Horst D. Deckert

Skandal-Urteil in Berlin: Amtsgericht verurteilt Friedensaktivisten wegen Rede „Nie wieder Krieg gegen Russland“

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Das Berliner Amtsgericht hat den bekannten Berliner Friedensaktivisten Heiner Bücker zu einer vierstelligen Geld- oder ersatzweise 40-tägigen Haftstrafe verurteilt. Sein Vergehen? Er hatte bei einer Rede anlässlich des 81. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 2022 erklärt, man müsse „offen und ehrlich versuchen, die russischen Gründe für die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verstehen“. Diese Aussage, so die Begründung im Strafbefehl vom 3. Januar 2023, welcher den NachDenkSeiten vorliegt, billige „den völkerrechtswidrigen Überfalls Russland (sic!) auf die Ukraine“ und hätte „das Potential, das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern und das psychische Klima in der Bevölkerung aufzuhetzen.“ Eine rechtsstaatliche Farce, die von der verbrieften Rede- und Meinungsfreiheit nur noch Trümmer übriglässt. Von Florian Warweg

Heiner Bücker betreibt seit Jahrzehnten das „Coop Anti- War Café“ in Berlin-Mitte, ein Treffpunkt für linke Friedensaktivisten und lateinamerikanische Soli-Gruppen. Zudem engagiert er sich in der Friedensbewegung sowie bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA e.V.).

Strafanzeige wegen Rede die „friedliche Nachbarschaft mit Russland“ zum Leitmotiv hatte

Am 22. Juni 2022 hatte Bücker auf einer Gedenkveranstaltung der Friedenskoordination zum Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park eine sehr ruhige, getragene Rede gehalten, in welcher er einen historischen Bogen vom Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die UdSSR bis zum Ukraine-Krieg spannte und angesichts von über 20 Millionen getöteten Sowjetbürgern auf die besondere Verantwortung Deutschlands verwies sowie zu einer „gedeihlichen, vernünftigen und friedlichen Nachbarschaft mit Russland in Europa“ aufrief. Zudem betonte er in diesem Zusammenhang:

„Nie wieder dürfen wir als Deutsche an einem Krieg gegen Russland in irgendeiner Form beteiligt sein.“

Vier Monate später, im Oktober 2022, erhielt der Friedensaktivist ein Schreiben vom Landeskriminalamt Berlin. Gegen ihn sei ein Ermittlungsverfahren wegen „Belohnung und Billigung von Straftaten“ nach Paragraph 140 Strafgesetzbuch eingeleitet worden, welches mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden könne. Angezeigt wurde Bücker laut dem Schreiben von einem Berliner Rechtsanwalt. Der konkrete Vorwurf: Er hätte mit seiner Rede am 22. Juni 2022 den Krieg Russlands gegen die Ukraine gebilligt.

Verurteilung wegen „Billigung von Straftaten nach Paragraph 140 Strafgesetzbuch“

Drei Monate später erging der Strafbefehl des Berliner Amtsgerichts Tiergarten. Dort heißt es zunächst allgemein, er sei angeklagt, „ein Verbrechen der Aggression (§13 des Völkerstrafgesetzbuches) in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich in einer Versammlung gebilligt zu haben“.

Der verantwortliche Richter Pollmann am Amtsgericht, der allem Anschein nach, uneingeschränkt der Argumentation der Staatsanwaltschaft folgte, zitiert dann in dem Schreiben, den Auszug aus Brückers Rede, welcher laut der hauptstädtischen Justiz, eine Zustimmung zum „völkerrechtswidrigen Überfalls Russland (sic!) auf die Ukraine“ impliziere.

Der vom Gericht zitierte Redeausschnitt, auf dessen Grundlage die rechtskräftige Verurteilung zur Geldstrafe von 2.000 Euro oder ersatzweise 40 Tage Haft plus Übernahme der Verfahrenskosten beruht, lautet:

„Mir ist unbegreiflich, dass die deutsche Politik wieder dieselben russophoben Ideologien unterstützt, auf deren Basis das Deutsche Reich 1941 willige Helfer vorfand, mit denen man eng kooperierte und gemeinsam mordete.

Alle anständigen Deutschen sollten vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, der Geschichte von Millionen ermordeter Juden und Abermillionen ermordeter Sowjetischer Bürger im 2. Weltkrieg jegliche Zusammenarbeit mit diesen Kräften in der Ukraine zurückweisen. Auch die von diesen Kräften in der Ukraine ausgehende Kriegsrhetorik müssen wir vehement zurückweisen. Nie wieder dürfen wir als Deutsche an einem Krieg gegen Russland in irgendeiner Form beteiligt sein.

Wir müssen uns zusammenschließen und uns diesem Irrsinn gemeinsam entgegenstellen.

Wir müssen offen und ehrlich versuchen, die russischen Gründe für die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verstehen und warum die überwiegende Mehrheit der Menschen in Russland ihre Regierung und ihren Präsidenten darin unterstützen.

Ich persönlich will und kann die Sichtweise in Russland und die des russischen Präsidenten Wladimir Putin sehr gut nachvollziehen.

Ich hege kein Misstrauen gegen Russland, denn der Verzicht auf Rache gegen Deutsche und Deutschland bestimmte seit 1945 die sowjetische und danach auch die russische Politik.“

Damit stimme Brücker, so die Argumentation des Gerichts, „dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine“, um dessen Rechtswidrigkeit er wisse, zu.

Richterliche Begründung verweist auf „psychisches Klima in der Bevölkerung“

Weiter heißt es in der Begründung, die die NachDenkSeiten aus Gründen der Transparenz und Dokumentation im Wortlaut wiedergeben:

„Ihre Rede hat – wie Sie jedenfalls billigend in Kauf nahmen – angesichts der erheblichen Konsequenzen, die der Krieg auch für Deutschland nach sich zieht, der Drohungen seitens der russischen Staatsführung konkret gegenüber Deutschland als NATO-Mitglied für den Fall der Unterstützung der Ukraine und nicht zuletzt angesichts der Präsenz Hunderttausender Menschen aus der Ukraine, die in Deutschland Zuflucht gefunden haben, das Potential, das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern und das psychische Klima in der Bevölkerung aufzuhetzen.“

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Allein der Aufruf eines Friedensaktivisten, auch mal zu versuchen, die russische Perspektive in dem Konflikt einzunehmen („die russischen Gründe für die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verstehen“) wird als Billigung eines „Verbrechen der Aggression“ gewertet, welches „das psychische Klima in der Bevölkerung“ aufhetze.

Mal abgesehen vom sprachlichen Murks, des angeblichen Aufhetzens eines psychischen Klimas (hä?), kann man sich nur der Einschätzung von Rüdiger Göbel anschließen, der in einem Beitrag für die junge Welt die richterliche Begründung mit Verweis auf das „psychische Klima in der Bevölkerung“ als „hanebüchen“ charakterisierte.

Noch absurder erscheint allerdings der zweite Argumentationsstrang, die Rede Brückers hätte „das Potential, das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern“. Ich wage die These, nicht die Rede des Berliner Friedensaktivisten sondern das Urteil des Berliner Landgerichts hat das Potenzial, das Vertrauen in den Rechtsstaat (noch weiter) zu erschüttern.

Die gesamte 12-minütige Rede Brückers in Wort und Bild kann man hier einsehen:

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Titelbild: shutterstock / Studio Romantic

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