Horst D. Deckert

Die «Bundesnotbremse» ist nicht zustande gekommen

Auszüge:

Die fein ziselierte Unterscheidung von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen wird gemeinhin nicht zu den aufregendsten Gegenständen des Verfassungsrechts gezählt. Zu Unrecht, wie sich in diesen Tagen einmal mehr zeigt. Sie ist nichts weniger als das Herzstück der föderalen Gewaltenteilung.

Aller Orten war in den letzten Tagen von der mutmasslichen materiellen Verfassungswidrigkeit des neuen § 28b IfSG, der «Bundesnotbremse», und insbesondere der dort vorgesehen nächtlichen Ausgangssperre zu lesen und zu hören. Angesichts der grossen Aufmerksamkeit muss verwundern, dass die offenkundige formelle Verfassungswidrigkeit der Norm bislang nicht thematisiert wurde. Bei der «Bundesnotbremse» handelt es sich um ein gleich in zweifacher Hinsicht zustimmungsbedürftiges Gesetz, dem die Zustimmung des Bundesrats fehlt und das daher nicht gemäss Art. 78 GG zustande gekommen ist. Eine Umdeutung der Nichtanrufung des Vermittlungsausschusses in eine Zustimmung scheidet aus.

Entgegen der ursprünglichen Rechtsauffassung insbesondere des Bundesrates (sog. Mitverantwortungstheorie) ist es zwar inzwischen gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass nicht jede Änderung eines ursprünglich zustimmungsbedürftigen Gesetzes zustimmungsbedürftig ist, doch dürfen inzwischen vier Fallgruppen der Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen als gesichert gelten. Neben der selbstverständlichen Fallgruppe, dass das Änderungsgesetz selbst neue zustimmungsbedürftige Vorschriften enthält, sind Änderungsgesetze in drei weiteren Fällen zustimmungspflichtig. Unproblematisch sind dabei die beiden Fallgruppen, in denen die ursprünglich die Zustimmungsbedürftigkeit begründenden Vorschriften des Gesetzes selbst geändert werden oder die Geltungsdauer eines befristeten Zustimmungsgesetzes verlängert wird.

Konkretisierungsbedürftig ist dagegen die letzte Fallgruppe. Nach gut begründeter ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Änderungsgesetz auch dann zustimmungsbedürftig, wenn es solche materiell-rechtlichen Regelungen enthält, die bestehende zustimmungsbedürftige Vorschriften zwar formell nicht ändern, ihnen aber eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen. Wenn mindestens eine der Fallgruppen einschlägig ist, ist die Zustimmungsbedürftigkeit nicht auf die sie auslösende Einzelbestimmung beschränkt, sondern trifft das (Änderungs-)Gesetz als Ganzes (sog. Einheitsthese).



Ist ein Gesetz zustimmungsbedürftig und mangelt es an der Zustimmung des Bundesrats, so kommt das Gesetz nicht gemäss Art. 78 GG zustande. Wie alle anderen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane ist auch der Bundesrat allerdings davon ausgegangen, dass es sich bei § 28b IfSG um ein Einspruchs- und nicht um ein Zustimmungsgesetz handelt. Dementsprechend hat der Bundesrat in seiner 1003. Sitzung vom 22. April 2021 auch lediglich den Beschluss gefasst, nicht gemäss Art. 77 Abs. 2 GG den Vermittlungsausschuss anzurufen. Weitgehend ungeklärt ist bislang die Frage, ob sich diese Entscheidung des Bundesrats in eine Zustimmung umdeuten lässt.



Es bleibt somit bei der fehlenden Zustimmung des Bundesrats zum zustimmungsbedürftigen § 28b IfSG, der folglich nicht gemäss Art. 78 GG zustande gekommen ist. Es handelt sich – nochmals in den Worten Ministerpräsidenten Haseloffs um nicht weniger als einen «Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland».

Ganzer Text

Holger Grefrath ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht (Prof. Dr. Christian Waldhoff) an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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