Vor vier Tagen hatte ich in einem nahegelegenen Ort einen jungen Mann getroffen, der zusammen mit seinem Kollegen etwas gelangweilt an einer Wand lehnte. Ich hatte etwas Lesestoff dabei, den ich zwecks Verbreitung abweichender Meinungen weiter reiche:
«Wann haben Sie zum letzten mal in einer Zeitung gelesen? Hier etwas zum Lesen für Sie, damit Ihre Augen auch mal was anderes erblicken als den kleinen Bildschirm.»
Erstaunlich, wie viele Passanten sich so ansprechen lassen, aufblicken und das Angebot nicht selten annehmen. Nicht in diesem Fall. Der Mann blickte mir ins Gesicht:
«Ich kann nicht lesen, ich habe ein Leseunfähigkeitszeugnis (Dislexie).» Etwas verdutzt erwiderte ich den offenen Blick und bekundete mein Verständnis, dass er mein Angebot von Lesestoff abwies.
«Ich nehme die Zeitung, besten Dank!», schaltete sich sein Kollege ein. Ich gab ihm die Zeitung und wendete mich wieder der ersten Person zu – nennen wir sie «A». «Sie sehen dort die Hauswand mit der grossen Schrift: ‹Willkommen im Coop von Wellington?›.» (1) «Klar, aber ich kann das nicht lesen.»
Das Gespräch nahm eine neue Wendung. Ich war sicher, mich einem der vielen Sozialgeldbezüger gegenüber zu finden. Ich fragte danach, wie er sein Leben gestalte und meistere. Er sei der Mitarbeiter seines Kollegen. Gemeinsam organisierten sie Feuerwerksveranstaltungen für besondere Anlässe, Hochzeiten usw.
Nächstens seien sie für ein Fest von Abkömmlingen der königlichen Familie in Windsor engagiert. A erklärte, er sei der Fahrer des Firmenlieferwagens.
«Es gibt demnach noch Leute, die heiraten?», meine Frage. «Klar!, davon leben wir», beruhigte er mich. Wie er denn, ohne Strassenbeschilderungen, Wegweiser usw. lesen zu können, im Strassenverkehr zurecht komme, fragte ich. «Ich folge der blauen Linie meines Navigationssystems.»
A tönte glaubhaft. Obwohl nicht vorbereitet für so ein Gespräch, blitzten mir Gedanken durch den Kopf. Hier steht ein junger Mann vor mir, dem von der Schule staatlich bescheinigt worden ist, dass er nicht lesefähig sei. Wozu war er denn zwölf oder mehr Jahre zur Schule gegangen?
Was hat er dort gemacht? Nein, das durfte ich so nicht fragen. Sein ganzes Leben lang wird er aufgrund einer staatlichen Bescheinigung von sich behaupten, er sei leseunfähig. Diese Begegnung bestätigte, was ich nur Tage zuvor aus der Schweiz über Leseunfähigkeitszeugnisse erfahren habe, doch mehr davon gleich.
Im jetzt folgenden Gespräch suchte ich zu klären, ob er bereit und fähig war, zu verstehen, dass Leseunfähigkeit möglicherweise die Folge von Misshandlungen in jüngeren Jahren sein könnte. Frühkindliche und spätere Entwicklungen, vor allem im Gehirn, würden durch sogenannte Traumas teilweise schwer beeinträchtigt. A verstand.
Ob er nachvollziehen könne, dass solche Erfahrungen, ob bewusst oder auch nicht, seine Fähigkeit zu lesen, die Entwicklung seines Gehirns behindert haben könnten? Auch das schien A zu verstehen.
Ich ermutigte ihn, sich nicht von seinem Leseunfähigkeitszeugnis davon abhalten zu lassen, Verpasstes nachzulernen. Es sei nachgewiesen worden, dass es möglich ist, verpasste frühere Entwicklungen im Gehirn zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Er solle an mir ein Beispiel nehmen, fügte ich kleinlaut hinzu.
Doch in mir polterte es: pah! So einfach geht das. Man verschreibt einem Schüler ein Leseunfähigkeitszeugnis und damit lässt man ihn «fahren» (im obigen Fall sogar wörtlich zu verstehen!).
Lehrkräfte, die an ihren Schülern überfordert sind, haben damit die Möglichkeit, «ein Kind abklären zu lassen». Zurück kommt es möglicherweise mit einem Unfähigkeitszeugnis. Dies ist selbstverständlich nicht nur ein Freipass für das Kind, sich nicht mehr bemühen zu müssen.
Der Lehrer weiss sich ab da als nicht mehr zuständig für dieses Kind. Der Schüler darf fortan in seiner Klasse vegetieren. Das Unfähigkeitszeugnis gilt fürs ganze Leben als Beleg für Diskalkulie, Dislexie oder wie immer die Diagnosen heissen werden. Wem hilft das und wozu ist denn Schule gut?
Sicher kann die Schule frühkindliche oder auch spätere Fehlentwicklungen an Kindern nicht ausglätten. Das ist nicht ihr Auftrag. Aber mit solchen Zeugnissen werden die «Diagnosen» verewigt. D.h. niemand braucht sich mehr um diese «untherapierbaren Fälle» zu kümmern.
Die Betroffenen selber sind schliesslich davon überzeugt, dass sie zu «dumm» zum Lesen, Schreiben oder Rechnen, dass sie hoffnungslose Fälle sind. Wo bleibt der Aufschrei?, der Aufschrei der Eltern, der Behörden, der passionierten Lehrer, der Sozialdienste, der Politik? Weshalb wird da nicht näher hingeschaut und warum wird Hilfe verweigert? (2)
Was die Schule aber kann und in manchen Fällen auch tut: sie verstärkt Defizite, indem sie Kinder immer früher von ihrem Zuhause trennt. Wenn Kinder möglichst früh fremd betreut werden sollen, die Eltern-Kindbeziehungen noch früher gestört werden, dann dürfen wir nicht darüber staunen, wenn 30-50 Prozent von Jugendlichen mit Unfähigkeitszeugnissen ausgestattet die Schule verlassen.
Doch kehren wir uns konkret noch ganz schweizerischen Verhältnissen zu. Es geschieht nicht oft, dass mir beim Durchsuchen meiner persönlichen Akten meine zwischen sechzig und siebzig Jahre alten Schulzeugnisse in die Finger geraten.
Wenn ich dann zuweilen einen wehmütigen Blick in die Zeit meiner Jugend (sechziger Jahre) hineinwerfe, erröte ich nicht mehr ob meiner Unfähigkeit, gute Noten zu erzeugen.
Erinnerungen: Meine drei älteren Brüder schafften den Übertritt in die Sek problemlos, während mein Lehrer in der sechsten Klasse in mir einen Schüler für die Abschlussklasse erblickte.
Ich polterte zu Hause und bewirkte damit, dass ich mittels abzusitzender Nachprüfung zur Sekundarschule zugelassen wurde. Aufgrund fehlender Lehrstellen zum Maschinenzeichner wurde ich gegen Ende meiner Schulzeit dahingehend beraten, einen andern Beruf zu wählen.
Warum genau ich jetzt Koch werden wollte, weiss ich und auch sonst niemand auf dieser Welt. «Dafür brauchst du doch keine Sek!», wurde ich jetzt bedrängt. Ich schloss die Sek mit mittelmässigen Zeugnissen ab. Meine Lehrabschlussprüfung legte ich 1967 ab und besitze seither ein «Schweizerisches Fähigkeitszeugnis – Koch». Darüber musste ich nie erröten.
Zurück in die Gegenwart mit ein paar Beobachtungen eines Gewerbeschullehrers im Gedankenaustausch mit Freiheits-Freunden vor vier Wochen zur Idee, die Schule abzuschaffen.
«Als Berufsschullehrer, Ehemann einer Sonderschullehrerin und Vater einer Grundschülerin kann ich sagen, dass unser Schulsystem gescheitert ist und mit jeder Reform immer mehr scheitert. Wobei natürlich die immer mehr zerfallenden Elternhäuser und die desaströse Migrationspolitik auch eine Rolle spielen. Klassen wo 30 Prozent der Schüler kein Deutsch sprechen und 50 Prozent aus kaputten Elternhäusern kommen, gab es zu meiner Schulzeit (Jahrgang 1979) einfach noch nicht. Der Grundschullehrplan wird immer mehr mit Unterrichtsthemen vollgestopft, die zu meiner Zeit erst am Gymnasium Thema waren. Dies führt dazu, dass die Schüler praktisch gar nichts mehr richtig erlernen. Die Lehrer an der Basis protestieren (3), der Minister und die Lehrerverbände vermelden natürlich nach jeder Reform einen vollen Erfolg. (4) Um den Misserfolg zu kaschieren, werden die Standards immer weiter heruntergeschraubt. Ich als Berufsschullehrer stelle dann fest, dass selbst Schüler mit Realschulabschluss weder richtig lesen und schreiben noch rechnen können. Die Rechtschreibung und Zeichensetzung beherrschen 95 Prozent der Schüler mit Realschulabschluss nicht. Gross- und Kleinschreibung und Zeichensetzung existieren praktisch nicht mehr. Die Schüler müssen es aber auch nicht mehr können, schliesslich bekommen 30-50 Prozent eine Lese-Rechtschreibschwäche bescheinigt. Dafür können alle hervorragend Plakate zum Klimawandel malen. Bei meiner Tochter, die anfangs sehr gerne zur Schule ging, habe ich festgestellt, dass man ihr spätestens nach 2 Jahren die Lust an der Schule gründlich verdorben hat. Wobei ein Teil der ersten 2 Jahre zu Hause stattgefunden hat, wo sie das, was normalerweise in der Schule 6 Stunden dauert, in einer Stunde erledigt hat. (5) Als Lehrer in einer weiterführenden Schule verwaltet man eigentlich nur noch den Mangel. (6) Ich bin nun im 18. Jahr Lehrer. Am Anfang meiner Dienstzeit konnte man noch sehr gut mit Texten arbeiten. Heute ist dies nicht mehr möglich. Kurze Videos, wobei diese nicht länger sein dürfen als wenige Minuten, ersetzen nun die Texte. Sollte der Abwärtstrend so anhalten, gehe ich davon aus, dass ich in 5-10 Jahren nur noch Malbücher zur Beschäftigung einsetzen kann. Mehr wird nicht mehr möglich sein. Eine Lösung habe ich nicht parat. (7) Der gesamtgesellschaftliche Trend geht steil nach unten und die Schule ist nur ein kleiner Teil des Problems. Ich glaube auch nicht, dass eine Lösung gewünscht ist. Früher musste der Westen besser sein, als die bösen Kommunisten im Osten. Man musste also einigermassen gute Ergebnisse vorweisen und den Menschen und der Wirtschaft ein paar Freiheiten gewähren. Das ist heute nicht mehr notwendig. Kurt Stämpfli» (Name geändert)
Der offensichtliche Mangel eines allgemeinen Rechts vom Staat ein UN-Fähigkeitszeugnis ausgestellt zu erhalten, sollte als «Rechts-Nachführung» an der UN[O] Menschenrechtskonvention (AEMR) dringend behoben werden. (8)
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Über den Autor:
Rudolf Schmidheiny hat einen praktischen Beruf erlernt und ist Vater von vier erwachsenen Kindern, die (so gut wie) ohne Schulbesuch aufgewachsen sind. Zusammen mit seiner britischen Frau hat er, ohne es zu beabsichtigen, eine Bewegung unter Schweizer Eltern angestossen, die ihre Aufgaben als Erzieher neu verstehen lernten und fanden. Der Entscheid der pädagogisch nicht gebildeten Eltern, ab 1990 ihre Kinder dem staatlichen Schulbetrieb zu entziehen, erregte wenig Aufsehen, dafür viel Unverständnis. Allen Unkenrufen, Warnungen und Prophezeiungen zum Trotz war ihre Pionierarbeit von Erfolg gekrönt. In der Schweiz und im benachbarten Deutschland und anderen Ländern fand die Schulalternative «Bildung zu Hause» seit der Jahrtausendwende eine sich rasch mehrende Zahl von Nachahmern. Seit 2013 weilt der der Autor mit seiner Frau in England, wo auch zwei der Kinder heute leben. Alle neun Enkelkinder wiederum werden im elterlichen Haus – schulfrei – erzogen und gebildet.
(1) Seit 10 Jahren wohne ich da in der Nähe mit meiner britischen Frau.
(2) Im neu erschienen Buch «Kinder gehören den Eltern, nicht dem Staat! — Natürliche Elternschaft vs. staatlicher Schulzwang» findet sich im Anhang der Aufschrei eines Kinderarztes: «Erlöst die Schüler von unnötigen Diagnosen – Die Bedeutung von Diagnosen für die Entwicklung des Kindes.» Mit der Publikation des Buches ist die Absicht verbunden, Eltern eine Handreiche bereit zu stellen, ihre eigene Stellung als Erzieher, als für das Wohl ihrer Kinder zuständige Familien-Instanz zu überdenken und hoffentlich neu zu finden. Ebenfalls wirft die Publikation weit gefächert Fragen zu Staatsgewalt und Legitimität. Die Frage nach Sinn und Unsinn des Schulbetriebs wird ansatzweise aufgrund der bis heute gewonnenen Erkenntnisse beantwortet.
(3) Siehe Anhang A im oben erwähnten Buch.
(4) Ebenda, S. 152 Fussnote 196 und Anhang A Stimmen aus Schule, Pädagogik und Pädiatrie, im oben erwähnten Buch.
(5) Ebenda, siehe etwa S. 16 erster Abschnitt, S. 55 dritter Abschnitt, S. 88 1. Satz
(6) Ebenda, S. 44, Fussnote 40
(7) Ebenda, S 148 aus einer Antwort aus dem Bundeshaus auf Fragen, als Illustration, wie weit voneinander abgehoben Verwaltung und Wirklichkeit sich einordnen lassen: «Die Erziehungsberechtigten sind also für den Schulbesuch und die Einhaltung der schulischen Pflichten zuständig. […] Ich bin der Überzeugung, daß das Schweizer Bildungssystem flexibel ist und neuen Entwicklungen und gesellschaftlichen Bedürfnissen Rechnung trägt. Die heutigen Regelungen im Bildungsbereich stützen sich auf die Bundesverfassung sowie die weiteren Rechtsnormen, sind demokratisch legitimiert und mittels bewährter Prozesse, unter Einbezug aller relevanter Interessen-Gruppen, entstanden. Dem Kindeswohl und der qualitativ hochstehenden Bildung unserer Kinder wird höchste Priorität beigemessen.»
(8) Ebenda finden sich Ausführungen zu der Allgemeinen Menschenrechtserklärung AEMR an ungezählten Stellen.