Horst D. Deckert

Türkei-Gastarbeiteranwerbung 1961: Blaupause für heute?

Ankunft erster türkischer Gastarbeiter in der BRD 1961 (Foto:Imago)

Vor 60 Jahren verschärfte sich in Deutschland der Arbeitskräftemangel. Die Anwerbung von Italienern seit 1955, die von Griechen und Spaniern 1960 hatte noch nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt, und am 13. August 1961 ließ die DDR zu allem Überfluss auch noch Mauer hochziehen und stoppte so das Ausbluten ihres zuvor für den Westen Deutschlands segensreichen, gut ausgebildeten Arbeitskräftepotenzials. Dies führte zur Verknappung von Arbeitern im Westen; woher also nehmen? 1961 gab es zwar noch keine Angela Merkel (die war damals gerade 7 Jahre alt und lernte in der Schule, dass ein „antifaschistischer Schutzwall“ unverzichtbar zur Verteidigung des Sozialismus sei); doch es gab schon damals im Westen welche, die ein großes Herz für die Türkei hatten – die einstigen Waffenbrüder Hitlers keine 20 Jahre zuvor. Nach dem Krieg hatten viele türkische Familien für reichlich Nachwuchs gesorgt hatten viele „Jungtürken“ in ihre türkische Welt gesetzt, mit der Folge, dass die dortige Arbeitslosigkeit stieg und stieg, während in Deutschland nicht nur Vollbeschäftigung herrschte, sondern der Arbeitskräftemangel zunahm. Was lag also näher als ein Deal zur vermeintlichen beiderseitigen Win-Win-Situation mit Deutschland?

Die Hilfe ließ nicht lange auf sich warten, wobei die Initiative für das deutsch-türkische Anwerbeabkommen – was heute gerne vergessen wird – von der Türkei ausging: Am 30. Oktober 1961 kam es unter der dritten Adenauer-Regierung zum Abschluss des Vertrages. Allerdings nicht aus reiner Gefälligkeit der Türkei gegenüber – sondern aus schierer Notwendigkeit für die inländische bundesdeutsche Wirtschaft. Neben dem erwähnten Mauerbau befeuerten vier weitere Faktoren den heimischen Arbeitskräftemangel: Die ab 1956 wiedereingeführte Wehrpflicht entzog dem Arbeitsmarkt viele junge Männer. Zudem wurde die Wochenarbeitszeit verkürzt und das Rentenalter zugleich gesenkt. Und schließlich erhöhten die bereits in den 1950ern als Gastarbeiter angeworbenen Südeuropäer die Nachfrage nach Mitteln des täglichen Lebensbedarfs, denn nicht alles wurde durch sie selbst produziert. Ihre Arbeitsleistung holte nicht nur Kohle aus den Gruben und baute Autobahnen, sondern hatte eine Konsumsteigerung zur Folge.

Vermeintliche Win-Win-Situation vor 60 Jahren

Eigentlich hätten schon die erste Arbeitsmigranten seit 1955 das Problem der Wirtschaft lösen sollen; doch weil dies nicht eintrat, glaubte man Anfang der 1960er, es seien vielleicht zu wenige „Gastarbeiter“ gewesen. Daher waren die Türken hochwillkommen. Aber es gab einen Unterschied: Die Arbeiter aus Südeuropa durften ihre Familien mitbringen – die türkischen nicht. Außerdem war ihre Tätigkeitsdauer in Deutschland im Rahmen eines Rotationsprinzips auf zwei Jahre beschränkt. Auf Druck der deutschen Unternehmen wurde diese Befristung alleridngs bereits 1964 aufgehoben. Schon damals waren es die Wortführer von Industrie und produzierenden Gewerbes gewesen, die nach mehr ausländischen Arbeitskräften riefen – und dabei die sozialen Nebenkosten, ganz unsozial, dem Sozialstaat aufluden. (Daran hat sich nicht viel geändert: Heute ist es Immobilien-Migrationsgewinnler Markus Jerger vom Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW), der nach hunderttausenden neuen Ausländern ruft.) Und einen weiteren Nebeneffekt der Arbeitsmigration hatte die Wirtschaftslobby damals wie heute im Hinterkopf: Dieie „industrielle Reservearmee“ dazu zu nutzen, die Macht der Gewerkschaften zu begrenzen und das Niveau der Löhne und Gehälter tendenziell zu drücken.

Die Türkei war der große Nutznießer des Geschäfts im Jahr 1961: Die dortige Arbeitslosenzahl konnte infolge des Arbeitskräfteexports trotz des Geburtenüberschusses stabilisiert werden. Und die Geldüberweisungen der Gastarbeiter in ihre türkische Heimat sorgten bald schon für eine bessere Handels- und Leistungsbilanz. Die innenpolitische und binnenwirtschaftliche Stabilisierung der Türkei lag insbesondere im Interesse der USA, die ihrer Mittelstreckenraketen gegen die Sowjetunion auf dem „unsinkbaren Raketenträger“ der anatolischen Halbinsel stationiert hatte (Langstreckenraketen gab es damals noch nicht).

Negative Bilanz für Deutschland

Die Bilanz der Gastarbeiteroffensive für Deutschland war negativ: Obwohl das Arbeitskräftepotenzial zunahm, ging die Entwicklung des Bruttosozialprodukts (heute: „Inlandsprodukt BIP“) ab. In Wencke Thieles Buch „Wirtschaftgeschichte: Die Große Koalition der 60er Jahre heißt es dazu: „In den Jahren 1960 bis 1965 sank der Prozentsatz des jährlichen Wirtschaftswachstums von 9 % (1960) auf 5,7 % im Jahre 1965. (…) Auch war in den Jahren vor dem Regierungswechsel zur Großen Koalition ein Anstieg der Preise zu verzeichnen. So stiegen die Kosten im Jahre 1965 um etwa 3,4 %, im folgenden Jahr noch einmal um 3,5 %. Es zeichnete sich eine drohende Inflation ab. Weiterhin trugen die von staatlicher Seite eingeleiteten Steuersenkungen, in deren Folge ein Haushaltsdefizit entstand. (…) Höhere Ausgaben in nicht-wirtschaftlichen Bereichen trugen zur inflationären Entwicklung bei (wie heute wieder, der Autor)… Investoren schreckten vor den teuren Krediten zurück. Gemeinsam mit den drastischen Sparprogrammen der Bundesregierung verschlimmerte dies die wirtschaftliche Lage bzw. ihre Entwicklung. Die öffentlichen und privaten Investitionen sanken deutlich. Die Inlandsbestellungen ließen nach. Es wurde mehr produziert als verkauft, Lagerbestände wuch-sen. In deren Folge wurden Kapazitäten stillgelegt und Arbeiter entlassen, was sich spätestens an den Arbeitslosenzahlen im Jahr 1967 deutlich ablesen lässt: Die Arbeitslosenquote war innerhalb von zwei Jahren von 0,7 auf 2,2 % angewachsen.

Nach der vierten Zuwanderungsgruppe an türkischen Gastarbeitern sank dann auch die Produktivität, weil es sich die Unternehmen angesichts der billigen Arbeitskräfte leisten konnten, Modernisierungen zu unterlassen. Nach der Wirtschaftskrise 1967 wiederholte sich diese Entwickliung, als die Stahl- und Autoindustrie abermals mehr ungelernte Arbeitskräfte einstellten, um so teure Rationalisierungen zu vermeiden. Insgesamt waren  bis dahin 678.702 Männer und 146.681 Frauen eingereist – insgesamt also 825.383 Türken (bis zur Wirtschaftskrise 1975 erhöhte sich ihre Gesamtzahl nochmals leicht auf 867 000). 1973 wurde dann ein Anwerbestopp verfügt. Sollte dieser die bevölkerungspolitischen Auswirkungen der Migration damals schon hellsichtig begrenzen, so nützte diese Maßnahme herzlich wenig: Heute leben rund 3 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. Viele der Frauen der ersten Generation können immer noch nicht richtig Deutsch sprechen, weil sie als Hausfrauen „gehalten“ werden.

Hinterfragungswürdige Legendenbildung

War die erste Generation allerdings durchaus noch integrationswillig und in der Atatürk-Türkei säkular geprägt geworden, entwickelte sich mit der zweiten und dritten Generation zunehmend eine frommere, schlechter integrierte und wirtschaftlich unproduktivere Parallelgesellschaft der Türken in Deutschland, die bis heute leider weiterhin wächst: In Nordrhein-Westfalen sind etwa nur 57 Prozent von ihnen erwerbstätig, über 8 Prozent arbeitslos. Zum Vergleich: Sonstige Ausländer im Ruhrpott sind immerhin zu 62 Prozent erwerbstätig, wir Einheimische zu 76 Prozent. Müssen wir vor diesem Hintergrund, da wieder die Legende der türkischen Gastarbeiter, die „Deutschland aufbauten“ zirkuliert, jenen wirklich mehr dankbarer sein als sie umgekehrt uns?

Zur wirtschaftlichen Fehlentwicklung der damaligen Migrationspolitik äußert sich die die Historikerin Heike Knortz sehr kritisch. Sie sieht gegenüber den wirtschafts- und innenpolitischen Ursachen einen „Primat der Außenpolitik“ und in der Zuwanderung eine ökonomische Fehlentwicklung der frühen Bundesrepublik. Durch den Import von billigen Arbeitskräften seien nur veraltete Industrien wie der Kohlebergbau künstlich am Leben gehalten und ein echter Strukturwandel verhindert worden. Die Anwerbeabkommen hätten sich nicht an den mittel- bis langfristigen arbeitsmarktpolitischen Bedürfnissen der BRD orientiert.

Auch Helmut Schmidt sah das Anwerbeabkommen rückblickend kritisch: „Es war ja Ludwig Erhard, der das Ganze in Gang brachte, zunächst als Wirtschaftsminister, später als Bundeskanzler. Deutschland hatte einen Bedarf an Arbeitskräften, was die Löhne ansteigen ließ. Das wollte er verhindern.“ 2004 befand Schmidt, noch deutlicher: „Es (war) ein Fehler, daß wir zu Beginn der sechziger Jahre Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land holten„. Dieser Fehler wurde seitdem nicht nur wiederholt, sondern noch verschlimmert – denn heute werden nicht einmal (Gast-)Arbeiter ins Land geholt, sondern Menschen, die fast immer dort, wo sie herkommen, nötiger gebraucht würden als hier bei uns. Also nicht nur das aufnehmende Land braucht die Mehrzahl der direkt in die Sozialsysteme einwandernden Migranten der Gegenwart nicht mehr, sondern deren Herkunftsländer wären auf ihre Arbeitskraft zugleich händeringend angewiesen – gerade in Ex-Bürgerkriegsstaaten, in denen ein Wiederaufbau ansteht. Die Wechselwirkung zwischen Migration und Ökonomie ist heute also noch ungünstiger und kostenintensiver wie damals (siehe oben). Darf man angesichts dieser Entwicklung noch auf bessere Ergebnisse durch ein Mehr an Migration hoffen? Wohl kaum.

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