Seymour Hersh
Die Wirtschaft könnte der entscheidende Faktor für den Frieden in der Ukraine sein
Wie viele in Washington, wo ich die letzten sechs Jahrzehnte gelebt habe, frage ich mich: Was hat der russische Präsident Wladimir Putin im Ukrainekrieg noch vor? Ein Krieg, der mit enormem Personal- und Waffeneinsatz geführt wird, während sich russische Streitkräfte tief in die ukrainischen Grenzregionen vorgearbeitet haben. Warum akzeptiert Putin keinen Waffenstillstand?
Kann sich Russland, das derzeit unter strengen westlichen Sanktionen steht, wirklich leisten, weiter in der Ukraine vorzurücken – während Städte laut einem US-Beamten aussehen wie Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg?
Ein amerikanischer Geschäftsmann mit langjähriger Russland-Erfahrung sagte mir, die beiden größten russischen Staatsbanken – Sberbank und VTB – hätten zusammen Kreditforderungen in Höhe von 310 Milliarden Dollar. Sie vergeben Kredite mit Zinssätzen von etwa 20 Prozent – an Unternehmen und für Hypotheken. Russlands BIP liegt bei 2,2 Billionen Dollar, ohne den geschätzten Schwarzmarktanteil von bis zu 25 %.
Die Schuldenquote Russlands betrage etwa 16 % des BIP – „eine sehr niedrige Zahl“, sagte er. Kein anderes G20-Land liege so tief. „Putin lächelt. Er wird warten.“ Und weiter: Die US-Schuldenquote liege bei fast 100 %, und beide großen Parteien hätten kein Interesse, sie zu begrenzen. Die US-Staatsverschuldung beträgt über 36 Billionen Dollar. „Sowohl Demokraten als auch Republikaner plündern das Finanzministerium, um ihre Ziele zu verfolgen. Die einzige gemeinsame Linie: Den Dollar entwerten. Es wirkt wie eine endlose Ressource. Aber die Welt hat das Vertrauen in den Dollar verloren.“
„Was wird dieses Chaos in einer sich erhitzenden Welt bringen?“, fragte der Geschäftsmann. Und gab selbst die zynische Antwort: „In den USA? Niemanden interessiert es.“
Ich legte diese Einschätzungen einem Ökonomen vor, der lange bei der US-Notenbank arbeitete.
Seine Einschätzung: Die Analyse des Geschäftsmanns impliziert, dass Russland stärker und die USA schwächer seien, als es scheint. Das überzeugte ihn nicht. Entscheidend sei, wie produktiv die russische Wirtschaft sei – und wie viel davon auf das Militär entfalle. Die russische Zentralbank versuche, die Inflation (aktuell ca. 10 %) zu bremsen. Bei einem Kreditzins über 20 % sei es für zivilwirtschaftliche Betriebe schwer, Gewinn zu machen. „Der zivile Sektor dürfte schrumpfen. Rüstungsbetriebe können kurzfristig Wachstum liefern, tragen aber langfristig nichts zum Wohlstand bei.“
Sein Fazit: „Die russische Wirtschaft ist wahrscheinlich ziemlich schwach.“
Auch zur Schuldenfrage äußerte er Zweifel: „Russland hat zwar eine niedrige Verschuldung, muss aber hohe Zinsen zahlen. Das macht russische Schuldtitel für Investoren unattraktiv. Ich bin nicht überzeugt, dass Putin einfach ‚abwarten‘ und die menschlichen Kosten ignorieren kann.“
Die US-Schuldenlage? Nicht unbedingt explosiv. Zwar sei die Lage nicht großartig, aber bis vor Kurzem noch beherrschbar. Doch die Trump-Regierung und der Kongress könnten dies ändern. Wenn massive Steuersenkungen ohne Ausgabenkürzungen beschlossen würden, könnte das die Inflation und Dollar-Schwäche verschärfen. Allerdings sei das ein langfristiges Risiko.
Die größte wirtschaftliche Gefahr für die USA, so der Ökonom, sei weniger die Verschuldung als unvorhersehbare Zölle. Wenn Unternehmen nicht wissen, ob neue Zölle bleiben oder fallen, lähme das Investitionen stärker als Schulden.
Ich erinnerte mich an Scott Bessent, Hedgefonds-Manager und anfangs als „Main-Street-freundlich“ geltender Trump-Berater. Als er Trumps Zollpolitik gegen China mit „China wird schon ein paar Zölle schlucken“ verteidigte, war klar: Auch er ist nur ein weiterer Cheerleader im Kabinett.
Ein amerikanischer Sicherheitsexperte, der seit Jahrzehnten mit russischen Militärs im Austausch steht, bestätigte, dass die von meinem Informanten genannten Schuldenwerte in etwa stimmten – mit kleinen Abweichungen. Aber: Das Bild von Russlands wirtschaftlicher Stabilität und Amerikas Chaos sei grundfalsch. „Putin erhöht die Staatsausgaben für den Krieg. Das Geld wird gedruckt. Der Rubel verliert an Wert, die Preise steigen – Inflation.“
Russen investieren traditionell nicht in Aktien, sondern horten Geld. Die Industrie leiht sich für die Rüstungsproduktion Geld – zu hohen Zinsen. Doch das macht die Einleger nicht reicher, weil auch die Lebenshaltungskosten steigen. In Russland steigt die Inflation. In den USA ist sie rückläufig – im April lag sie bei 2,3 %, dem niedrigsten Stand seit vier Jahren.
Das wirtschaftliche Wohlergehen Russlands lässt sich nicht ohne Blick auf westliche Sanktionen, Krypto-Entwicklung, BRICS-Einfluss, den Dollar und das wachsende Misstrauen gegenüber Trumps Amerika als verlässlichem Partner beurteilen.
Immer klarer wird: Trump wird den Krieg nicht mit einem großen Friedensgipfel beenden können, wie einst spekuliert.
Doch Russland besitzt, im Gegensatz zur Ukraine, enorme Vorkommen an Öl, Gas und seltenen Erden – Ressourcen, die Trump, der Geschäftsmann im Weißen Haus, begehrt. Er und Putin sind wieder im Gespräch. Vielleicht sind Frieden und Wohlstand in Reichweite – für einige.