Die Ukraine hat den Krieg gewonnen und der russische Präsident Wladimir Putin ist entmachtet. Dieses Szenario entwirft Duncan Allan von der elitären Denkfabrik Royal Institute for International Affairs, auch als Chatham House bekannt, in einem neuen Bericht. Dann fragt er sich, welches Russland daraus entstehen würde. Über den Beitrag informierte die Daily Mail.
Wir schreiben das Jahr 2027 und laut Allan hat sich Russland keineswegs in eine dem Westen freundlich gesinnte Demokratie verwandelt. Das Land ist stattdessen zu einem gefährlichen und instabilen Staat direkt vor den Toren Europas geworden, der von einem atomar bewaffneten Autokraten regiert wird. Schlimmer noch: Peking hat das neue Regime in Moskau fest in der Hand.
Mit diesem ernüchternden Szenario will Allan davor warnen, dass Russland – selbst wenn die Ukraine den Krieg gewinnt – langfristige Risiken birgt, auf die der Westen vorbereitet sein muss. Er betont allerdings, dass der Beitrag keine Vorhersage für die Zukunft sein soll. Allan erklärt:
«Sag niemals nie, aber ich sehe keine ernsthafte Wahrscheinlichkeit für ein demokratisches Russland innerhalb der nächsten fünf Jahre. Es wird ein im Wesentlichen autoritäres System beibehalten. Selbst wenn der Krieg zu den Bedingungen der Ukraine endet, würde ich davon ausgehen, dass Russland langfristig eine Herausforderung für das Vereinigte Königreich und Europa darstellen wird. Es ist notwendig, darüber nachzudenken, womit wir es in Zukunft zu tun haben könnten. Diese Debatte muss intensiviert werden.»
Allans «best case» ist die Situation, in der die Ukraine Russland bei ihrer kommenden Offensive schwere Verluste zufügt und einen Putsch in Moskau auslöst, der bis Mitte 2024 zur Unterzeichnung eines Waffenstillstands führt. Der Krieg endet mit dem vollständigen Rückzug der russischen Truppen aus dem ukrainischen Hoheitsgebiet – einschliesslich der Krim – und im Gegenzug erklärt sich der Westen bereit, seine Sanktionen teilweise aufzuheben. Ohne Putin fällt die Herrschaft über Russland an die Eliten, die zu seiner Absetzung beigetragen haben.
Und genau hier endet der westliche Wunschtraum. Während viele hoffen, dass das Ende Putins die Umwandlung Russlands in einen befreundeten Staat mit sich bringt, sieht Allan mächtige interne Kräfte, die mehr oder weniger das gleiche autoritäre System aufrechterhalten.
Zum einen, so Allan, scheint es in der russischen Gesellschaft wenig Appetit auf grosse Reformen von oben zu geben, denn der letzte Versuch – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren – endete in einer wirtschaftlichen Katastrophe.
Zum anderen glaubt er, dass die Eliten, die Putin absetzen wollen, wahrscheinlich seine grundlegende Weltanschauung teilen und stark in das derzeitige System investiert haben, was bedeutet, dass sie wenig Grund haben, es zu ändern.
All dies bedeutet, dass Russland auch seine Beziehungen zum Westen wahrscheinlich nicht radikal ändern wird. Allan schreibt:
«Das Ergebnis [eines Putsches] deutet nicht darauf hin, dass nach einer Niederlage in der Ukraine eine Führung mit radikal anderen Vorstellungen die Macht übernehmen würde. Und ein autoritäres politisches System würde eine offene Debatte über diese Fragen verhindern. Mit anderen Worten: Ohne weitreichende innenpolitische Veränderungen erscheint eine grundlegende Neubewertung von Russlands Platz in der Welt unwahrscheinlich.»
Stattdessen glaubt er, dass Russland irgendwo zwischen zwei Szenarien landen würde.
Im ersten geht der Machtwechsel mehr oder weniger reibungslos vonstatten und die neue Regierung bricht – unangefochten in ihrer Herrschaft – mit den schlimmsten Impulsen der Putin-Ära. Es gibt begrenzte Wirtschaftsreformen, um Oligarchen und Unternehmer zurückzulocken, die Macht wird gleichmässiger zwischen der herrschenden Elite anstelle eines obersten Führers aufgeteilt und man versucht, durch eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen die Aufhebung der Sanktionen zu erreichen.
Vieles würde davon abhängen, wer am Ende an der Spitze des Landes steht, doch Allan meint, es sei nicht unmöglich, sich einen neuen Präsidenten vorzustellen, «der vielleicht weder Putins Feindseligkeit gegenüber dem Westen noch seine Besessenheit von der Ukraine teilt». Selbst dann würde es keinen Übergang zur Demokratie geben, die Wirtschaft wäre stark staatlich kontrolliert und Russland wäre immer noch kein Freund des Westens.
Allerdings sei auch ein «düsteres» Szenario möglich, warnt Allan, in dem Russlands neue Führer noch repressiver als Putin und noch aggressiver gegenüber Grossbritannien, den USA und ihren Verbündeten würden. In diesem Szenario sei der Machtwechsel heikel – vielleicht tauche ein neuer starker Mann mit noch härteren Ansichten auf und gehe gegen Andersdenkende vor, um sich durchzusetzen.
Oder die herrschenden Eliten sehen sich mit innenpolitischen Unruhen, Machtkämpfen oder dem Widerstand anderer mächtiger Persönlichkeiten konfrontiert, was ein hartes Durchgreifen auslöst, das die Wirtschaft ins Trudeln bringt. Am Ende wird Russland ärmer, repressiver und instabiler – und unter all dem lauert der Stachel der Niederlage in der Ukraine, welche die Russen bereits der NATO anlasten. Allan meint:
«Das könnte eine umkämpfte russische Führung hervorbringen, die militant antiwestlich eingestellt ist. Ein solches Regime könnte die Stabilität ‹unfreundlicher› Nachbarländer aktiv untergraben, angefangen bei der Ukraine, einschliesslich einer erneuten Einmischung im Donbas und auf der Krim. Das Regime könnte die Zusammenarbeit mit autoritären Nachbarländern bevorzugen, um den westlichen Einfluss an Russlands Grenzen zu neutralisieren, seine verdeckten feindseligen Aktivitäten gegen westliche Länder noch aggressiver betreiben, die Versuche verstärken, die NATO und die EU zu spalten, sich einer sinnvollen Zusammenarbeit bei der Rüstungskontrolle, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und regionalen Konflikten widersetzen und/oder sich noch enger mit autoritären antiwestlichen Führungen wie der im Iran verbünden.»
Wo auch immer Russland in diesem Spektrum der Szenarien landet, Allan glaubt, dass Moskau kaum eine andere Wahl haben wird, als sich China anzunähern, um die verlorenen wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen zu ersetzen. Das würde bedeuten, dass Moskau «unbestreitbar der Juniorpartner» wäre, was die Aussicht eröffnet, dass der Kreml auf Pekings Geheiss handeln würde.
Die Kluft zwischen Russlands Selbstverständnis als Weltmacht und seinem geschwächten Ansehen würde wachsen und das Land verbittert, gefährlich und unberechenbar machen. Allan zufolge wird das für Europa erhebliche zusätzliche Ausgaben für die Verteidigung bedeuten, um sich abzusichern, möglicherweise in einer Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf dem gesamten Kontinent. Er ist der Meinung, dass die Staats- und Regierungschefs die Menschen schon jetzt auf diese Möglichkeit vorbereiten sollten.
Allerdings merkt Allan an, dass er eine Reihe von Szenarien für wahrscheinlicher hält, zum Beispiel, dass es keine Einigung zur Beendigung des Krieges gibt. Ausserdem seien einige der Szenarien, die er sich vorstellt – wie eine härtere Gangart Russlands – auch dann möglich, wenn Putin an der Macht bleibt. Er resümiert:
«Die westlichen Regierungen haben sich nicht klar über ihre Ziele [für den Krieg] geäussert, aber ich denke, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass ein entscheidender ukrainischer Sieg als ausserordentlich vorteilhaft angesehen werden würde. Und wenn die westlichen Regierungen in diesem Sinne denken, ist es sinnvoll, sich Gedanken darüber zu machen, mit welcher Art von Russland sie es zu tun haben könnten. Es fällt mir sehr schwer, mir ein System vorzustellen, das sich bis Ende 2027 grundlegend von dem jetzigen unterscheiden wird.»