Horst D. Deckert

Umarme einen Polizisten!

«Darf ich Sie etwas fragen?», wendet sich die zierliche Dame vorsichtig an den Polizisten. Der Polizist antwortet: «Ja, wie kann ich Ihnen helfen?» «Ich habe mir zum Ziel gesetzt, einen Polizisten zu umarmen. Darf ich Sie umarmen?», fragt Karolina Renate Rieser mit einladender Geste. Etwas erstaunt antwortet der Polizist: «Ja, wenn Sie das wollen.»

Die kleine, schmächtige, bald 72-jährige Dame nimmt den grossgewachsenen Polizisten in kompletter Einsatzkleidung in den Arm. «Weil der Mann so gross war, konnten sich unsere Herzen nicht berühren, aber er hat mir während der Umarmung zugeflüstert, dass er auf unserer Seite ist und seine Frau auch unter den Demonstrierenden sei …»

Da Polizisten immer zu zweit unterwegs sind, bietet Karolina ihre Umarmung auch dem Kollegen an. Bei der zweiten Umarmung mit dem Kollegen spürt Karolina an ihren Händen die harten Gegenstände am Einsatzgürtel. Die Herzen waren sich diesmal, der ähnlicheren Körpergrösse sei Dank, näher.

fullsizeoutput_138b-e0f95-f1521.jpg?1620

Der Mut stieg nach diesem Erlebnis exponentiell an: «Einer reicht nicht, ich möchte zwei, drei Polizisten umarmen!» Den Geistesblitz, einen Polizisten zu umarmen, hatte Karolina auf dem Klo in der Bibliothek in Liestal. Dorthin hatte sie sich vor dem Anschluss an den Demozug am 20. März 2021 nochmals zurückgezogen, um, wie sie erzählt, mit einem «Pipi» etwas Nervosität und Angst loszuwerden. «Meiner Angst vor dem grossen Polizeiaufgebot musste ich mit einer kreativen Idee begegnen.»

Bald darauf entdeckte sie eine Gruppe «Rambos», wie sie die Sorte von Polizisten nennt, die schwer «bepanzert und behelmt» sind. Diese trugen ein Zürcher Kantonsabzeichen auf ihrer Weste. Die gepanzerte Ausrüstung schützt anscheinend nicht nur gegen Munition, sondern lässt auch nicht viel an menschlicher Kommunikation durchdringen. Doch immerhin einer von drei Einsatzkräften liess sich auf die Frage, die Karolina zuvor den Kollegen gestellt hatte, mit einem «Wenn Sie das unbedingt wollen!» umarmen. Karolina spürt die harte Schale des Panzers am Leib des Mannes. Die anderen lehnten ihr Angebot entschieden ab.

Karolina hat mit diesem Erlebnis einen neuen Umgang mit dem immer wieder aufkommenden Dilemma zwischen Polizei und Demonstrierenden gefunden. Die Ordnungshüter haben die Aufgabe, Demonstranten abweisend zu begegnen; die Demonstrierenden wollen für ihre Grundrechte auf die Strasse gehen.

Das war nicht immer so: «Ich kann mich genau erinnern, wie ich im August mit Maske im Gesicht zu einem Treffen gefahren bin. Dort habe ich viele Menschen kennengelernt, mit denen ich später Unterschriften auf der Strasse gesammelt habe, auf Demos gegangen bin, bei Umarm-Aktionen mitgemacht habe usw. Das Vernetzen mit diesen Menschen hat etwas in mir verändert. Ich bin mutiger geworden. Nach diesem Treffen habe ich nie mehr eine Maske getragen.»

Das habe dazu geführt, dass sie nach einer Heimfahrt mit dem Zug in der Bahnhofshalle von zwei Polizisten angehalten wurde. Sie wollten ihr Attest sehen.

«Ich kam von einer Massage-Behandlung. Die Entspannung war innerhalb von Sekunden wieder weg. Mein Sach- und Rechtsattest wurde mit einer abschätzigen Geste als ungültig abgetan. Mir wurde eng und ich äusserte, dass ich an die frische Luft wolle. Ich schweifte mit meinem Blick zur Tür, worauf die Polizisten mich von beiden Seiten am Arm packten. Dies löste in mir Empörung und Todesangst aus, sodass ich mit einer Stimme, die ich bis dahin von mir nicht kannte, um Hilfe schrie! Daraufhin führte man mich nach draussen und holte eine weibliche Verstärkung. Ausser einem Führerausweis konnte ich nichts vorweisen. Wochen später erreichte mich ein Strafbefehl.»

Karolina Renate Rieser ist als jüngstes von sieben Kindern im St. Gallischen Algetshausen aufgewachsen. Sie hat nie eine Lehre absolviert. Zur Schule ging sie nicht gerne. Ihr Wunsch war es, etwas mit Kindern zu lernen. Doch nach einem Haushaltslehrjahr reiste sie gegen den Willen ihrer Mutter für einige Wochen nach Kanada. Die Einladung kam von ihrem Schwarm, den sie zuvor nur einmal in einer Beiz getroffen und der ihr seine Adresse auf einen Bierdeckel geschrieben hatte.

Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz arbeitete sie als Büroangestellte, heiratete einen frisch geschiedenen Mann – nicht den aus Kanada –, führte mit ihm ein Bäcker/Konditor-Geschäft mit Café und wünschte sich eigene Kinder. Es kam nicht dazu. Es folgte die Scheidung. Karolina wollte ihr Leben selber gestalten. Kurz nach ihrer Massageausbildung verlor sie den Bürojob in der Bank wegen Rationalisierung der Arbeitsabläufe. Bis zur frühzeitigen Pensionierung konnte sie sich mit ihren Massagen noch einigermassen über Wasser halten.

Die Corona-Krise hat Karolina aufgerüttelt und in ihr das Gefühl ausgelöst, etwas tun zu müssen. Sie hat sich vernetzt und wurde aktiv.

«Ich fühle mich so lebendig wie noch nie im Leben. Die Panik, die verbreitet wurde, hat mich mutiger denn je gemacht. Sie vermittelt mir das Gefühl, endlich zu leben und nicht mehr gelebt zu werden.»

Seit Beginn der Krise hatte Karolina nie eine Erkältung, obwohl sie den ganzen Winter auf der Strasse in der Kälte Unterschriften gesammelt hat, Umarmaktionen mitgestaltete und so viele Menschen getroffen und umarmt hat wie nie zuvor. Ihr Lebenswandel scheint etwas Heilsames bewirkt zu haben. Karolina hat sich Nähe statt Distanz geschaffen, Austausch statt Isolation, Individualität statt Konformismus.

Und das Rezept dazu heisst:

• Gedanken schaffen Realität: Denke das, was du willst. Dort fliesst die Energie hin!

• Auf die innere Stimme hören.

• Nichts für unmöglich halten, sondern einfach tun, was man für richtig hält.

• Optimismus verbreiten: «Das kommt gut! Wir müssen es nur tun!»

• Glaube an dich, dein Menschsein und deine Kraft!

Das Resultat, laut Karolina: «Das ist erst der Anfang!»

Ähnliche Nachrichten