Horst D. Deckert

Vor 40 Jahren wurde Frederike von Möhlmann (†17) von Ismet H. bestialisch vergewaltigt und ermordet – Der Mord ist bis heute ungesühnt

Als ich vor vielen Jahren „Doppelmord“ sah, dachte ich: „Sowas gibt’s nur in Amerika! Wenn überhaupt.“ In dem Hollywoodfilm spielt Ashley Judd eine Frau, die zu Unrecht beschuldigt wird ihren Mann ermordet zu haben. Nachdem sie auf Bewährung freikommt erschießt sie ihren Mann – der seine Ermordung nur vorgetäuscht hatte – tatsächlich. Und da man in den USA nicht zweimal für die gleiche Tat verurteilt werden kann, gab’s ein glückliches Ende.

Nur ein Hollywoodmärchen? Weit gefehlt. „Ne bis in idem“ (nicht zweimal in derselben Sache) heißt dieser Rechtsgrundsatz, der angeblich auf den athenischen Redner Demosthenes (384 vor Christus bis 322 vor Christus) beruht. Er soll „Rechtssicherheit“ schaffen. Meint unter anderem: Ein Angeklagter muss nach einem Freispruch die Sicherheit haben, in Zukunft nicht mehr belangt zu werden.

Der Grundsatz gilt in den meisten Staaten dieser Welt bis heute. Einige haben ihn aufgeweicht, wenn der Täter gesteht zum Beispiel. Deutschland ist eines dieser Länder. Was aber, wenn im Nachinein zweifelsfrei bewiesen wird, dass ein Angeklagter den Mord begangen hat, für den er ein einst freigesprochen wurde, er seine Tat aber eben nicht gesteht?
Und damit sind wir beim Fall Frederike von Möhlmann.

Die Schnittverletzung von Ohrläppchen zu Ohrläppchen reicht bis zur Wirbelsäule

Frederike war damals 17 Jahre alt, ein verträumtes Mädchen mit aschblonden Haaren, das im Chor der Stadtkantorei von Celle sang. Nach der Probe, die gegen 19 Uhr 30 endete, wollte sie sich auf den Heimweg ins acht Kilometer entfernte Hambühren machen. Sie lieh sich 20 Pfennig zum Telefonieren, wollte vermutlich zu Hause anrufen, damit sie jemand abholt. Der Bus verkehrte zu dieser Uhrzeit nicht mehr. Vielleicht hatte sie niemanden erreicht, jedenfalls entschied Frederike sich offenbar, das kurze Stück per Anhalter zu fahren. Zwei Groschen fand die Polizei später in der Nähe ihrer Leiche.

Die Rechtsmediziner versuchten, ihre letzten Lebensminuten zu rekonstruieren: Demnach bog der Mörder mit ihr in einen Waldweg ab und vergewaltigte sie. Frederike muss gerade dabei gewesen sein, sich wieder anzuziehen, als der Mann ein Messer zog. Barfüßig versuchte sie ihn wegzustoßen und zu fliehen, darauf deuteten Stiche an ihrem linken Arm und Schmutz an ihren Sohlen hin. Anzeige

Doch sie unterlag im Kampf: Zwei Mal stach der Täter ihr das Messer durch die linke Brust bis ins Herz und in die Lunge, 15 und 17 Zentimeter tief. Sieben Mal traf er in die rechte Hüfte, durchstieß dabei Niere, Leber und die Bauchdecke. Er wollte wohl ganz sicher sein, dass das Mädchen wirklich stirbt: Der Täter trennte Frederike die Kehle durch.

„Die Schnittverletzung von Ohrläppchen zu Ohrläppchen reicht bis zur Wirbelsäule“, heißt es in dem erstinstanzlichen Urteil des späteren Mordprozesses.

Christine Kensche | Die Welt | 19. August 2015

Der Verdacht fällt auf Ismet H., damals 22 Jahre alt, ein kurdischer Einwanderer aus derr Türkei. Die Indizien sind erdrückend: Die Reifenspuren im Wald entsprachen einem BMW 1602, H. fuhr so einen Wagen; die Ermittler fanden Faserspuren in dem BMW, die mit Frederikes Kleidung und Unterwäsche übereinstimmten; die Familie des seinerzeit noch mutmaßlichen Mörders wollte sein „Alibi“ nicht bestätigen.

Es kam, wie es kommen musste: Das Landgericht Lüneburg verurteile Ismet H. am 1. Juli 1982 zu lebenslanger Haft. Doch dann passierte, was niemals hätte passieren dürfen: Ismet H. ging in Revision, ein Gericht hob das Urteil auf. Die Zweifel würden überwiegen, hieß es. Der Mörder verließ das Gerichtsgebäude in Stade bei Hamburg als freier Mann.

Ein Vater vertraut auf die Justiz

Ein schmächtiger Bube, so erinnert sich Hans von Möhlmann an den Angeklagten. Viel ist ihm aus dem Revisionsverfahren nicht im Gedächtnis geblieben. Bei dem ersten Prozess war der Vater nicht dabei. Er hatte einen Zusammenbruch, kam in eine psychiatrische Klinik. Dort lernte der Vater damals eine Mutter kennen. Auch ihre Tochter war ermordet worden.

Marianne Bachmeier wurde 1981 bekannt, weil sie eine Pistole ins Gericht schmuggelte und den mutmaßlichen Mörder ihres Kindes erschoss. In seiner Klinik, erzählt von Möhlmann, sei die Mutter psychiatrisch begutachtet worden. Die beiden seien ins Gespräch gekommen. Sie habe viel von Rache geredet. Von Möhlmann hörte zu und schwieg. Er hielt nichts von Selbstjustiz. Er glaubte an das Recht.

Bei dem zweiten Gerichtsverfahren setzte er sich hinten in den Saal. Als der Reifengutachter seine Bedenken vortrug, habe ihm das eingeleuchtet. Und als der Richter Ismet H. für unschuldig erklärte, vertraute er dem Urteil.

„Mir ist es nicht in den Sinn gekommen, an dem Freispruch zu zweifeln“, sagt der Vater. Jahrzehntelang war er überzeugt, dass ein anderer seine Tochter getötet hatte.

Christine Kensche | Die Welt | 19. August 2015

Keinesfalls möchten wir dem armem Mann zu Nahe treten, aber die Frage bleibt dennoch: Wie blöd kann man sein? Oder etwas freundlicher formuliert: Wie blind kann man sein? Nur noch mal zur Erinnerung: Es gab keinen Zweifel daran, dass Frederike im Auto von Ismet H. war, seine eigene Familie wollte ihm kein Alibi geben, ja, Mensch, da scheiß ich doch auf „Bedenken“ bei Reifenspuren!
Aber gut, vielleicht wollte Hans von Möhlmann auch einfach nur an einen anderen Täter glauben, weil die Wahrheit, nach all dem Schmerz um die ermordete Tochter, nicht zu ertragen war.

Ein Vater gibt nicht auf

Die ungesühnte Ermordung seiner Tochter ließ Hans von Möhlmann zerbrechen. Seinen Beruf, er war Sozialarbeiter, konnte er nicht mehr ausüben. Sein Berufung war nun, den Mörder seiner Tochter zu finden.

Er ging die Zeitungen durch, jeden Morgen, und wenn er las, dass ein Mädchen in der Region vergewaltigt worden war, rief er die Polizei an: Könnte der Täter nicht der gleiche sein, der Frederike umgebracht hat? Er bat die Rechtsmediziner, die Spuren noch einmal zu untersuchen. Beauftragte drei Anwälte, die Ermittlungsarbeit zu kontrollieren.

„Frederikes Akten lagen da im Keller, und keiner kümmerte sich“, sagt von Möhlmann. Er schiebt die Worte bedächtig aus dem Mund.

Der 72-Jährige ist ein hochgewachsener Mann, der nicht mächtig wirkt, weil seine Kleidung eine Nummer zu groß ist. Die Jackenärmel reichen über den Handteller, die Hose schlackert. Von Möhlmann ist kein Aufrührer, eher einer, der Ruhe sucht. Vor drei Jahren schrieb er einen Brief an den niedersächsischen Innenminister. Er werde bald 70 Jahre alt. „Bevor ich sterbe, möchte ich wissen, wer der Mörder meiner Tochter ist.“

Christine Kensche | Die Welt | 19. August 2015

Sein beharrlicher Kampf, der, und das muss man sich einmal vorstellen, seit 40 Jahren läuft, führte fast zum Sieg. 2015 wurde auf seinen Druck hin eine Sonderkommission eingesetzt. Die Ermittler fanden in Frederikes Schlüpfer eine „sekretverdächtige Anhaftung“.
Die Gerichtsmedizin hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Eine DNA-Analyse belegte: Die DNA-Muster vom Sekret und einer Haarprobe von Ismet H. waren in allen Punkten identisch.

Als der leitende Beamte Hans von Möhlmann in sein Büro bat und ihm von dem Ergebnis der DNA-Untersuchung erzählte, stiegen ihm Tränen in die Augen. „Ich war so erleichtert“, sagt er. „Das hat mir endlich die Ungewissheit genommen.“

Es gibt wenige Fälle, sagt sein Anwalt, die mit einem heimgehen, die im Kopf rotieren. „Frederike ist so einer.“ Deshalb will Wolfram Schädler ihn ausfechten, auch wenn die Erfolgsaussichten gering sind. Ist ein Angeklagter rechtskräftig freigesprochen, kann er im Prinzip nur dann wieder in der gleichen Sache vor Gericht gestellt werden, wenn er ein Geständnis ablegt.

Schädler versucht es daher mit dem Zivilrecht: Auf Schmerzensgeld hat er den inzwischen 56-jährigen Ismet H. verklagt – für die körperlichen und seelischen Schäden, die Hans von Möhlmann durch den Tod seiner Tochter erlitten hat. Ließe sich das Gericht auf seine Argumentation ein, müsste es untersuchen, ob Ismet H. für den Tod von Frederike verantwortlich ist.

Im Falle eines Schuldspruchs bekäme Hans von Möhlmann 7000 Euro, aber viel wichtiger als diese rein symbolische Summe: Er bekäme Recht. Es wäre ein Präzedenzfall geschaffen, mit dem sie Druck ausüben wollen, damit die Strafprozessordnung geändert wird. Hans von Möhlmann hat einen Appell im Netz gestartet, gerichtet an Justizminister Heiko Maas.

Christine Kensche | Die Welt | 19. August 2015

Es gab mehrere Zivilprozesse, die Hans von Möhlmann allesamt verlor. Gisela Friedrichsen, Deutschlands beste Gerichtsreporterin (Männer eingeschlossen), schrieb über den vorletzten:

Von Möhlmann ist kein begüterter Mann, sondern Rentner; er hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Lüneburger Richterinnen hatten ihn vor den Kosten gewarnt, die auf ihn zukommen könnten, falls seine Klage abgewiesen würde. Dass einem Mittellosen aber von einem Gericht abgeraten wird, den Kampf um Gerechtigkeit aufzunehmen, will dem Vater nicht einleuchten.

Gisela Friedrichsen | Der Spiegel | 24. November 2015

Gisela Friedrichsen war auch beim letzten Prozess dabei. Im Podcast Schuldig aber freigesprochen: Der Fall Frederike von Möhlmann, schildert sie Ungeheuerliches:

Und dann kam es zu einer letzten Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Celle und die habe ich in einer ganz unangenehmen Erinnerung, weil, die Art und Weise wie man mit dem Vater umgegangen ist, die fand ich nicht hinnehmbar.

Die Richter waren so unwillig, so nach dem Motto „Mensch, jeder weiß doch, dass man hier nichts machen kann … also, was was belästigt ihr uns hier überhaupt?“

Sie stellten dem Vater blöde Fragen: „Wieso sind sie denn so belastet? Sie haben doch gar nicht mehr in der Familie gelebt, sie waren doch geschieden, Sie haben doch mit ihrer Familie kaum noch was zu tun gehabt. Und die Attacke des mutmaßlichen Mörders hat sich doch gegen ihre Tochter gerichtet und nicht gegen Sie!“

Uff.

Hans von Möhlmann hat nur noch einen Wunsch

Obwohl Hans von Möhlmann seinerzeit über 105 000 Stimmen sammelte, wurde die Strafprozessordnung bis heute nicht geändert. Dabei hatten Union und SPD bereits 2018 im Koalitionsvertrag vereinbart, sie bei schweren, nicht verjährbaren Straftaten wie Mord oder Völkermord anzupassen. Andere Länder wie Norwegen oder Großbritannien, Finnland oder Österreich sind da längst weiter. Als neue Ermittlungsmethoden wie die DNA-Analyse aufkamen, passten sie ihre Gesetze entsprechend an.
Nur Deutschland pennt also. Mal wieder. Und die Legislaturperiode ist bald vorbei. Die „CDU“/„CSU“ gibt der SPD und dem SPD-geführten Bundesjustizministerium die Schuld.

Frederikes Vater ist inzwischen 78 Jahre alt und kann das alles nicht verstehen. Er bekommt sehr wohl mit, was im Augenblick in Deutschland passiert, sagt, der Bundestag beweise doch gerade, wie blitzschnell neue Gesetze verabschiedet werden könnten: „Nur bei unserem Anliegen geht es nicht voran.“

Hans von Möhlmann hat nur noch einen Wunsch:

„Bevor ich sterbe, möchte ich, dass der Täter seine Strafe bekommt“

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Klaus Paffrath: Frederike – Mord ohne Sühne

Frederike

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