Horst D. Deckert

Klassenzimmer auf vier Rädern

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Anne Winkler unterrichtet ihren Sohn Noah auf einer Decke am See. Foto: Simon Winkler

Seit 2018 unterrichtet die Deutsche Anne Winkler ihre beiden Söhne (acht und 14) zuhause. In Deutschland ist Homeschooling nicht erlaubt, denn die Schulpflicht besagt zugleich, dass die Kinder im Schulgebäude unterrichtet werden sollen (wir berichteten). Die beiden Jungs lernen jedoch nicht am Küchentisch, sondern auf Reisen im Wohnmobil. Zurzeit reist die vierköpfige Familie durch Griechenland. Im Interview mit Corona-Transition berichtet Winkler, worin die Vor- und Nachteile des Homeschooling bestehen.

Weshalb haben Sie sich entschieden, Ihre Kinder zuhause zu unterrichten?

Anne Winkler: Uns war wichtig, mit unseren Kindern zu verreisen, weil sie unterwegs viel lernen. Es gibt ja die Varianten Homeschooling und Unschooling. Beim Unschooling geht es um das intrinsische Lernen. Die Kinder bestimmen selbst, was und wann sie lernen möchten. Struktur im Alltag und Lernen tun uns aber gut, weshalb wir uns für das Homeschooling entschieden haben. Die Kinder und ich bestimmen zusammen, was gelernt wird.

Worin sehen Sie die Vorteile des Homeschooling?

Man kann viel besser auf das Kind eingehen und bei den Bedürfnissen des Kindes andocken. Dabei schaut man nicht auf die ganze Masse der Kinder, sondern auf das einzelne Kind. Das Lernen ist viel intensiver. Dadurch benötigen wir weniger Zeit. Zwei bis drei Stunden pro Tag mit Pausen reichen. Die Kinder bestimmen Lerninhalte nach ihren Interessen, können diese mitbestimmen und haben dadurch mehr Freude am Lernen. Ich gebe vor, welches Grundwissen wie Deutsch und Mathe wichtig ist und die Kinder bestimmen, auf welche Art und Weise sie den Stoff lernen möchten. Die Vorlieben sind unterschiedlich. Der eine lernt vielleicht lieber mit Büchern und Videos und der andere mit Lernprogrammen, die über Apps verfügbar sind. Unsere Art zu leben, lehrt unsere Kinder natürlich an sich schon viel. Das ist «Worldschooling»: Andere Menschen treffen, das Kennenlernen von Sprachen, Sitten, Bräuchen, Kulturen und Klimazonen sowie das Lösen von Problemen.

Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Nachteile?

Für uns Eltern ist es herausfordernd, die Kinder eben als Eltern zu unterrichten. Ich finde dieses afrikanische Sprichwort treffend: «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.» Wenn Eltern auf sich selbst gestellt sind, dann drehen sie sich manchmal im Kreis. Es ist wichtig, wenn andere Meinungen, ein anderes Wissen und andere Energien mit reinspielen. Unterricht in Form einer Eltern-Kind-Beziehung ist anders, als wenn jemand von aussen den Kindern etwas vermittelt.

Simon Winkler: Hinzu kommt, dass die Kinder gelegentlich weniger Respekt gegenüber ihrer Mama zeigen.

Welche Eigenschaften bilden Ihre Kinder eher aus im Vergleich zu Kindern, die in eine Regelschule gehen?

Durch das Reisen und das damit verbundene Worldschooling öffnen sich die Kinder schneller. Sie trauen sich mehr und stehen eher zu sich selbst. Wenn die Kinder in der Schule sind, dann achten sie mehr auf die Gruppendynamik. Die Kinder schauen eher danach, was cool ist, wie sie sich besser anpassen können und was die Lehrer von ihnen erwarten. Unsere Kinder haben die Chance, sich selbst mehr zu spüren und zu ihren eigenen Interessen zu stehen. Das Gruppenzugehörigkeitsgefühl fehlt allerdings beim Homeschooling.

Meinen Sie, dass den Kindern Mitschüler fehlen?

Wenn wir längere Zeit alleine unterwegs sind, fehlen ihnen sicherlich Freunde. Wir treffen auf viele Reisefamilien mit Kindern und in der Zeit schliessen sich die Kinder zusammen. Tiefe Freundschaften bleiben bei den Kindern bestehen. Ein Freund aus Deutschland reist unserem älteren Sohn regelmässig hinterher.

Wie bereiten Sie sich auf den Unterricht vor?

Wir erstellen einen groben Wochenplan. Dabei wiederholen wir gewisse Fächer. Bei Finn gehen wir den Inhalt von Klasse 2 durch. Ich suche passende Aufgaben aus Übungsheften oder wir denken uns gemeinsam Übungen aus. Je nachdem, wozu er Lust hat. Wenn er möchte, kann er auch über die Lern-App an seinem Tablet lernen. Bei Noah nehme ich Stoff der siebten und achten Klasse durch. Im Fach Geschichte informiert er sich selbst über Videos und ein schulisches Geschichtsbuch. Das mag er. Ihn hat beispielsweise das Dritte Reich sehr interessiert. Deshalb hat er die entsprechende Literatur gelesen. In Deutschland haben wir gemeinsam ein KZ besucht. So konnte er die Geschichte besser nachvollziehen. Im Fach Mathe erkläre ich ihm die Aufgaben zunächst. Danach rechnet er einige Aufgaben. Alle paar Wochen wiederholen wir den gesamten Stoff. Deutsch mag er nicht so. Ich fordere ihn immer wieder auf, über seinen eigenen Schatten zu springen und sich auch mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen. Die Konfrontation mit Erwartungen von aussen und Herausforderungen meistern, ist in unserem Lebenstil nicht vergleichbar mit der Schule. Wir versuchen eine Balance zu finden, um so mit Druck, Herausforderungen und Erwartungen umgehen zu können.

Richten Sie sich nach offiziellen Lehrplänen?

Ich kenne die italienischen und deutschen Lehrpläne. Ab und zu fliessen sie mit in den Unterricht ein. Wir haben aber auch Schulbücher. Deshalb wissen wir, welcher Stoff zu welchem Zeitpunkt drankommt.

Möchten Sie, dass die Kinder später das Abitur absolvieren und studieren oder überlassen Sie den Kindern diese Entscheidung?

Wir sprechen regelmässig über die verschiedenen Möglichkeiten und Bedeutung der Abschlüsse. Eigenverantwortung ist bei unserer Art des Homeschooling ausschlaggebend. Ich schreibe einmal im Jahr eine Art Zeugnis als «Reminder», in dem ich die Lerninhalte und Lernentwicklung angebe. Auch andauerndes gegenseitiges Feedback ist wichtig. Die Kinder haben die Möglichkeit, externe Abschlüsse zu absolvieren. Unsere Wertvorstellung besagt, dass die Kinder ausreichend darauf vorbereitet sind, diese Prüfung ablegen zu können. Hierzu müssen sie sich noch einmal spezifisch vorbereiten. Wir haben uns bereits darüber informiert, wie unsere Söhne diese Prüfungen absolvieren können. Deshalb waren wir auch auf dem Schulfrei-Festival in bei Berlin.

Wie war es für Sie, die Kinder während der Pandemie zu unterrichten?

Wir unterrichten unsere Kinder ja seit 2018 zuhause. 2020 fielen auch die deutschen Kinder ins Homeschooling, obwohl das eher dem Fernunterricht entsprach. Wir haben mitbekommen, welche Probleme Eltern hatten, deren Kinder zuhause unterrichtet wurden. Bei einigen funktionierte der Computer nicht. Viele waren damit überfordert. Sie konnten sich niemals vorstellen, ihre Kinder immer zuhause zu unterrichten. Wenn es keinen Druck von aussen gibt, ist natürlich auch der Spassfaktor grösser. Dadurch waren wir nicht überfordert. Während der Pandemie hat sich für uns auch nicht viel verändert. Im März 2020 waren wir in Marokko. In der Zeit waren wir schon etwas verunsichert, weil wir nicht wussten, was auf uns zukommt. Im letzten Winter haben wir den Lockdown im Bayerischen Wald verbracht, weil wir Familie und Freunde besucht haben. Wir hatten überlegt dass die Kinder dort für eine gewisse Zeit die Grundschule besuchen. In dem Moment galten jedoch Masken- und Testpflicht. Deshalb haben wir die Kinder dann doch wieder zuhause unterrichtet.

War es schwer für ihre Kinder in Kontakt mit anderen Kindern zu sein, weil andere Eltern den Corona-Massnahmen strikt gefolgt sind?

Während wir den Winter 2020/21 in Bayern verbrachten, waren die sozialen Kontakte durch die Massnahmen stark eingeschränkt. Teilweise durften wir uns nur in einem gewissen Radius bewegen. Unsere Kinder spielten mit einem Nachbarsjungen, der durch den Fernunterricht relativ stark eingebunden war. Wir waren während des Lockdowns in Bayern sehr für uns. Das haben wir auch genossen, da wir sonst auf Reisen stets viele Kontakte und Eindrücke haben. Wir sind durch mehrere Länder im Balkan gereist. In jedem Land mussten wir uns immer wieder neu orientieren, weil die Massnahmen überall anders sind. In Rumänien wurde die Impf-Entscheidung des Einzelnen angenommen, statt stark bewertet und diskutiert zu werden. In Bosnien und Bulgarien wirkte der Alltag als gäbe es kein Corona. In Griechenland kommt man zwar in Lebensmittelgeschäfte, aber in andere Läden nur mit strenger 3G-Kontrolle. 2G gilt in Griechenland im Restaurant oder Hotel.

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