layout untersucht der russische Journalist Ilya Zhegulev, wie Putin «auf die Idee eines Krieges in der Ukraine kam». Zhegulev ist ein angesehener Dissident, der derzeit dem Wilson Center in Washington angehört (mit anderen Worten: er ist nicht pro Putin).

Es gibt zwar Hunderte von Artikeln, in denen erörtert wird, warum Putin die Invasion gestartet hat, doch dieser basiert auf «Gesprächen mit ehemaligen und derzeitigen Beamten der russischen und ukrainischen Behörden». Er ist also mehr wert als die meisten anderen – selbst wenn man nicht mit allen Interpretationen des Autors einverstanden ist.

Einige Themen sind natürlich bekannt. Putin betrachtete die unabhängige Ukraine zunehmend als ein «künstliches Phänomen». Er misstraute dem Einfluss der USA zutiefst und glaubte, dass die US-Amerikaner «alle Entscheidungen in Bezug auf die Ukraine treffen». Und er hatte versucht, die Ukraine durch die Minsker Vereinbarungen, die «eine grosse Erleichterung» waren, im Einflussbereich Russlands zu halten.

Als Selenski an die Macht kam, «hoffte Putin, dass Verhandlungen möglich sein würden», da er davon ausging, «dass er den unerfahrenen Politiker besiegen und endlich die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen einleiten würde». Selenski erwies sich jedoch als «ein noch schwierigerer Verhandlungspartner als sein Vorgänger». Nachdem der Pariser Gipfel 2019 kein zufriedenstellendes Ergebnis brachte, verschlechterten sich die Beziehungen rapide.

Der «letzte Strohhalm» war Selenskis Entscheidung, drei mit dem Putin-Alliierten Viktor Medwedtschuk in Verbindung stehende prorussische Fernsehsender zu verbieten. Laut Zhegulev war dies ein Versuch, Medwedtschuk zu «neutralisieren», dessen Partei kürzlich bei sechs Regionalwahlen gegen Selenskis Partei gewonnen hatte.

Drei «dem russischen Präsidenten nahestehende Quellen» bestätigten die Bedeutung von Selenskis Entscheidung, die Putin als «persönlichen Angriff» verstand. Zhegulev merkt an, dass «die Existenz von Medwedtschuk und seinen Kanälen wie eine Brücke und eine Hoffnung gewesen sei, die Situation irgendwie mit politischen Mitteln zu lösen».

Was Zhegulev nicht erwähnt, ist, wie Oleksandr Danylyuk, Selenskis ehemaliger nationaler Sicherheitsberater, die Entscheidung in einem Interview mit dem Magazin Time im letzten Jahr charakterisierte. Dieser sagte insbesondere, dass sie «kalkuliert wurde, um sich in die US-Agenda einzufügen».

Es ist nicht ganz klar, was Danylyuk damit meinte. Der Autor des Time-Artikels schreibt, das Verbot der Fernsehsender sei «als willkommenes Geschenk an die Biden-Administration gedacht, die den Kampf gegen die internationale Korruption zu einem Pfeiler ihrer Aussenpolitik gemacht hat». Vielleicht meinte Danylyuk damit nur, dass Selenski wusste, dass die USA es gutheissen würden, wenn er etwas unterbindet, das sie als Korruption betrachten.

Es ist jedoch bemerkenswert, dass eine Entscheidung, die für Putin den «letzten Strohhalm» darstellte, auch «kalkuliert wurde, um sich in die US-Agenda einzufügen».

Es gibt zwei Möglichkeiten: Die eine ist, dass die US-Beamten zwar gute Absichten hatten, aber die Situation so schlecht kannten, dass sie nicht damit gerechnet haben, dass Putin auf das Verbot der Fernsehkanäle seines Verbündeten reagieren würde. Die andere Möglichkeit ist, dass die US-Beamten tatsächlich wollten, dass Putin reagiert. Keine der beiden Möglichkeiten erweckt Vertrauen.

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