Horst D. Deckert

„Was zählt, ist soziale Ähnlichkeit“

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Wie schaffen es eigentlich die herrschenden Kreise, die massive Ungleichheit in unserer Gesellschaft aufrechtzuerhalten? Warum wird dagegen nicht viel mehr aufbegehrt? Die Soziologin Hannelore Bublitz gibt in ihrem Buch „Die verborgenen Codes der Erben. Über die soziale Magie und das Spiel der Eliten“ Antworten auf diese Fragen. Unser Autor Udo Brandes hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen.

Bildung gilt in unserer Gesellschaft als der Schlüssel zum Erfolg. Das ist auch der Grund, warum heutzutage ehrgeizige Eltern von Lehrern als eine Plage betrachtet werden. Sie glauben, der Lebenserfolg ihres Kindes hänge von dessen Schulerfolg ab. In gewisser Weise stimmt das auch. Aber wenn man der Soziologin Hannelore Bublitz glauben darf, dann kommen wir im Wesentlichen in den gesellschaftlichen Schichten wieder an, aus denen wir selber stammen. Wer von ganz unten startet, der hat demnach schon große Schwierigkeiten, auch nur in der Mittelklasse anzukommen. Und ganz oben – da kommt man nicht durch Bildung hin. Da zählt etwas anderes als Bildung:

„Was zählt, ist soziale Ähnlichkeit. Ausschlaggend für den sozialen Erfolg sind frühe Weichenstellungen und unterschwellige Mechanismen, die signifikant von der sozialen Herkunft abhängen. Das Beherrschen eines ganz bestimmten Zeichensystems, Dinge, Haltungen und Fertigkeiten, sichern den gesellschaftlichen Eliten Macht. (…) Wer die falschen Codes besitzt und die der Herrschenden nicht decodieren kann, ist automatisch draußen“ (S. 11).

Bublitz spricht in diesem Zusammenhang von „sozialer Magie“, weil so quasi magisch, von unsichtbarer Hand gesteuert, soziale Ungleichheit aufrecht erhalten und verstärkt wird. Die Schulen und Universitäten haben dabei die Funktion eben dieses zu verschleiern: Durch die von ihnen verliehenen Diplome wird die gesellschaftliche Ungleichheit in eine rationale Operation übersetzt. Die Gesellschaft stellt einen Adel her, der offziell seine Machtposition aufgrund von Leistung hat, tatsächlich aber aufgrund seiner sozialen Herkunft.

Aber wie funktioniert diese soziale Magie? Bublitz sagt, dass wir alle Erben sind. Sie werden jetzt vielleicht sagen: „Nee, ich nicht. Ich habe nix geerbt.“ Das mag zutreffen in Bezug auf materiellen Besitz wie Geldvermögen, Immobilien, Aktienkapital und andere ökonomische Werte. Aber Sie haben etwas anderes geerbt: Die Kultur Ihrer Herkunftsklasse. Dieses Erbe steckt in Ihnen, und Sie können es nicht ablehnen:

„Dieses kulturelle und soziale Erbe wird den Erben als Vermächtnis quasi ‚eingeflößt’, ob sie es wollen oder nicht. Die Übertragung findet statt, ohne dass dies jemand bewusst geplant hat. (…) Was vererbt wird, ist zum einen eine Haltung der Absicherung von Privilegien, gepaart mit einer gewissen Arroganz gegenüber den ‚Abgehängten’, zum anderen eine Haltung der Unterwerfung und Bescheidenheit, man könnte auch sagen, der Demut, die sich mit dem abzufinden scheint, was einem zugedacht oder zugeteilt wurde“ (S. 61).

Ursula von der Leyen: Eine Karriere, die in die Wiege gelegt wurde

Dieses soziale Erbe führt also dazu, dass jemand, der aus der Oberschicht kommt, ganz selbstverständlich eine höhere Position beansprucht oder sich dafür geignet hält. Ein Beispiel dafür und die Funktionsweise der „sozialen Magie“ ist die EU-Kommissarin Ursula von der Leyen. Schon ihren ersten Ministerposten bekam sie, als sie nur in der Kommunalpolitik aktiv war als Mitglied im Stadtrat. Sie wurde vom damaligen Ministerpräsidenten Wulff gefragt, ob sie nicht Sozialministerin in Niedersachen werden wolle. Dazu muss man wissen: Ihr Vater war der CDU-Politiker Ernst Albrecht, der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen. Dieser war übrigens auch ein hoher Beamter bei der EG gewesen (so hieß die EU früher). Ursula von der Leyen hatte deshalb als Kind auch schon in Brüssel gelebt und war schon als Kind mit dem Milieu der hohen Beamten auf europäischer Ebene vertraut. So eine Herkunft verleiht jemanden das notwendige Selbstbewusstsein für solche Positionen. Und umgekehrt wird so jemand als eine Person wahrgenommen, die den richtigen „Stallgeruch“ hat.

Genau andersherum ist es bei den Menschen, die aus den unteren Etagen der Gesellschaft kommen. Sie leben eher in dem Gefühl, dass sehr hohe gesellschaftliche Führungspositionen „nichts für unsereins sind“ – und kommen oft gar nicht erst auf die Idee, diese anzustreben. (Ich lasse das Thema „soziale Aufsteiger“ hier einmal beiseite; die gibt es natürlich auch, aber die sind eher Ausnahmefälle, die die Regel bestätigen.)

Das soziale Erbe nennt man in der Soziologie auch „Habitus“. Der sozial erworbene Habitus ist die verinnerlichte Denk- und Wahrnehmungsstruktur und bestimmt auch, mit welchen Strategien jemand versucht, Probleme zu lösen, zum Beispiel die Suche nach einer Arbeitsstelle.

„Wen kennen wir denn da?“

Dazu mal ein Beispiel aus der britischen Fernsehserie „Downtown Abbey“. Die Serie schildert, beginnend vor dem 1. Weltkrieg, das Leben einer adeligen Familie. In einigen Folgen geht es darum, dass die jüngste Tochter mit dem jungen Chauffeur der Familie ein Verhältnis begonnen hat und diesen heiraten will. Nach einigen Hin und Her passiert das auch und die adelige Familie arrangiert sich damit, dass ihre Tochter „nach unten“ geheiratet hat. Das junge Paar will nach Irland auswandern und der junge Mann, der als Sozialist politisch aktiv ist, will dort Journalist werden. Ein „gelernter Kleinbürger“ wie ich würde sich in einer solchen Situation ganz brav bewerben. Nicht so die adelige Familie. In einer Szene nimmt die Großmutter (gespielt von Maggie Smith) ihre Schwiegertochter (die Mutter der jungen Frau, die den Chauffeur geheiratet hat) beiseite und fragt diese: „Wen kennen wir denn da, den wir mal ansprechen könnten?“ Mit anderen Worten: In völliger Selbstverständlichkeit geht die adelige Dame davon aus, dass sie dem Ehemann ihrer Enkelin über Beziehungen eine Anstellung verschaffen kann – während der naive Kleinbürger an das Leistungs- und Qualifikationsprinzip glaubt und sich brav mit seinen Zeugnissen bewerben würde.

Wenn ich Bublitz richtig verstanden habe (dazu gleich noch mehr), können die Herrschenden die soziale Ungleichheit mühelos aufrechterhalten, weil die gesellschaftlichen (Macht)Verhältnisse in unsere Körper eingeschrieben sind und wir uns passend dazu verhalten – also deren Macht anerkennen und durch unsere Anerkennung diese Macht legitimieren. Wir sind quasi eine „Glaubensgemeinschaft“. Das heißt: Wir finden vielleicht, dass Milliardäre deutlich mehr Steuern zahlen müssten. Aber die meisten Menschen stellen nicht grundsätzlich in Frage, dass Menschen derartig großen Reichtum anhäufen können.

Bublitz zitiert dazu Bourdieu, der diesen Zusammenhang mit dem Begriff der „Komplizenschaft“ beschreibt:

„Die sozialen Akteure und auch die Beherrschten selbst sind in der sozialen Welt (selbst der abstoßendsten und empörendsten) durch eine Beziehung hingenommener Komplizenschaft verbunden, die bewirkt, dass bestimmte Aspekte dieser Welt stets jenseits oder diesseits kritischer Infragestellung stehen. (…) Die politische Unterwerfung ist in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben“ (S. 24).

Dieses Einschreiben der gesellschaftlichen Machtverhältnisse in den Körper, so dass die Unterwerfung unter diese automatisch aus dem Körper heraus erfolgt, geschieht nicht zuletzt durch vermeintlich beiläufige Konventionen. Etwa wenn die britische Königsfamilie Gäste empfängt oder selbst als Gast empfangen wird. Dann wird immer brav geknickst vor „Ihrer Majestät“. Religion funktioniert nicht ohne Grund auch auf Basis eingeübter körperlicher Bewegungsabläufe. Ganz nach dem Motto „Knie nieder und falte die Hände, und du wirst Gott erkennen.“

Das Setting der Macht

Ein weiterer Aspekt: das „Setting“ der Macht, also ihre Inszenierung. Dies konnte man kürzlich wunderbar bei den Beerdigungszeremonien für Queen Elizabeth II. studieren: Der Sarg mit dem Leichnam wird öffentlich ausgestellt; Soldaten in prächtigen Uniformen bewachen den Sarg; das Fernsehen berichtet über Tage detailliert über jede Einzelheit; Menschen warten 24 Stunden und länger, um am Sarg vorbeidefilieren zu können; die Fernsehmoderatoren tragen schwarze Kleidung und überbieten sich förmlich in Anbetung und Unterwürfigkeit. Man sollte die Wirkung solcher Inszenierungen nicht unterschätzen. Sie tragen ganz erheblich dazu bei, gesellschaftliche Ungleichheit als etwas Selbstverständliches und Natürliches wahrzunehmen. Eine Ungleichheit, die ja auch immer eine Ungleichheit in den Lebenschancen, Lebensmöglichkeiten und im Lebensglück zur Folge hat.

Die Beerdigungszeremonien für Queen Elizabeth II. sind ein schönes Beispiel für das, was Bublitz mit Verweis auf Bourdieu auch die „liturgischen Bedingungen der Macht“ nennt:

„Es ist die komplexe soziale Anordnung, die hier wirksam wird und die Bourdieu meint, wenn er von liturgischen Bedingungen (Liturgie = offiziell festgelegte Form des christlichen Gottesdienstes; UB), von Ritualen und Sprechakten spricht, die in ein komplexes Arrangement eingebettet sind. Zentrales Element bildet die Glaubensgemeinschaft und die Beglaubigung der magischen Praktiken durch diese“ (S. 96).

Zu diesem Arrangement gehört auch, dass die Herrschenden sich volksnah geben. Etwa wenn König Charles III. und sein Sohn William während der Prozession des Sarges durch die Menge sich zum Schrecken der Leibwächter direkt zum gemeinen Volk hinab begeben, um Hände zu schütteln und sich für die Anteilnahme zu bedanken. Derselbe Charles muss für sein gigantisches Vermögen, das er erbt, keinen Cent Erbschaftssteuer zahlen. Ein Umstand, den man so nebenbei aus den Medien erfährt. Der aber keine größere Empörung ausgelöst hat. Was eben auch mit der „sozialen Magie“ zusammenhängt, die solche Privilegien als „natürlich“ erscheinen lässt.

Resümee

Hannelore Bublitz hat ein Buch über ein sehr interessantes Thema geschrieben und auch interessante Inhalte zu bieten. Leider ist ihr Buch über weite Strecken in Soziologendeutsch geschrieben. Deshalb ist ihr Buch für Nicht-Soziologen (und wohl nicht nur für die) keine leichte Lektüre. Um genau dem entgegenzuwirken, zitiert sie zwar zur Veranschaulichung ihrer Thesen auch sehr schön ausgesuchte Passagen aus Romanen und Fernsehserien, und sie hat auch eigens dafür selber fiktive Szenen erfunden. Trotzdem enthält der Text für meinen Geschmack zu viel abstrakte Soziologensprache. Es hätte dem Buch gut getan, wenn Bublitz den Mut gehabt hätte, mehr Schriftstellerin zu sein und weniger akademische Soziologin. Und dennoch: Das Buch ist lesenswert. Aber wegen des Sprachstils kann ich es nur Lesern empfehlen, die bereit sind, sich durch so einen Text durchzuarbeiten.

Hannelore Bublitz: Die verborgenen Codes der Erben. Über die soziale Magie und das Spiel der Eliten, Bielefeld 2022, 228 Seiten, 27 Euro.

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