Horst D. Deckert

Wieder einer weniger

Julian Reichelt, Ex-„Bild“-Boss (Foto:Imago)

Der verzögerte Sturz des „Bild“-Chefredakteurs Julian Reichelts, der quasi im zweiten Anlauf erfolgreich vom schier unangreifbaren Thron gestürzt wurde, hat erschreckend viele Berufskollegen, Hauptschriftleiter und Medienschaffende dieses Landes in einen Zustand tiefer Genugtuung versetzt, und die wenigsten können dem niederträchtigen Verlangen widerstehen, ihm, vor dem sie gestern noch erzitterten, jetzt ordentlich eins mitzugeben. Auf Gefallene eintreten ist im spaltungs- und hetzeerprobten Deutschland ein beliebter Workout – nicht nur bei frustrierten Neidern und Kleingeistern, sondern längst auch in den Salons der Selbstgerechten. Das befriedigende Gefühl, ein kosmisches Gleichgewicht sei wiederhergestellt, sobald ein Übermächtiger strauchelt und endlich fällt, lässt die Mittelmäßigen triumphieren.

Ihr Jubel mischt sich ins orgiastische Freudengeheul der aus ihren Löchern gekrochenen Ratten, die endlich den Zeitpunkt der großen Abrechnung für gekommen sehen. Im Fall von Reichelt melden sich nun natürlich die „Bild“-Opfer seiner Amtszeit hochenthusiasmiert zu Wort – zum Beispiel die tragische Figur des zum Netzneurotiker heruntergekommenen, ehedem respektablen Jörg Kachelmann, der den wohl lange herbeiersehnten Moment gekommen sieht, auf Twitter schmutzige Wäsche zu waschen und dabei über „Karma“ und „Enteignet Springer“ schwadroniert.

Doch auch weniger durchgeknallte Zeitgenossen geben sich hemmungslos begeistert, dass – zum zweiten Mal binnen vier Jahren, nach dem Rückzug von Reichelts Vorgänger Kai Diekmann im Jahr 2017 – eine diensthabende Inkarnation des großen Feindbildes Springer weg vom Fenster ist. Die linke Presse schäumt über vor Begeisterung wie geschüttelter Ökosekt, und ergießt sich in Häme (siehe z.B. hier und hier und hier und hier). Für manche von ihnen ist es offenbar der größere Skandal, dass Reichelts Mentor, Springer-CEO Matthias Döpfner, in einer privaten E-Mail das Corona-Regime als „neue DDR“ bezeichnet hatte. Vor allem der „Spiegel“ profiliert sich hier wieder einmal als Saubermann-Medium – und dreht das Thema genüsslich durch den Fleischwolf. Er hat es gerade nötig: Hätte sich das Blatt bei der eigenen Relotius-Affäre vor nicht einmal drei Jahren in seiner investigativen Leidenschaft nur halb so engagiert gezeigt wie hier, wäre ihm die damalige Jahrhundertblamage, das Outing als Schlachtschiff der Lügenpresse, wohl erspart geblieben (die nebenbei um Dimensionen peinlicher und gravierender war als der persönliche Fehlverhalten Julian Reichelts). Dass ausgerechnet der „Spiegel“ vom „System Reichelt“ spricht – wie auch andere Vertreter der mit Springer rivalisierenden Presse – zeugt von realsatirischer Urkomik.

Die Wadenbeißer von Spiegel & Co.

Hier mischt sich der traditionelle, seit Jugendzeiten verinnerlichte Springer-Hass der heute mehrheitsbestimmenden Altlinken (von denen viele „Stoppt Springer“ skandierten, lange bevor Reichelt geboren war), mit eher diffusen Aversionen oder zumindest Ressentiments gegen die yuppiehafte, zuweilen altkluge Erscheinung des erst 41-jährigen Hamburgers Reichelt, dessen Schlagfertigkeit wie auch seine rhetorische und schreiberische Begnadung seine Gegner umso zorniger machte.

Für sie ist sein Springer-Aus ein Fest. Eine Katharsis der Selbstgerechten, die nicht einmal dadurch getrübt wurde, dass sich Reichelt weder juristisch noch fachlich ein „doloses“ Fehlverhalten geleistet hatte, dessen er überführt wurde, sondern Anlass für seine Demontage durch Compliance-Verstöße selbst gegeben hatte. Denn Reichelt selbst hat sich, zur Verzückung seiner geschworenen Feinde, zum Abschuss freigegeben (und Feinde macht sich ein „Bild“-Chefredakteur praktisch hauptberuflich am Fließband). Eine Intrige war hier gar nicht nötig – obschon viele derer, die auch an der Erdanziehung zweifeln, bereits Verschwörungsplots wittern. Unsinn: Reichelt hat sich ganz alleine um seinen Einfluss gebracht und sich aus seiner erdnahen Umlaufbahn ins Nirwana geschossen – was umso tragischer ist, als nun alles, was er im Leben noch im Medienbereich erreichen wird, zwangsläufig ein Rückschritt sein wird. Den Olymp hatte er bereits erklommen. Doch selbst wenn es einen durch Indiskretionen von außen gelenkten Putsch gegen ihn gegeben hätte –  es gehören immer zwei dazu. Einer, der den Anlass sucht, und einer, der ihn bietet.

„Schuld“ – wenn dieser ethische Begriff hier überhaupt angebracht ist – trägt Reichelt an seiner Demontage insofern fraglos, als er nach Regeln spielte, die noch zu Zeiten seines Verlagsgründers eine belanglose Selbstverständlichkeit waren, im 21. Jahrhundert jedoch ein karriereinkompatibles No-Go darstellen. Reichelts Eskapaden mit taufrischen weiblichen Trainees, sein zwanghaftes Naschen am unerschöpflichen Füllhorn der Bild-Personalabteilung, die ihm eine Jungjournalistin nach der anderen vors Blasrohr trieb (in einem Ausmaß, das in seiner dort konkurrenzlosen Position wohl der Selbstbeherrschung eines übermenschlichen Asketen bedurft hätte): Sie waren, anders als bei der „MeToo„-Mythenbildung, keine Fälle von „Sexismus“, schon gar nicht von Missbrauch oder Vergewaltigung, sondern moralische Kodexverstöße, für die seit den Abgründen Dominique Strauß-Kahns, Harvey Weinsteins oder Jeffrey Epstein kein Pardon mehr gegeben wird (obwohl sie mit deren teils kriminellen Übertretungen nicht das Geringste gemein haben).

Kein MeToo 2.0, sondern Kodexverstöße

Es gilt heute wieder ein ähnlich rigoroser Moralkodex wie in der Bürgergesellschaft des Wilhelminismus, letzterer treffend beschrieben in Fontanes Effi Briest: Damals zielte der Bannstrahl der Sittenwächter auf Ehebruch, auf standeswidrige Beziehungen (und übrigens auch auf Homosexualität). All dies konnte Existenzen auslöschen. Heute geht es mit durchaus vergleichbarem puritanischem Rigorismus gegen angebliche „sexuelle Ausbeutung„, gegen die „Ausnutzung von Machtverhältnissen„. Aber damals wie heute findet das, was gesellschaftlich und zeitgeistlich als verabscheuungswürdiges Tabu gilt, trotzdem ständig und überall; gerade die ewige Verquickung von Sex mit Macht, dieses uralte Tauschgeschäft persönlicher Vorteilsgewährung gegen körperliche und/oder emotionale Gunstbezeigung, mag verteufelt und „gecancelt“ werden bis zum Kernkollaps – doch es wird sie immer geben. Zum Leben gehört das Doppelleben – und das ist auch okay, solange keiner davon erfährt.

Wo die Täter aber alte (in diesem Fall mittelalte) weiße Männer sind, die in flagranti ertappt wurden, ist schon die Frage ein ketzerischer Affront: Wem wurde hier eigentlich Schaden zugefügt? Den Frauen, die sich aus freien Stücken auf Reichelts berüchtigte Hotel-Sessions einließen und dann später von seiner Förderung profitierten? Dem Springer-Verlag, dessen Compliance-Statuten zwar den selbstgegönnten „Naturalien-Bonus“ seines Chefredakteurs untersagten, der diesen aber womöglich stillschweigend duldete, weil er am Ende von seiner (schreiberischen) Potenz profitierte und daher wohl lange nach dem Grundsatz verfuhr „Don’t ask, don’t tell„?

Oder passt es womöglich nicht zur kultivierten öffentlichen Empörung, zum üblichen Täter-Opfer-Schema, dass die Frauen in diesem Fall (wie übrigens auch zwar nicht alle, aber doch viele Ex-Gespielinnen Harvey Weinsteins) an ihrer „Selbstausbeutung“ freiwillig mitwirkten – und sich bezeichnenderweise nicht etwa sofort nach den angeblichen Übergriffigkeiten den zuständigen Stellen anvertrauten, sondern erst, als dies für sie Vorteile versprach? Doch das ist eine andere Diskussion.

Machtposition wohl überschätzt

Unbestritten jedenfalls ist: Grundsätzlich ist es in solchen Positionen fatal, das eigene Triebverlangen nicht im Griff zu haben. Das Prinzip „Don’t dip your pin in company ink“ ist heute existenziell wichtig, ja viel wichtigerer als jede korrekte Spesenabrechnung oder keine silbernen Löffelchen zu stibitzen. Reichelt muss gewusst haben, dass er mit dem Feuer spielt, sich erpressbar macht; doch ihm muss es das wert gewesen sein. „Wenn’s unten spannt, läßt’s oben nach“, besagt ein altes Sprichwort. Als sich die Schlinge zuzog, muss er dann irgendwann zu schummeln angefangen haben: Eine Notlüge hier, eine Fälschung dort. Er überschätzte wohl die Rückendeckung des Verlages und die persönliche Patronage durch Matthias Döpfner, die ihm scheinbare Narrenfreiheit und einen Nimbus der Unersetzlichkeit verliehen. Wer derart außer Konkurrenz segelt, fängt immer und unweigerlich an Fehler zu machen. Es ist der sprichwörtliche „Ikarus Factor„.

Mutmaßlich vertraute Reichelt bis zuletzt darauf, dass Döpfner ihn abermals retten werde – so wie im Frühjahr, als er bereits wegen ähnlicher Vorwürfe für 12 Tage freigestellt wurde und die linke Haltungspresse bereits verfrühte Nekrologe verfasste. Damals wog Springer seine professionelle Leistungen gegen seine Fehltritte ab – und gab ersteren den Ausschlag. Diesmal aber blieb Döpfner hart. Am Ende waren es weder die Recherchen eines Investigativteams des Ippen-Verlages gewesen (u.a. „Frankfurter Rundschau„), vom gleichnamigen Verleger rücksichtsvoll unterbunden, noch die geifernd-wadenbeißerischen Ermittlungen des „Spiegel“ (die jetzt durch die ersatzweise Veröffentlichung der von Ippen verhinderten Recherchen gekrönt werden sollen), und wohl auch nicht die Resultate der von Springer selbst veranlassten internen anwaltlichen Untersuchung: Sondern der Hammer fiel 6.000 Kilometer weiter östlich, in den USA, wo ausgerechnet die weltrenommierte „New York Times“ die Affäre öffentlich machte.

Das Interesse US-amerikanischer Medien hatte Springer mit seiner seit 2020 exzessiv verfolgten Expansionsstrategie in den USA selbst auf sich gelenkt – in deren Zuge just heute, einen Tag nach Reichelts Ende, der Abschluss der 100%-igen Übernahme der Mediengruppe Politico verkündet wurde. Und seit der US-Hauptinvestor KKR bei Springer mitmischt, ist das globale Image des Konzerns von Bedeutung – mit direktem Impact auf den Marktwert. Wenn schon die NYT über die Causa Reichelt schreibt, dann geht es definitiv um mehr als nur boulevardeske Interna im mächtigsten Medienkonzern Europas. Das kann am Ende sogar Döpfner nicht mehr gleichgültig gewesen sein.

Comeback auf Telegram?

Der Rausschmiss ist für Blatt und Leser ein großer Verlust, auch wenn mit Reichelts Nachfolger Johannes Boie – nach früheren Verirrungen bei der „Süddeutschen Zeitung“ zuletzt „Welt am Sonntag„-Chef – ein vielversprechendes Nachwuchstalent übernimmt. Trotzdem muss rein rational analysiert und hinterfragt werden, ob für den Verlag am Ende nicht viel mehr verloren als gewonnen wurde. Die hier angewandte Form der Compliance, der betriebspolitischen Hygiene ist dysfunktional – auch für Springer selbst, der einen begnadeten Journalisten und Blattmacher, für den es zur Zeit fraglos keinen gleichwertigen Ersatz gibt, in die Wüste schickt und sich damit selbst amputiert.

Materiell hat Julian Reichelt wohl bereits ausgesorgt – doch beruflich dürfte es in Deutschland für ihn schwierig werden; jedenfalls in der gegenwärtigen Medienlandschaft. Mit seinen regierungskritischen Positionen, vor allem zur Corona-Politik, hat er sich zur finalen Reizfigur des medialen Establishments gemacht, nach links ist ihm der Weg also versperrt – und rechts von „Bild“ gibt es fast kein Mainstream-Medium mehr, denn dort beginnt bereits das vermaledeite Schattenreich der Freien Medien. Vielleicht kommt er ja dort unter? Oder er startet ein eigenes Projekt?

Erstaunlicherweise tauchte Reichelt – sofern es sich dabei wirklich um ihn handelt – heute früh auf Telegram mit einem offenbar brandneuen Kanal auf, dessen Abonenntenzahlen seither mit geradezu geometrischer Progression explodieren, und lehnte dort ein ihm von Boris Reitschuster geistesgegenwärtig unterbreitetes Angebot freundlich ab. Reichelt auf Telegram, im vermeintlichen „Schwurbler„- und „Querdenker„-Eldorado, diesem – aus Sicht der veröffentlichten Meinung –  Reich des Bösen? Besagter Telegram-Kanal wirkt zwar authentisch, obwohl sich Reichelt sich dort überraschend dünnhäutig zeigt und gegen seinen Ex-Arbeitgeber keilt; eigentlich ein Unding. Er hinterließ dort sogar Sprachnachrichten (bei denen es sich allerdings auch um frühere Äußerungen von ihm auf „Bild TV“ handeln könnte), die prompt vieltausendfach geteilt wurden – mit großer Begeisterung auch sogleich von Michael Wendler. Die neuen Freunde sind nicht fern. Sollte Telegram tatsächlich zur neuen Bühne Reichelts werden, dann ist ihm der Weg zurück in den Mainstream nachhaltig versperrt. So oder so kann ihm jedenfalls zurufen: Herzlich willkommen auf der anderen Seite!

Ähnliche Nachrichten